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Mehr als kleine grüne Männchen

Die drei baltischen Staaten wappnen sich gegen die wachsende Bedrohung durch Russland.
Russische Kampfjets am Himmel über St. Petersburg
Foto: IMAGO/Valentin Yegorshin (www.imago-images.de) | Russische Kampfjets, wie sie hier am Himmel über St. Petersburg zu sehen sind, verletzen wiederholt den Luftraum über den baltischen Staaten, die der EU wie der NATO angehören.

Die „grünen Männchen“ sind wieder da. Die Soldaten, von estnischen Grenzbeamten kürzlich beobachtet, trugen keine Erkennungszeichen – ein Vorgehen, das seit der Krim-Annexion 2014 als Markenzeichen sogenannter „kleiner grüner Männchen“ gilt: getarnte russische Soldaten, deren Zugehörigkeit zur russischen Armee Moskau leugnet.

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Der Vorfall ereignete sich im „Saatse-Stiefel“. Das stiefelförmige russische Territorium ragt in den Südosten Estlands hinein. Dort führt die Straße in das kleine Dorf Saatse einen Kilometer lang über russisches Territorium. Weiter geschah dann nichts, außer dass die estnischen Behörden die Durchfahrt vorsorglich sperrten.

Serie russischer Grenzprovokationen

Der Zwischenfall reiht sich ein in eine Serie russischer Grenzprovokationen: Erst im September hatten drei russische MiG-31-Jets für mehrere Minuten estnischen Luftraum verletzt; Moskau bestritt die Vorwürfe. Nur kurz zuvor hatten russische Drohnen den Luftraum Polens überquert. Diese Vorfälle führten dazu, dass Polen wie auch Estland das Konsultationsverfahren nach Artikel 4 des NATO-Vertrags einleiteten, das zur Beratung im Bündnis bei Bedrohung der territorialen Integrität eines Mitgliedstaates dient. Sind die baltischen Staaten akut bedroht? 

Ein hypothetisches Szenario entwirft der renommierte Politikwissenschaftler und Militärexperte Carlo Masala in seinem neuen Buch „Wenn Russland gewinnt“: März 2028, russische Truppen erobern die estnische Stadt Narva und die Insel Hiiumaa in der Ostsee. In Narva ist die russische Minderheit eine Mehrheit; sie macht rund 90 Prozent der Bevölkerung aus. Der Fluss Narva trennt die gleichnamige Stadt vom russischen Iwangorod. Masala von der Universität der Bundeswehr München beschreibt ein Szenario, in dem russische Kräfte die Stadt im Handstreich besetzen, auch mit Unterstützung einer von Desinformation und Propaganda aufgestachelten Bevölkerung. Reine Fiktion, gewiss, aber ein Szenario, das nicht zufällig an die Aktivitäten Russlands 2014 in der Ukraine zur Besetzung der Krim und zum Aufstand im Donbass erinnert – Stichwort grüne Männchen. Die separatistischen „Volksrepubliken“ in Donezk und Luhansk, die fast vollständig von Russland abhängig sind, haben seit 2014 diktatorische, quasi-staatliche Strukturen aufgebaut.

Kreml-Offizielle wenden gegenüber den baltischen Staaten dieselben Erzählungen an, mit denen Russland in den vergangenen drei Jahrzehnten Invasionen in verschiedene ehemalige Sowjetstaaten gerechtfertigt hat. Der Vorsitzende der Duma, Wjyacheslaw Wolodin, behauptete am 14. Oktober, dass lettische Behörden russischsprachige Menschen in Lettland „verfolgen“ würden. Russland müsse deshalb seine Landsleute dort „schützen“. Der Vorsitzende der Liberaldemokraten, Leonid Slutski, behauptete, dass die Russen in Lettland Teil der Russischen Welt seien. Seit Längerem insistiert Russland, dass es die Pflicht habe, seine „Landsleute im Ausland“ zu schützen. Diese Erzählung wurde auch dazu genutzt, die Invasionen in Moldau, Georgien und der Ukraine zu rechtfertigen. Sie ist zudem Teil der Bemühungen des Kremls, Bedingungen zu schaffen, die eine künftige russische Aggression gegen die NATO rechtfertigen würden.

Russische Staatsmedien propagieren kulturelle Narrative der „russischen Welt"

Während in Narva, der drittgrößten Stadt Estlands, der Anteil der russischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung 90 Prozent beträgt, machen ethnische Russen etwa 25 Prozent der lettischen Bevölkerung aus. Bei den meisten handelt es sich um Nachkommen von Arbeitern, die während der Sowjetzeit nach Lettland zogen, heißt es in einem Beitrag von Inta Mierina, Direktorin des Zentrums für Diaspora- und Migrationsforschung an der Universität von Lettland, den das „Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien“ veröffentlichte. Das Forschungsinstitut konzentriert sich auf gesellschaftsrelevante sozialwissenschaftliche Forschung zu Osteuropa. Mierina schreibt: „Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion fiel es vielen russischsprachigen Menschen schwer, ihren Platz in Lettlands Projekt nationaler Identitätsbildung zu finden, das, wie der US-amerikanische Soziologe Rogers Brubaker argumentiert hat, in erster Linie auf ethnokultureller Zugehörigkeit basierte. Sie entwickelten eine eigene soziale Identität, in deren Mittelpunkt die russische Sprache und Kultur sowie die gemeinsame sowjetische Vergangenheit standen. Der mediale Raum ist in Lettland über die Jahre hinweg ethnisch getrennt geblieben. Viel genutzte russische Staatsmedien haben kulturelle Narrative propagiert, nach denen russischsprachige Identitäten fester Teil der ,russischen Welt’ seien.“

Das hat zur Entstehung einer „Parallelwelt“ beigetragen. Die russischsprachige Community in Lettland wird nach Angaben der Expertin zunehmend als ein Sicherheitsrisiko betrachtet. Schon nach Russlands Annexion der Krim und der Besetzung von Teilen des Donbas 2014 hätten etliche Analysten gewarnt, dass Russland die ethnisch-russische Gemeinschaft in Städten wie Daugavpils, wo Russen etwa 70 Prozent der Bevölkerung ausmachen, instrumentalisieren könnte, um Lettlands Sicherheit zu untergraben. Die jüngsten Aufrufe des ehemaligen Präsidenten Dmitri Medwedew an Russen im Ausland, aktiv zu werden, um dem Westen „maximalen Schaden“ zuzufügen, machen deutlich, dass diese Warnungen nicht unbegründet sind.

Estland, Lettland und Litauen warnen seit Langem ihre NATO-Verbündeten vor einer russischen Aggression. Sie verweisen dabei auf russische Cyberangriffe, Desinformationskampagnen und das Eindringen russischer Kampfflugzeuge und Drohnen in den Luftraum mehrerer EU- und NATO-Staaten in den vergangenen Monaten. Besonders der Suwalki-Korridor könnte bei einem Angriff Russlands eine entscheidende Rolle spielen. Russland könnte versuchen, diese Verbindung zu durchtrennen. Der Landstreifen verbindet Litauen mit Polen und so mit den anderen europäischen NATO-Staaten. Ungeachtet aller Angriffsszenarien wappnen sich die Balten inzwischen gegen eine potenzielle Bedrohung durch Russland. Hunderttausende Menschen sollen im Ernstfall evakuiert werden.


Der Autor ist Journalist und war Chefredakteur der „Tagespost“.

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