„Die Sphinx vom Bodensee“: Es war der Ehrentitel von Elisabeth Noelle-Neumann (+2010). Mit ihrem Allensbach-Institut wurde sie zur unverzichtbaren Beraterin von Kanzlern und Managern, Bischöfen und Wissenschaftlern. Nach Theben und Bodensee scheint es auch eine „Sphinx vom Spreebogen“ zu geben, eine, die das Orakel von Delphi gleich mit abdeckt.
Denn Bundeskanzler Friedrich Merz gefällt sich immer mehr darin, Rätsel politischen Handelns in die Berliner Luft zu schleudern. Fragezeichen werden gesetzt und Optionen angedeutet, Möglichkeiten erwogen und Konsequenzen in Erwägung gezogen. Nicht nur Journalisten sind gut beschäftigt, dahinter die künftige Politik auszulesen.
Merz scheint ein geistlicher Berater zu fehlen
Es ist der Fluch der christsozialen Koalition, der diese orakulös-erratische Spekulationspraxis befördert. Dahinter steckt die Notwendigkeit, bei allen anstehenden Entscheidungen erst einmal ganz vorsichtig und mit dem geringsten Risiko politische Lösungsansätze zu streuen, um ihre Wirkung nach links und rechts zu testen. Ohne zu weite Festlegung kann man dann gegebenenfalls einen Schritt weitergehen oder die ursprüngliche Idee einfach verwerfen. Der Kanzler würde nach eigenem Bekenntnis ganz anders handeln, wenn er im Februar mit absoluter CDU/CSU-Mehrheit aus der Wahl hervorgegangen wäre. Aktuellen Anschauungsunterricht dazu gab gestern Abend das TV-Gespräch von Caren Miosga mit einem aufgeräumt wirkenden Merz, der im offenen Hemd mit übereinander geschlagenen Beinen über Deutschland plauderte.
Drohnenbekämpfung ja, aber unklar wie; länger arbeiten ja, aber unklar wer, weniger Handys für Kinder ja, aber unklar wie, Wehrdienst ja, verpflichtend vielleicht. Ganz konkret wurde Merz nur bei einem Vorschlag, den er wiederum dadurch sterilisierte, dass er ihn als reine Privatmeinung einstufte. Und die ist natürlich etwas völlig anderes als die Dienstmeinung eines Bundeskanzlers. „Wenn es nach mir ginge, könnte man den Pfingstmontag als arbeitsfreien Feiertag abschaffen. Aber das ist meine persönliche Meinung, der Feiertag bleibt.“
Dass dem sauerländischen Katholiken Merz bisweilen ein geistlicher Berater zu fehlen scheint, wurde schon mehrfach thematisiert und wird hier wieder deutlich. Denn es ist der Pfingstmontag, der das Pfingstwunder als Gründungsereignis der Kirche auf eine allgemeingültige Ebene hebt – die ganze Welt als Gemeinschaftswerk aller Menschen. Viele weitere Botschaften aus dem christlichen Glaubenskanon würden sich für derlei Ableitungen in den politischen Raum eignen.
Das Christentum befindet sich als bestimmende Kraft auf dem Rückzug
Während also der Kanzler privat an den christlichen Festen als gesetzlichen Feiertagen knabbert, hat sich der Islam in Deutschland in Gegenrichtung auf den Weg gemacht. Muslimische Beamte und Beamtinnen in Schleswig-Holstein und anderen Bundesländern können bald für Ramadan oder Opferfest einen arbeitsfreien Tag beantragen. Anschaulicher lässt sich kaum demonstrieren, wie sehr der Islam inzwischen zu Deutschland gehört, und wie sehr sich das Christentum als bestimmende Kraft auf dem Rückzug befindet.
Das Orakel von Delphi überließ die Deutung seiner Prophezeiungen anderen, die Sphinx erwürgte und fraß alle auf, die ihre Rätsel nicht lösten. Friedrich Merz sollte sich gut überlegen, wie er mit seinen schwierigen Ungewissheiten umgehen will.
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