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Himmlische Wohnung für Obdachlose

Zwischen Grabreihen und Suppenküche: Die Kölner Initiative „Gubbio“ macht sichtbar, was die Stadt oft übersieht: das kurze, harte Leben ihrer Wohnungslosen
Gräbersegnung im Regen
Foto: DT | Gräbersegnung im Regen

„Klaus ist im Oktober alleine in seinem Zelt gestorben. Und ja, das war Fahrrad-Klaus, für alle, die fragen.“ Einer ertrank im Rhein, einen fand man tot am Hauptbahnhof, ein anderer starb mit erst vierzig Jahren. Die Lebenserwartung von Obdachlosen liege 20-30 Jahre unter dem Durchschnitt, erzählt Schwester Christina später im Gespräch mit der „Tagespost“.

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Schwester Christina, die hauptamtlich bei der Initiative „Gubbio“ für Wohnungslose in Köln arbeitet, verliest die Namen und Schicksale der Toten. Eine bunt gemischte Gruppe hat sich eingefunden: Wohnungslose mit schwerfälligen Schritten, nach Alkohol riechende Obdachlose, ein paar Sozialarbeiter. Mehr oder weniger andächtig haben sie sich unter den dunklen Eiben des Kölner Südfriedhofs versammelt, um der verstorbenen Obdachlosen des vergangenen Jahres zu gedenken, gemeinsam mit Weihbischof Ansgar Puff und der resoluten Franziskanerschwester Christina.

Tote ohne Familie

Es ist der 1. November. An den Schuhen kleben Friedhofserde und Blätter. Das dunkle Grün der Eiben und das Grau der Grabmale stehen in auffälligem Kontrast zum hellen gold-braunen Laub, das den Boden bedeckt.

ei der Aufzählung der Toten wird jedes Mal der volle Name genannt. Obdachlose, deren Namen man nicht sicher kennt, dürfen von der Initiative Gubbio nicht beerdigt werden. Es seien meist Urnenbegräbnisse, da die Ordnungsämter nur die kostengünstigste Bestattung erlauben, erklärt Weihbischof Ansgar Puff, ganz egal, was der Wille des Verstorbenen gewesen sei. Es könne außerdem bis zu einem halben Jahr dauern, bis der Betroffene überhaupt beigesetzt werde, da zuvor nach Angehörigen gesucht wird. So findet sich doch manchmal der eine oder andere Verwandte, der für die Bestattungskosten aufkommen muss.    

Doch heute werden nur die Gräber gesegnet und für die Verstorbenen gebetet. Mit zaghaften Stimmen singen die Obdachlosen Kirchenlieder und stellen Kerzen auf die Gräber. Doch einer von ihnen fällt aus der Reihe: Ben.

„Ich bin nur Ben“

„Ey, du stehst auf Toten!“, ruft er fröhlich einer älteren Dame mit braunem Regenschirm zu und übertönt damit den Weihbischof, der gerade eine Ansprache hält. Ben (Name v.d.R. geändert) ist achtundfünfzig Jahre alt und seit zwanzig Jahren auf der Straße. Seine Beziehung ist gescheitert, er ist Alkoholiker und Raucher. Was niemand überhören kann, sind seine ständigen Zwischenrufe. Er reagiert auf jeden Satz aus der Lesung, auf jeden Namen eines Toten, der verlesen wird und besonders auf die Gebete. Auf die Frage hin, ob er an Gott glaube, stellt er klar: „Nein. Ich weiß.“

Kein Zweifel: Er ist clever, auch wenn das Leben und die Drogen ihn gezeichnet haben. Neben Lebensweisheiten und Beziehungstipps teilt er unzusammenhängende, aber detaillierte Beobachtungen, die auf eine ausgeprägte Menschenkenntnis und Lebenserfahrung schließen lassen.

Weihbischof Puff bei der Segnungsfeier
Foto: DT | Weihbischof Puff bei der Segnungsfeier

Schwester Christina fällt es schwer, mitansehen zu müssen, wenn Menschen es nicht mehr schaffen, sich freizukämpfen. Es bereite ihr Schmerzen, sagt sie. Gubbio kann da nur kleine Wunden verarzten, das Leid ein wenig lindern. Die als Obdachlosenhilfe von den Franziskanern gegründete Initiative hilft, indem sie Bedürftigen die Möglichkeit bietet, mehrmals pro Woche in die Kirche zu kommen. Dort erhalten sie warme Getränke, etwas zu Essen und manchmal Kuchen. Das Gebäude selbst wird vom Erzbistum Köln finanziert, die Hilfsangebote müssen durch Spenden gedeckt werden.

Nach der Gedenkfeier setzt sich die kleine Prozession in Bewegung, denn man will noch ein zweites Grabfeld besuchen. Schwester Christina erzählt: Insgesamt sind schon mehr als 300 Gräber für Obdachlose belegt, da reicht ein Grabfeld nicht mehr aus. Zum Glück gibt es Spender, die dies ermöglichen.  „Alle, die den Weg kennen, können vorgehen“, ermuntert der Weihbischof. „Das sagt er jedes Jahr, dabei weiß niemand von uns den Weg!“, ertönt prompt ein Einwand aus der zweiten Reihe.

„Saubere“ Straßen?

Während sie dem schlammigen Friedhofspfad folgt, schildert Schwester Christina die Situation. „Allein in Köln gibt es etwa 8000 Wohnungslose, das heißt, Leute ohne Mietvertrag. Davon sind 500 Obdachlose ohne ein Dach über’m Kopf.“ Die Dunkelziffer könne man schwerlich abschätzen, vor allem, weil viele Obdachlose ihren Platz oft wechseln.

„Der Staat will die Stadt lieber sauber haben als den Menschen zu helfen“, da sind sich die Mitarbeiter der Gubbio-Initiative einig. Statt Pflegeheime für Bedürftige einzurichten und die Menschen von der Straße zu holen, werden sie lieber von den großen Plätzen und aus den Augen der Öffentlichkeit getrieben. Aus den Augen, aus dem Sinn – so geraten sie in Vergessenheit und sterben oft in Isolation und ohne medizinische Versorgung. Dabei ist sich die Franziskanerin sicher: „Wenn ich diese Lebensunfälle gehabt hätte, dann wäre ich da genauso.“ Lebensunfälle, damit meint Schwester Christina psychische Störungen, Süchte, Drogen, Missbrauch oder Kindheitstraumata. Die Umstände und Erfahrungen, die Menschen in die Obdachlosigkeit treiben.

Schwester Christina ist abends immer glücklich und erschöpft
Foto: DT | Schwester Christina ist abends immer glücklich und erschöpft

In ihren Augen ist der Dienst an den Menschen eine Form der Anbetung. Dazu gehört auch, die Menschen zu betrachten, sie wahrzunehmen, sie durch Jesu Augen zu sehen. Sie tut das mit einer frohen Hingabe – eine Art Lebensaufopferung.  „Wenn die Menschen nicht zur Kirche kommen können, kommt die Kirche eben zu ihnen“, schwärmt die Schwester später bei einer Tasse Kaffee in der Gubbio-Kirche von ihrer Arbeit. Sie beschreibt es als Freiheitsgefühl, für die Ärmsten der Armen da zu sein und ihnen zu helfen.

Immer im Anschluss an die Gräbersegnung wird zu Kaffee und Kuchen eingeladen, den Weg zur Kirche kennt jeder hier. An dem langen Kaffeetisch im Seitenflügel der Kirche sitzen die Friedhofsbesucher und genießen gespendete Torten. „Das ist ja wie die Tafel bei König Arthus!“, ruft die Frau mit der blauen Sweatjacke ihrem Freund zu.

Auf der rechten Seite entschuldigt sich ein älterer Herr bei seiner Sitznachbarin: „Ich verstehe dich immer so schlecht“, woraufhin sie ihn fröhlich informiert, dass sie ja auch überhaupt nicht spreche.  In diesem Kreis scheinen alle sehr vertraut. Man kennt einander: Die Runde trifft sich jeden Dienstag am selben Ort zum Bibelteilen. „Wichtig ist immer, dass es etwas zu essen gibt“, betont Schwester Christina, „manchmal feiern wir auch eine heilige Messe.“

Schlafplätze und Geldsorgen

Im November wird die Gubbio-Kirche nicht nur im übertragenen Sinne zu einem Zuhause für Obdachlose, denn die Initiative richtet dort fünfzehn betreute Schlafplätze ein, um wenigstens einigen in der Nacht Unterkunft zu bieten. Die Kirche wird sogar auf 18°C geheizt, eine Errungenschaft, die der Ordensschwester viel Freude bereitet. „Das reicht, und es ist allemal besser, als was sie sonst gewöhnt sind.“ Viel mehr kann die Initiative nicht tun, denn fast alles muss von Spenden finanziert werden.

Zudem hat die Schwester einen Traum – Sie setzt sich dafür ein, dass sterbende Obdachlose nicht auf der Straße bleiben müssen, sondern dass sie einen Platz in einem ganz normalen Hospiz bekommen. „Ein Tag im Hospiz kostet 500 Euro, und manche bleiben dort bis zu acht Wochen.“
Die horrenden Kosten machen es quasi unmöglich, allen Menschen ein würdiges Lebensende zu schenken. Am schlimmsten ist es aber für diejenigen, die nicht bei Gubbio am Tisch sitzen. Wer hier schon Anschluss gefunden hat, der sei schon ein Stück weit „aufgefangen“, sagt die Schwester.

Eine Ohrfeige zum Schluss

Ein lautes Scheppern, irgendetwas kracht. Empörte Ausrufe und die ruhige Stimme des hauptamtlichen Mitarbeiters, der erklärt, man habe Ben für den Rest des Tages Hausverbot erteilt. Der Grund: Er hat schon wieder jemandem eine Ohrfeige verpasst. Es bleibt unklar, warum.

Schwester Christina bringt das nicht aus der Ruhe. Dass hier nicht immer alles nach Plan und harmonisch abläuft, kennt sie schon. Trotzdem war der Tag ihrer Ansicht nach erfolgreich. Sie fasst ihre Gefühle so zusammen: „Total k.o. und ziemlich glücklich.“

Der Text ist im Rahmen des Reportage-Projekts „Christliches Leben in Köln“ des Tagespost-Nachwuchsprogramms entstanden.

Zusatzinfo: Gubbio - Kath. Wohnungslosenseelsorge im Stadtdekanat Köln
Mail: info@gubbio.de
Schwester Christina freut sich über jeden, der mit einer Spende oder einer guten Tat den Bedürftigen helfen will. 

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