Herr Wulff, ich habe den Eindruck, wir sind inzwischen ein Land voller Missmut und Unbehagen geworden. Ist das so?
Ich habe selten so viel Unzufriedenheit über die Politik und die Verhältnisse erlebt wie zurzeit. Was also tun? Ich wünsche mir, dass wir die Gründe offenlegen. Wir sind gefordert durch die abnehmende Zahl von Erwerbstätigen und durch eine völlig neue Art von Kommunikation, die sozialen Netzwerke. Wir müssen eine Zukunftserzählung der Innovationen, Möglichkeiten und des CO2-freien Wachstums anbieten, die sagt, dass wir mit einer gemeinsamen Anstrengung unsere Probleme lösen werden. Optimisten leben auch deshalb länger, weil sie Entscheidungen treffen, die die Zukunft besser machen.
Viele Menschen wollen eine geräuschlose Politik ohne Streit – nach Möglichkeit mit schnellen Ergebnissen. Dies entspricht jedoch nicht der Wirklichkeit.
Regierungen werden gewählt, damit sie regieren, damit sie arbeiten, damit sie sich hinter verschlossenen Türen verständigen. Und vor allem, damit sie Entscheidungen treffen. Für den Streit und für die Anklage ist die Opposition zuständig.
Aber wir erleben doch, wie auch die Regierung auf offener Bühne streitet, kaum dass sie ein paar Monate im Amt ist.
Den Sprung von der Opposition in die Regierung haben die Unionsparteien noch nicht geschafft. Sie haben noch nicht begriffen, dass sie jetzt am Lenkrad sitzen und das „Schiff Deutschland“ in die richtige Richtung steuern müssen. Sie müssen jetzt arbeiten und über die Ergebnisse berichten, statt Selfies bei Stadtrundgängen zu machen. Wir müssen bereit sein für bittere Wahrheiten – wenn es gerecht zugeht. Die Menschen sind bereit zu Veränderungen.
Ist das wirklich so? Sagen sie nicht viel mehr, dass alles so bleiben soll, wie es ist, weil sie sich einigermaßen im Wohlstand eingerichtet haben?
Ich glaube, dass wir durch geordnete Zuwanderung und Migration, durch künstliche Intelligenz erfolgreicher werden können. Ich bin davon überzeugt, dass die Menschheit in den nächsten zwei Jahrzehnten unglaubliche Erfolgsdurchbrüche haben wird – in Medizin, Pharmazeutik und Naturwissenschaften. Ich bin ein Optimist, und es sind mir zu viele, die sagen, es geht bergab.
Aber den Menschen dauert alles viel zu lange. Sie haben keine Geduld mehr. Was über Jahrzehnte in die falsche Richtung gelaufen ist, kann nicht über Nacht korrigiert und reformiert werden.
Ich habe als Ministerpräsident in Niedersachsen gezeigt, wie Reformen zügig und mit Akzeptanz der Bevölkerung zu machen sind. Die Menschen haben gesehen, die setzen auch bei sich an. Wenn die Bürger gesehen hätten, dass man in Berlin mit weniger Ministern und Staatssekretären auskommt, dass man auf den Anbau des Kanzleramts verzichtet, dann hätte das viele überzeugt.
Hinzu kommt, dass die Deutschen das Gefühl haben, der Staat, die Politiker lassen ihnen zu wenig in der Tasche. Wenn der gutverdienende Facharbeiter am Monatsende nach allen Abzügen nur mehr die Hälfte zum Ausgeben hat, dann sagt er, ich bin im falschen Land.
Wir sollten die Situation aus der Perspektive junger Leute betrachten. Die haben keine übersteigerten Ansprüche, aber sie sagen, wir müssen unsere Wohnung und unsere Nebenkosten bezahlen können. Sie wollen darüber hinaus auch die Aussicht haben, im Alter noch einen vernünftigen Lebensstandard zu haben. Da sie eine solche Perspektive nicht sehen, entsteht bei vielen eine Lustlosigkeit. Es ist brandgefährlich, wenn die Antriebskräfte der Menschen, für sich selber zu sorgen, erlahmen.
Brandgefährlich ist, dass immer mehr Menschen ihr Heil bei der AfD suchen. Wie erklären Sie sich den fortwährenden Zulauf zur AfD?
Ich habe es für einen Fehler gehalten, durchs Land zu laufen und zu sagen, die Migration sei die Mutter aller Probleme. Das ist sie nämlich nicht. Die bürgerlichen Parteien der Mitte müssen die Probleme korrekt beschreiben – nicht mitmachen beim AfD-Sound, dass die Migranten für all unsere Probleme verantwortlich sind. Denn dann sorgen sie für die Stärkung der AfD, die als das Original bei diesem Thema empfunden wird. Man muss tiefer gehen und feststellen, dass die AfD einen Pessimismus vertritt wie seinerzeit Oswald Spengler mit dem „Untergang des Abendlandes“. Das war die Nährstoffquelle für den Nationalsozialismus. Diese Untergangsdebatte wird von der AfD geführt und hält sie am Leben.
Ich verstehe trotzdem nicht, warum viele Deutsche diese Partei wählen oder Sympathie für sie empfinden, obwohl die AfD keine Anstalten macht, ihre braunen Sumpfgebiete auszutrocknen.
Es ist die Schwäche der Mitte, nicht die Originalität der Extremisten, die diese Situation schafft. Schauen wir 80 Jahre zurück. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren es christliche Politiker, die aufeinander zugegangen sind: Adenauer, Schuman, de Gasperi und andere. Es waren dann die polnischen Bischöfe, die ihren deutschen Amtsbrüdern geschrieben haben, wir vergeben euch den Überfall auf Polen und bitten um Vergebung für die Verbrechen an den Vertriebenen. Es war dann Papst Johannes Paul II., der in Warschau die Messe gepredigt hat: „Heiliger Geist, komm hernieder auf diese Erde und verändere das Antlitz dieser Welt“. Und dann hatte die Solidarnosc innerhalb eines halben Jahres zehn Millionen Mitglieder und der Kommunismus wurde hinweggefegt. Dann waren es die Montagsgebete in den Kirchen der DDR, die Mut gemacht haben. All das hat 1989 die Einheit ermöglicht. Nach dieser langen Zeit der Demut folgte die Phase des Gleichmuts, in der wir die demokratischen Errungenschaften nicht mehr zu schätzen wussten. Man dachte, die Demokratie würde nie mehr in Gefahr geraten. Und jetzt sind wir in der Zeit des Hochmuts: Nationalismus, Amerika zuerst, Ungarn zuerst, Institutionen werden geschliffen, Kongress-Stürmer werden begnadigt. Wir stehen an einer gefährlichen Stelle. Es gilt das Recht des Stärkeren.
Man könnte den Zustand dieses Landes verkürzt so beschreiben: Die AfD wird immer größer und der christliche Glaube verliert an Bedeutung.
Eine Gesellschaft ohne eine starke Bedeutung der Kirchen wird eine andere Gesellschaft. Da spielen dann Werte, Nächstenliebe, Einsatzbereitschaft für den anderen eine viel geringere Rolle. Da geht jeder seinen Weg und die anderen bleiben am Wegesrand liegen. Unseren Wohlstand haben wir der katholischen Soziallehre und lutherischem Ehrgeiz zu verdanken. Wir brauchen eine neue Debatte über die Bedeutung des Christentums. Für Empathie, Inklusion, Integration und gegen Ausgrenzung. Für die Seele der Politik, eine andere Sprache und einen besseren Stil.
In der Debatte um eine künftige Kandidatin für das Bundesverfassungsgericht ist die Professorin Brosius-Gersdorf gescheitert, weil sie eine umstrittene Haltung zum ungeborenen Leben vertrat. Welche Meinung vertreten Sie?
Für mich als Katholik ist es absolut beunruhigend, wie einzelne Katholiken über Stimmungsmache in bestimmten Medien Einfluss auf den Entscheidungsprozess zu nehmen versucht haben und am Ende auch Erfolg hatten. Das stimmt nachdenklich. Es war handwerklich schlecht und es ist Schaden angerichtet worden. Das sagt einiges aus über die Stabilität dieser Regierung.
Wie besorgt sind Sie, wenn Sie nach Amerika blicken?
Ich bin in großer Sorge. Amerika hat sich unter seinem jetzigen Präsidenten dramatisch verändert. Ich bin Mentor einer Reihe von Studentinnen und Studenten. Einige davon studieren in Harvard. Sie haben zwar eine Aufenthaltsberechtigung, aber können nicht sicher sein, ob sie an dieser amerikanischen Universität weiter studieren können. Es wächst ein Gefühl von Misstrauen und Angst. Das ist nicht mehr das freie Amerika, das wir einmal kennengelernt haben.
Sind Sie froh, dass Sie nicht an der Stelle von Kanzler Merz im Oval Office neben Trump sitzen mussten?
Eindeutig ja. Ich glaube, dass für diese Situation, diesen Kontakt zu Trump, Friedrich Merz für unser Land ein Glücksfall ist. Er kennt durch seine lange Erfahrung das Land sehr gut. Einen besseren Vertreter in dieser Situation habe ich mir nicht vorstellen können. Das hat er wirklich sehr gut gemacht.
Europa ist in einer schwierigen Situation: Rechtsruck, nationalistische Tendenzen, Trumps Desinteresse und Putins Angriffslust. Wie soll man da das hohe Lied von Europa singen?
Konrad Adenauer, der erste deutsche Kanzler, hat vor 75 Jahren sehr nachdrücklich darauf hingewiesen, dass Europa auf Dauer nicht in der Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten existieren kann, sondern für seine Selbstständigkeit sorgen muss. Wir waren einfach zu lange zu sicher, dass die Amerikaner auf ewig an unserer Seite stehen würden. Uns haben die Mahnungen des Visionärs Adenauer nicht interessiert.
Sie sind ein Optimist und ins Gelingen verliebt. Was macht Ihnen denn Hoffnung – trotz allem?
Es sind die Menschen, mit denen ich zu tun habe. Ich erlebe überall viele Menschen, die sich für gute Sachen engagieren. Ich habe gigantische Erfahrungen mit jungen Leuten. Ich bin eben unter Bürgern unterwegs und da gibt es eine ganz große Bereitschaft zur Leistung.
Also, wir schaffen das in einem umfassenderen Sinn, als es damals Frau Merkel gemeint hat?
Wir schaffen das sowieso! Denken Sie doch: Zwischen den Jahren 1946 und 1949 mussten die Politiker dafür sorgen, dass die Bevölkerung nicht verhungert und nicht erfriert. Das waren etwas größere Herausforderungen, als wir sie heute haben. Und Dankbarkeit für das, was geworden ist, täte uns auch gut. Wir sind die ersten Deutschen, die 80 Jahre lang in Frieden und Freiheit leben dürfen. Wir müssen beherzter und mutiger sein und nicht so viel reden und streiten. Unsere Agonie muss aufgebrochen werden durch Entscheidungen.
Siegmund Gottlieb war von 1995 bis 2017 Chefredakteur des Bayerischen Fernsehens.
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