Frauke Brosius-Gersdorf wird nicht Bundesverfassungsrichterin. Ihre ausführliche, acht Punkte umfassende Erklärung, mit der die Potsdamer Verfassungsrechtlerin gestern den Verzicht auf ihre Kandidatur begründete, zeigt ein weiteres Mal, weshalb die Wunschkandidatin der SPD für dieses Amt als ungeeignet betrachtet werden darf. In ihr stilisiert sie sich nicht nur erneut als Opfer einer „Kampagne“, die es so nie gegeben hat (dazu gleich mehr). Mehr noch: In ihrer Erklärung erhält Brosius-Gersdorf, von welcher die SPD trotz massiver Bedenken ihres Seniorpartners in der Koalition bis zuletzt nicht abrücken wollte, auch – geradezu trotzig – ihre, der bisherigen Rechtsprechung widerstreitenden Positionen zur Menschenwürde und zur (Un-)Rechtmäßigkeit vorgeburtlicher Kindstötungen ohne Abstriche aufrecht.
Völlig absurd: Entgegen zweier Urteile des Bundesverfassungsgerichts hält die SPD-Kandidatin für das höchste Richteramt diese auch noch für die einzig richtigen. Ergo: Wer glaubt, dass Frauke Brosius-Gersdorf sich bei einem „Rollenwechsel“ in Karlsruhe (so Brosius-Gersdorf in der ZDF-Talkshow „Markus Lanz“) die geltende Lesart des Grundgesetzes zu eigen machen und schützen würde, der glaubt auch, dass Kinder der Klapperstorch bringt.
Mangelhafter Respekt vor unbedingten Grundüberzeugungen
Richtig ist allerdings: Frauke Brosius-Gersdorf wurde in den (a)sozialen Netzwerken Positionen unterstellt (z. B. Abtreibung bis zur Geburt), die sie so nie behauptet hat. Sie verficht vielmehr einen gestuften Lebensschutz: einen, der den Staat beim Schutz des Lebens ungeborener Menschen frühestens ab der extrauterinen Lebensfähigkeit des Embryos in die Pflicht nähme. Anzunehmen, diese könne für Parteien, die das „C“ in ihrem Namen führen, zustimmungsfähig sein, ist nicht bloß eine irrige Fehleinschätzung, sondern offenbart auch einen mangelnden Respekt vor den unbedingten Grundüberzeugungen ihrer Wähler.
Fakt ist ferner: In „Cicero“, „Die Tagespost“, „Die Welt“, „Focus“, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ und „Neue Zürcher Zeitung“ haben namhafte Juristen, Politiker und Publizisten (darunter auch SPD-Mitglieder) der Kandidatin die Eignung für das höchste Richteramt abgesprochen. Nicht immer aus denselben Gründen, aber jeweils nachvollziehbar begründet. Vergleichbares gilt für diverse Diözesanbischöfe, das Katholische Büro der Deutschen Bischofskonferenz und das Zentralkomitee der deutschen Katholiken.
Der Kampagnen-Vorwurf verfängt nicht
Ihnen allen unisono zu unterstellen, sie seien im Grunde ahnungslos und hätten sich vor den Karren einer (neu-)rechten Kampagne spannen lassen, wie dies außer Brosius-Gersdorf auch SPD-Chef Lars Klingbeil und SPD-Fraktionschef Matthias Miersch tun, ist nicht nur ziemlich dreist. Es ist auch ziemlich dumm. Denn: Bei wem soll das verfangen, wen beeindrucken? Bei solchen, die statt „Frauke Brosius-Gersdorf“ bei „Google Alerts“ „F*cken, Fressen, Fernsehen“ abonniert haben? Mag sein, nur ist das nicht die Mehrheit in diesem Land. Aber selbst, wenn es anders wäre, wählten sie nicht alle SPD, Bündnis 90/Die Grünen oder Die Linke.
Die Einlassungen von Klingbeil, Miersch & Co. richten sich in Wahrheit an den ideologischen Kern der 16,4-Prozent-Partei. Nicht, um zu missionieren, sondern um das eigene Überleben zu sichern und der massiv geschrumpften Basis zu signalisieren: Wir sind Fleisch von eurem Fleisch. Vergleichbares gilt auch für Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke. Wer das für Stärke hält, ist schief gewickelt.
„Da geht mein Volk. Ich muss ihm nach. Ich bin sein Führer.“
Denn der Angstschweiß, den ihre Erklärungen verströmen, ist für jeden riechbar, der sich von ihren vollmundigen Erklärungen nicht hinter die Fichte führen lässt. Die Wahrheit ist: Rot-grün-rot ist tot. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Friedrich Merz und Jens Spahn dies, anders als weite Teile der Unionsfraktion, noch nicht hinreichend begriffen haben. Falls dies zuträfe, ließe sich dem jedoch abhelfen. Etwa mit der Erinnerung an ein Bonmot von Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord: „Da geht mein Volk. Ich muss ihm nach. Ich bin sein Führer.“
Spannend wird, wie es jetzt weitergeht. Die SPD wäre gut beraten, ihren neuen Kandidaten mit der Unionsfraktion frühzeitig abzustimmen und erst dann ins Rennen zu schicken, wenn diese ihr eine Unbedenklichkeitsbescheinigung ausgestellt hat. Die Zeiten, in denen Partei- und Fraktionsvorsitzende damit rechnen durften, dass frei gewählte, nur ihrem Gewissen verantwortliche Abgeordnete ihre Hinterzimmermauscheleien so bereitwillig wie widerstandslos abnicken, sind erkennbar vorbei. Zu glauben, das nicht in Rechnung stellen zu müssen, wäre ziemlich dumm.
Last but not least sollte das jetzige Debakel zum Anlass genommen werden, ernsthaft über eine Reform des Wahlverfahrens nachzudenken. Kluge Vorschläge, wie die von Rupert Scholz, gibt es bereits. Sie versanden zu lassen, wäre fahrlässig.
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