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Peter Seewalds Biographie von Joseph Ratzinger/ Benedikt XVI.

In seiner gewaltigen Biographie von Joseph Ratzinger/ Benedikt XVI. gelingt es Peter Seewald, den Denkweg eines großen Gelehrten mit der Kernfrage zu verbinden, worauf es in der Kirche von heute ankommt.
Benedikt XVI. und Gerhard Ludwig Müller
Foto: Romano Siciliani (KNA) | Der emeritierte Papst Benedikt XVI. begrüßt am 22. Februar 2014 während eines Konsistoriums im Vatikan den damaligen Präfekten der Glaubenskongregation, Kardinal Gerhard Ludwig Müller.

In der langen Reihe der römischen Päpste ragt Benedikt XVI. einsam hervor durch eine seltene Symbiose von unbestechlicher Glaubenstreue und theologischer Genialität. Sein Lebensweg vom kleinen Jungen aus der bayerischen Provinz an die Spitze der Weltkirche mit 1,3 Milliarden Menschen inmitten der gewaltigen politischen und kirchlichen Umbrüche seit seiner Geburt im Jahre 1927 bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil und über die Schwelle zum dritten Jahrtausend ist ebenso atemberaubend, wie seine Person kontroverse Reaktionen ausgelöst hat. „Er gilt als einer der klügsten Denker unserer Zeit, gleichzeitig blieb er eine Reizfigur.“ (S. 10). In seiner gewaltigen Biographie von fast zwölfhundert Seiten geht Peter Seewald mit einer großen Fairness, aber auch mit stupender Sachkompetenz den Fragen nach: Wer ist dieser Mann wirklich? Was ist seine Botschaft? Gibt es tatsächlich „das Trauma von 1968“? Wie sind all die Wechselfälle seines Lebens und zuletzt seines Pontifikates mit jener kritischen Distanz zu bewerten, ohne die es kein unvoreingenommenes und gerechtes Urteil gibt? (S. 10).

Das Leitprinzip des Lebens und Wirkens von Joseph Ratzinger ist auch der hermeneutische Schlüssel für die vorliegende Biographie, die Seewald seinem Opus magnum mit dessen eigenen Worten voranstellt: „Mein Grundimpuls war, unter den Verkrustungen den eigentlichen Glaubenskern freizulegen, und diesem Kern Kraft und Dynamik zu geben. Dieser Impuls ist die Konstante meines Lebens.“

Dem Biographen stellt sich eine Herkulesaufgabe

Wer auf das gewaltige literarische Oeuvre des Theologen Joseph Ratzinger schaut, von dessen Gesamtausgabe schon zwölf mächtige Bände – auch in mehreren Sprachen – vorliegen, und wer sich erinnert an seine wissenschaftlichen und kirchlichen Aktivitäten in Deutschland und Rom, der kann leicht die Herkulesaufgabe ermessen, die sich einem Biographen stellt.

Um das Gesamturteil vorwegzunehmen, kann hier schon gesagt werden, dass die BiographiePeter Seewalds nicht nur besticht durch den gut lesbaren Stil, sondern auch durch die allseits kompetente, immer faire, aber im Detail auch kritische Darstellung eines großen Lebens für die Kirche.

Seewald gliedert seinen Stoff in sechs Teile mit 74 Kapiteln: Der Junge – Der Meisterschüler – Konzil – Der Lehrer – Rom – Pontifex. Seewalds Ratzinger-Biographie ist auch deshalb so authentisch, weil sie in engem Kontakt mit den Zeitzeugen aus dem familiären, universitären, pastoralen und kurialen Umfeld entwickelt wurde. Aber auch der Biograph selbst ist bestens mit Person und Werk Ratzingers vertraut, nachdem er zunächst 1992 mit einem „kritischen“ Porträt die Vorurteile über „den Großinquisitor“ bestätigen wollte (S. 9).

Angesichts der vorbildlichen Kooperation Kardinal Ratzingers als Präfekt der Glaubenskongregation mit Papst Johannes Paul II. darf hier der Hinweis auf die beeindruckende Biographie des jüngsten Heiligen auf dem Stuhl Petri nicht fehlen, die George Weigel unter dem Titel „Zeuge der Hoffnung“ (1999; dt. Paderborn 2003) vorgelegt hat.

Der innere und äußere Werdegang Ratzingers

Seewalds Biographie schildert historisch den inneren und äußeren Werdegang Joseph Ratzingers. Zur Systematik seines philosophischen und theologischen Denkens sei als ideale Ergänzung verwiesen auf die glänzende Studie von Ratzingers schon verstorbenem Schüler: Siegfried Wiedenhofer: Die Theologie Joseph Ratzingers/ Papst Benedikt XVI. Regensburg 2016 (861 S.).

Seewald ist es in einem genialen Wurf gelungen, das einzigartige Ineinander von Lebensweg und Denkweg seines Gegenübers so zu erfassen und darzustellen, dass jeder an Glauben und Kirche interessierte Leser das Wesentliche der Lebensleistung Ratzingers sicher erfassen kann. Wer diese Biographie mit Sympathie und Verstand vom Anfang bis zum Schluss liest, wird in der gegenwärtigen Krise in seinem Glauben bestärkt sein und die Hoffnung auf die Erneuerung einer „ent-weltlichten“ und ent-politisierten Kirche in Christus nicht aufgeben. Der gläubige Katholik bleibt nicht in der Kirche oder kehrt ihr enttäuscht den Rücken, weil er die guten oder schlechten Fische im Netz abzählt, sondern weil „Christus die Kirche geliebt und sich für sie dahingegeben hat“ (Eph 5,25).

Eine Biographie in diesem gewaltigen Bogen kann man in einer knappen Besprechung nicht nacherzählen, ohne dem Leser die prickelnde Spannung zu nehmen, die gerade das Genre einer Lebensbeschreibung bietet. Das Leben ist auch für die großen Köpfe immer noch spannender als die Reflexion. Die Biographie eines Geistesmenschen verbindet aber Aktion und Kontemplation. In einem Priesterleben ist das Studium nicht das Ziel, sondern nur das Medium für die Verkündigung des Wortes und die Sorge um das Heil der Seelen. Ein Apostel ist der Diener des Wortes, das Fleisch geworden ist und sich der Kontingenz der Welt bis zum tödlichen Widerspruch ausgesetzt hat (Joseph Ratzinger, Gesammelte Schriften 12).

Ratzinger Verrat am Zweiten Vatikanum vorzuwerfen ist absurd

Joseph Ratzinger wurde nicht in eine heile Welt hinein geboren. Die prägende Phase zwischen seinem sechsten und achtzehnten Lebensjahr war überschattet von der Erfahrung des gottlosesten und menschenmörderischsten Regimes der Geschichte, das von Nazi-Deutschland aus schließlich die ganze Welt in den Abgrund riss. Darum war – wie Seewald schlüssig nachzeichnet – der Weg zu den Wurzeln des christlichen Glaubens und der abendländischen Humanität das entscheidende Thema seiner theologischen Bewusstseinsbildung im Studium und der akademischen Lehre von Freising über Bonn, Münster, Tübingen bis nach Regensburg.

Sein entscheidender Einfluss auf das Zweite Vatikanische Konzil als Mitarbeiter von Kardinal Frings – schon seit der Genueser Rede (S. 382) – darf nicht zu einer Revoluzzer-Saga verballhornt werden. Die Konstitution über die Göttliche Offenbarung, die Ratzinger wesentlich mitgestaltet hatte, ist zweifellos der hermeneutische Schüssel für alle weiteren Dokumente des Konzils. Nichts ist absurder, als den wichtigsten Theologen im Umkreis des Konzils wie Ratzinger, Lubac, Congar, Balthasar, Jedin den Verrat am Zweiten Vatikanum vorzuwerfen (S. 440).

Aber es ging in der Kritik am vorbereiteten Schema nicht um die Änderung des geoffenbarten Glaubens, sondern um die Verbesserung seiner Darstellung, jedoch nicht um die Verwässerung seiner Inhalte (Joseph Ratzinger, Gesammelte Schriften 7). Ratzinger konnte reichlich schöpfen aus seinen tiefgründigen Studien über Augustinus und Bonaventuras „Offenbarungsverständnis und Geschichtstheologie“. (Joseph Ratzinger, Gesammelte Schriften 1 u. 2)

Den Glauben der einfachen Leute in Schutz genommen

Seewald widerlegt überzeugend die Wander-Legende, dass Ratzinger sich unter dem Schock der 68er Revolution und schon vorher bei der Kritik modernistischer, das heißt liberal-protestantischer Konzils-Interpretationen von einem Revolutionär in einen Konservativen und Traditionalisten zurückverwandelt und das Konzil verraten habe – im Theologenjargon: ein „Bremser und Hardliner“ geworden sei (S. 502; 538). 

Gewiss kritisierte Kardinal Frings unter dem Einfluss seines Beraters Ratzinger die Methoden des Heiligen Offiziums auf dem Konzil zu Recht als anachronistisch (S. 467). Aber auch hier kann von einer Kehrtwende Ratzingers nicht die Rede sein. Denn niemals zweifelte er daran, dass im Apostel Petrus dem römischen Lehramt von Christus selbst die Aufgabe der Förderung und Bewahrung des geoffenbarten Glaubens übertragen worden ist, das im Heiligen Geist ausgeübt und so vor menschlicher Willkür gesichert wird. Da der Glaube aus dem Hören des Wortes Gottes kommt und sich nicht auf die Gedankenprodukte von Theologieprofessoren bezieht, hat Kardinal Ratzinger immer zu Recht den Glauben der einfachen Leute vor akademischer Arroganz in Schutz genommen. Papst Paul VI. hat mit der grundlegenden Neuausrichtung dieser Institution und ihrer Benennung als „Kongregation für die Glaubenslehre“ den sachlichen und formalen Anforderungen an sie in unserer Zeit Rechnung getragen. 

Kardinal Ratzinger hat diese Kongregation exakt nach diesen Vorgaben neu formiert und ihr eine Gestalt gegeben, die ihren heutigen Aufgaben entspricht. Die Polemik gegen ihren seither originellsten Präfekten im Feindbild des auf Macht statt auf die Wahrheit pochenden Großinquisitors von Dostojewski war ebenso billig wie ignorant (S. 666; 697). Denn in Verbindung stand der romkritische Dichter mit dem von Ratzinger geschätzten russischen Denker Wladimir Solowjew. Dieser lehnte zwar den „Papismus“ als historisches Bündnis von evangelischer Wahrheit und politischer Macht ab, das paradoxerweise heute nur von progressistischen „Kirchenreformern“ konserviert wird, die sich als kirchliche Routiniers von der Freiburger Forderung Papst Benedikts des Jahres 2011 nach einer „beherzten Entweltlichung der Kirche“ brüskiert fanden. Nichts wäre aktueller für den „Synodalen Prozess“ in Deutschland, als diese Mahnung zu beherzigen (S. 990). Solowjew erwartete aber zugleich von einem rein kirchlich ausgerichteten Papsttum – der Cathedra Petri – sowohl die Erneuerung der Kirche wie auch die Einheit der katholischen, orthodoxen und protestantischen Christenheit – ganz auf der ökumenischen Linie des Zweiten Vatikanums (vgl. Wladimir Solowjew: Das Papsttum und der Papismus – Der Sinn des Protestantismus, 1883).

Jeder Leser kann sich selbst ein Urteil bilden

Die geistige und moralische Enthemmung, mit der Küng (S. 440), Häring, Drewermann, der Röhl-Mertes-Film und ihre gedankenarmen Nachredner das geistige Erbe Joseph Ratzingers in Misskredit bringen wollen, verrät mehr vom Charakter der Protagonisten, als dass ihre Anwürfe wissenschaftlich diskutabel wären. Erinnern wir uns nur an die Reaktionen auf die Regensburger Rede, die Affäre um die Pius-Bruderschaft und den verrückten (suspendierten) Bischof Williamson und um Vatileaks I (S. 891). Seewald bietet eine detaillierte Darstellung, so dass sich jeder Leser selbst ein Urteil bilden kann und nicht mehr im Morast der Vorurteile und Desinformationen herumrudern muss. 

Wer katholisch ist und bleiben will, kann keine Kompromisse eingehen mit dem antichristlichen Credo des Relativismus der Wahrheit, der Abtreibung und Euthanasie, der Verfälschung der Ehe in „Homo-Partnerschaft“, dem totalen Anspruch des Staates und seiner neokolonialistischen Geldeliten und damit der Entpersonalisierung des Menschen und der globalen Freiheitsberaubung. Die Kirche war und ist gerade in den Zeiten der letzten drei Päpste die mächtigste Anwältin des Menschen, seiner Würde und Freiheit geworden und steht damit in diametralem Widerspruch zu jedem Materialismus sowohl in seiner kommunistischen als auch in seiner kapitalistischen Verwirklichung (S. 1075). 

Wer die Glaubenskongregation unter Joseph Ratzinger für die schlimmere Variante der Gesinnungsdiktatur als das Dritte Reich oder die Sowjetunion hält, dem ist einfach nicht mehr zu helfen. Hier geht es ans Eingemachte. Die Dogmen sind keine Denkverbote für emanzipierte Geister und Stolpersteine für die freie Forschung, sondern die begriffliche Fassung der geoffenbarten Wahrheit Gottes im Glaubensbekenntnis der Kirche, zu dem jeder Einzelne nur in der Freiheit des Gewissens Zugang hat. So ist es nachzulesen unter anderem in der von Joseph Ratzinger mit vorbereiteten Dogmatischen Konstitution über die Göttliche Offenbarung (Dei verbum 5). Zuletzt bietet Seewald dem Leser eine plausible Erklärung der Motive um den „Rücktritt Benedikts“ an, der zwar das Papsttum nicht dogmatisch veränderte, aber doch für die Art seiner Ausübung einen tiefen Einschnitt darstellt.

Notgedrungen muss Seewald auf die irrlichternde Opposition eingehen

Mit ihren künstlichen Aufregungen um die substanziellen Beiträge des Papa Emeritus über das sakramentale Priestertum, die moralische Krise um den Kindesmissbrauch, das Verhältnis zum Judentum und so weiter strapazieren die Protagonisten lediglich die eigenen Nerven und setzen sich mit dem Versuch, ihn gegen Papst Franziskus auszuspielen, aller Lächerlichkeit aus. Denn – gefangen in der Welt ihrer Schablonen und Stereotypen – können und wollen sie die wiederholt und öffentlich geäußerten Zeichen wechselseitiger Wertschätzung nicht zur Kenntnis nehmen.

Während Seewald notgedrungen auch auf diese irrlichternde Opposition eingehen muss, die gegen Joseph Ratzinger exakt ab dem 14. Juli 1966 unaufhörlich loszog (S. 502f), stellt die Würdigung durch Papst Franziskus die Lebensleistung Joseph Ratzingers in das rechte Licht: „Ein großer Papst: groß ob der Kraft und des Durchdringungsvermögens seiner Intelligenz; groß ob seines bedeutenden Beitrags zur Theologie; groß ob seiner Liebe gegenüber der Kirche und den Menschen; und nicht zuletzt groß ob seiner Tugenden und seines Glaubens.“ (S. 12) 

Peter Seewald ist mit seiner Ratzinger-Biographie ein großer Wurf gelungen, an dem weder die Theologie noch die Zeitgeschichte vorbeigehen können. Wer sich von Seewalds Buch Leben und Werk von Joseph Ratzinger/Papst Benedikt XVI. erschließen lässt, der wird nicht nur mit historischen und theologischen Einsichten reich belohnt, der weiß auch, worauf es in Kirche und Welt heute wirklich ankommt. 

Peter Seewald: Benedikt XVI. 
Ein Leben. Droemer Knaur, München 2020, 1184 Seiten, gebunden, 
ISBN: 978-3426276921, EUR 38,–

 

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