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Ein Kardinal sah rot

Vor zehn Monaten zirkulierte im Vatikan eine vernichtende Bilanz des aktuellen Pontifikats. Der Autor nannte sich „Demos“. Jetzt ist der wirkliche Verfasser bekannt. Es war Kardinal George Pell.
Kardinal George Pell schrieb unter dem Pseudonym "Demos"
Foto: www.imago-images.de | Unter dem Pseudonym "Demos" (=Volk) hatte der Kardinal vor fast einem Jahr ein vernichtendes Memorandum über das gegenwärtige Pontifikat verfasst.

Nach seinem plötzlichen Tod, im unmittelbaren Anschluss an eine Hüftoperation, am Abend des 10. Januar hat Kardinal George Pell gleich zwei persönliche Dokumente hinterlassen, die nun wie ein Warnruf im Raume stehen und manchen im Vatikan völlig perplex dastehen lassen. Das erste ist der am 11. Januar von der englischen Zeitschrift „The Spectator“ publik gemachte Protest Pells gegen die laufende römische Weltsynode zur Synodalität, dessen ursprüngliche Fassung aus der Hand des australischen Kardinals die „Tagespost“ in ihrer kommenden Ausgabe ungekürzt in einer eigenen Übersetzung ins Deutsche abdrucken wird. Darin fordert Pell dazu auf, sich von diesem „toxischen Albtraum“ der Weltsynode zu befreien.

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Eine verheerende Bilanz 

Das zweite Dokument kannte man schon: Am 15. März vergangenen Jahres veröffentlichte der Vatikanist Sandro Magister auf seinem Blog „Il settimo cielo“ ein mit „Demos“ (Volk) gekennzeichnetes Memorandum, das in einem ersten Kapitel „Der Vatikan heute“ eine verheerende Bilanz des Pontifikats von Papst Franziskus zieht, um dann in einem zweiten Kapitel mit dem Titel „Das nächste Konklave“ Empfehlungen für die Wahl eines Nachfolgers von Franziskus zu geben, der geeignet wäre, das Steuer der Kirchenführung vollständig herumzureißen. 

Einleitend schrieb Magister vor zehn Monaten, dass der Autor des Memorandums auch ein Kardinal sein könnte. Und manche vermuteten einen ehemaligen Mitarbeiter Kardinal Pells aus der Anfangszeit der Wirtschaftssekretariats, das Franziskus mit Pell an der Spitze 2014 gegründet hatte und dem der Kardinal bis zu seinem Missbrauchsprozess in der australischen Heimat 2018 vorstand. Denn der Autor „Demos“ kannte sich mit Details der Finanzlage des Vatikans aus. Doch einen Tag nach dem Tod des ehemaligen Präfekten des Wirtschaftssekretariats gab jetzt Magister auf seinem Blog die Identität von „Demos“ preis: Autor des Memorandums war Kardinal Pell selbst.

Eine einzigartige Rolle

Der raubeinige Kardinal, der einmal Rugby-Spieler war, beginnt sein Pamphlet mit einem massiven Urteil über die Zeit von Franziskus (der dann am 14. Januar in der gebotenen Form der Aussegnung bei der Trauerfeier für Pell vorstand): „Kommentatoren aller Couleur, wenn auch aus verschiedenen Gründen und mit der möglichen Ausnahme von Pater Spadaro SJ, sind sich darin einig, dass dieses Pontifikat in vielerlei oder mehreren Hinsichten ein Disaster ist, eine Katastrophe.“

Pells Begründung: „Der Nachfolger des heiligen Petrus ist der Fels, auf dem die Kirche gebaut ist, eine wichtige Quelle und Ursache der weltweiten Einheit. Historisch spielen der Papst und die Kirche von Rom seit dem heiligen Irenäus eine einzigartige Rolle bei der Bewahrung der apostolischen Tradition, der Glaubensregel, indem sie sicherstellen, dass die Kirchen weiterhin das lehren, was Christus und die Apostel gelehrt haben. Früher hieß es: Roma locuta. Causa finita est (Rom hat gesprochen, die Sache ist vorbei). Heute gilt: Roma loquitur. Confusio augetur (Rom spricht, die Verwirrung wächst).“

Der Autor Pell alias „Demos“ listet dann grobschnittig einige Gründe für diese Verwirrung auf: „Die deutsche Synode spricht über Homosexualität, Priesterinnen, Kommunion für die (wiederverheirateten, A.d.R.) Geschiedenen. Und das Papsttum schweigt.“

 

 

Lehre geschwächt

Kardinal Jean-Claude Hollerich, den Franziskus im Juli 2021 zum Generalrelator der römischen Weltsynode über die Synodalität ernannt hatte, lehne, so schreibt Pell, „die christliche Sexuallehre ab. Das Papsttum schweigt. Dies ist von doppelter Bedeutung, da der Kardinal offen häretisch ist; er verwendet keine Codes oder Hinweise. Sollte der Kardinal damit ohne römische Korrektur fortfahren, würde dies einen weiteren tieferen Zusammenbruch der Disziplin darstellen, mit wenigen (oder keinen?) Präzedenzfällen in der Geschichte. Die Kongregation für die Glaubenslehre muss handeln und sprechen.“

Das Schweigen sei noch offensichtlicher, so der Kardinal weiter, wenn es „um die aktive Verfolgung der Traditionalisten und der kontemplativen Klöster“ gehe.
Zudem werde die Zentralität Christi in der Lehre geschwächt. Auch in Bezug auf einen strengen Monotheismus zeige sich Rom verwirrt. Man neige „einem breiteren Konzept der Gottheit zu; nicht ganz Pantheismus, aber wie eine hinduistische Variante des Pantheismus“.

Besonders allarmiert zeigte sich „Demos“ über den systematischen Angriff auf das „christozentrische Erbe des heiligen Johannes Paul II. in Glauben und Moral“: „Viele Mitarbeiter des römischen Instituts für die Familie wurden entlassen; die meisten Studenten sind gegangen. Die Akademie für das Leben ist schwer beschädigt, so unterstützten etwa einige Mitglieder kürzlich den assistierten Suizid. Die Päpstlichen Akademien haben Mitglieder und Gastredner, die die Abtreibung fördern.“
Dann ging es im Memorandum Pells um die Vatikanfinanzen, entsprechende Skandale und den laufenden Prozess gegen Kardinal Angelo Becciu.

Nicht gerecht gehandelt

Mit Gesetzesänderung habe Papst Franziskus vier Mal in den Lauf des Verfahrens eingegriffen, so der Kardinal. Allerdings stellt sich Pell hier auf die Seite seines ehemaligen „Widersachers“ im Staatssekretariat und damaligen Substituten: „Kardinal Becciu wurde nicht gerecht behandelt, weil er ohne Gerichtsverfahren seines Amtes und seiner Kardinalswürde beraubt wurde. Er erhielt kein ordnungsgemäßes Verfahren. Jeder hat das Recht auf ein ordentliches Verfahren.“ Die Personalpolitik unter Franziskus kritisierte Pell alias „Demos“ – „Viele Mitarbeiter, oft Priester, wurden fristlos aus der vatikanischen Kurie entlassen, oft ohne triftigen Grund“ – ebenso wie die interne Kontrolle: „Das Abhören von Telefonen wird regelmäßig praktiziert. Ich bin mir nicht sicher, wie oft es autorisiert ist“.

Auch sei die Razzia im Büro des ehemaligen Wirtschaftsprüfers Libero Milone durch die vatikanische Gendarmerie im Jahr 2017 „wahrscheinlich illegal und sicherlich einschüchternd und gewalttätig“ gewesen. Es folgen Zahlen über die finanziellen Verluste des Vatikans ¬– was viele zunächst an einen Autor im Umfeld des Wirtschaftssekretariats denken ließ – und dann das Fazit des Kardinals alias „Demos“: „Zunächst unterstützte der Heilige Vater die Reformen nachdrücklich. Dann verhinderte er die Zentralisierung von Investitionen, widersetzte sich den Reformen und den meisten Versuchen, die Korruption aufzudecken, und unterstützte den damaligen Erzbischof Becciu im Zentrum des vatikanischen Finanzinstituts.


Tagebücher
Foto: Cover: Verlag Media Maria | Die Gefängnistagebücher des zu unrecht verurteilten George Kardinal Pell

 

George Kardinal Pell. Unschuldig angeklagt und verurteilt – Band I

George Kardinal Pell, Die Berufung wurde abgewiesen – Band II


Kritik an Chinapolitik

Dann, im Jahr 2020, wandte sich der Papst gegen Becciu und schließlich wurden zehn Personen vor Gericht gestellt und angeklagt. Im Laufe der Jahre wurden nur wenige Strafverfolgungsversuche aufgrund von Berichten der AIF (des Büros zur Aufsicht über das IOR, A.d.R.) über Verstöße unternommen. Die externen Wirtschaftsprüfer Price Waterhouse und Cooper wurden entlassen und der Wirtschaftsprüfer Libero Milone musste 2017 aufgrund erfundener Anschuldigungen zurücktreten. Sie kamen der Korruption im Staatssekretariat zu nahe.“

Abschließend heißt es im ersten Kapitel des Memorandums: „Es gibt keine öffentliche Unterstützung für die loyalen Katholiken in China, die seit mehr als 70 Jahren wegen ihrer Loyalität gegenüber dem Papsttum zeitweise verfolgt werden.“ – „Das politische Prestige des Vatikans ist jetzt auf einem Tiefpunkt.“ – „Die Covid-Krise hat den starken Rückgang der Zahl der Pilger, die an päpstlichen Audienzen und Messen teilnehmen, verdeckt. Der Heilige Vater hat wenig Unterstützung unter Seminaristen und jungen Priestern, und in der vatikanischen Kurie herrscht weit verbreitete Unzufriedenheit.“

Eine nicht gerade ausgewogene Bilanz. In seiner drastischen Art stellt das Memorandum des verstorbenen Kardinals eher eine vernichtende Kritik dar – geäußert von jemandem, der durch das Läuterungsbad einer 400-tägigen, zu Unrecht verhängten Haftstrafe gegangen war und im Gefängnis ein geistlich tiefes Tagebuch geschrieben hatte, das inzwischen veröffentlicht ist und – wie Erzbischof Georg Gänswein in seinem jüngsten Buch enthüllt – zu den Büchern gehörte, aus denen sich der greise Benedikt XVI. in den letzten Monaten gerne vorlesen ließ. Pell war weder dement noch hatten ihn Prozess und Gefängnis gebrochen. Kurz vor seinem Tod, nach dem Requiem für den emeritierten Papst, hielt er noch Exerzitien in San Giovanni Rotondo. Sein Memorandum hat deshalb Gewicht. Man kann es als einseitig bezeichnen – aber es spiegelt zu einem guten Teil die reale Atmosphäre in der Kurie wieder.

Das nächste Konklave

Der Inhalt des zweiten Teils des Memorandums – „Das nächste Konklave“ – ergibt sich aus der im ersten Kapitel gezogenen Bilanz. Pell nennt keine Kandidaten, sondern fasst die Aufgaben des kommenden Papstes so zusammen:

„Der Papst muss weder der weltbeste Evangelist noch eine politische Kraft sein. Der Nachfolger von Petrus als Oberhaupt des Bischofskollegiums, ebenfalls Nachfolger der Apostel, hat eine grundlegende Rolle für die Einheit und die Lehre. Der neue Papst muss verstehen, dass das Geheimnis der christlichen und katholischen Vitalität in der Treue zu den Lehren Christi und den katholischen Praktiken liegt. Es kommt nicht von der Anpassung an die Welt oder vom Geld. Die ersten Aufgaben des neuen Papstes werden die Wiederherstellung der Normalität sein, die Wiederherstellung der lehrmäßigen Klarheit im Glauben und in der Moral, die Wiederherstellung einer angemessenen Achtung des Rechts und der Garantierung der Tatsache, dass das erste Kriterium für die Ernennung von Bischöfen die Annahme der apostolischen Tradition ist. Theologisches Fachwissen und Kultur sind für alle Bischöfe und insbesondere Erzbischöfe ein Vorteil, kein Hindernis. Dies sind notwendige Grundlagen, um das Evangelium zu leben und zu predigen.“

Nicht zuletzt mit Blick auf den Synodalen Weg in Deutschland warnt Pell zudem vor falsch verstandener Synodalität: „Wenn die synodalen Versammlungen auf der ganzen Welt fortgesetzt werden, werden sie viel Zeit und Geld verbrauchen und wahrscheinlich Energie von der Evangelisierung und dem Dienst ablenken, anstatt diese wesentlichen Aktivitäten zu vertiefen. Wenn die nationalen oder kontinentalen Synoden Lehrautorität erhalten, werden wir eine neue Gefahr für die weltweite Einheit der Kirche haben, indem zum Beispiel die Kirche in Deutschland Lehransichten vertritt, die von anderen Kirchen nicht geteilt werden und nicht mit der apostolischen Tradition vereinbar sind. Wenn es keine römische Korrektur solcher Häresien gäbe, würde die Kirche auf einen losen Zusammenschluss von Ortskirchen reduziert werden, die unterschiedliche Ansichten vertreten, wahrscheinlich eher entsprechend dem anglikanischen oder protestantischen Modell als nach dem orthodoxen Modell.

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Gefahr eines Schismas

Eine frühe Priorität für den nächsten Papst muss es sein, eine solch bedrohliche Entwicklung zu beseitigen und zu verhindern, indem er Einheit im Wesentlichen fordert und inakzeptable Lehrunterschiede nicht zulässt. Die Moralität von  homosexuellen Akten wird ein solcher Brennpunkt sein. Während die jüngeren Geistlichen und Seminaristen fast vollständig orthodox und manchmal eher konservativ sind, muss sich der neue Papst der erheblichen Veränderungen bewusst sein, die seit 2013 in der Führung der Kirche vorgenommen wurden, vielleicht besonders in Süd- und Mittelamerika. Es gibt einen neuen Schritt nach vorne der protestantischen ,Liberalen‘ in der katholischen Kirche.“ 

Aber auch die Gefahr eines Schismas sprach Pell in seinem Memorandum an: „Es ist unwahrscheinlich, dass es bei den Linken zu einem Schisma kommt, die Lehrfragen oft auf die leichte Schulter nehmen. Ein Schisma könnte eher von rechts kommen und ist immer dann möglich, wenn liturgische Spannungen entfacht und nicht gedämpft werden.“

Moralischer Verfall

„Einheit im Wesentlichen. Vielfalt im Unwesentlichen. Nächstenliebe in allen Belangen“, empfiehlt der Autor, um dann noch den Finger in eine besonders heikle Wunde zu legen: „Trotz ihres gefährlichen Niedergangs im Westen und der vielerorts innewohnenden Zerbrechlichkeit und Instabilität sollte ernsthaft über die Durchführbarkeit einer Visitation der Jesuiten nachgedacht werden. Sie befinden sich in der Situation eines katastrophalen zahlenmäßigen Rückgangs von 36.000 Mitgliedern während des Konzils auf weniger als 16.000 im Jahr 2017 (von denen wahrscheinlich 20 bis 25 Prozent über 75 Jahre alt sind). An manchen Orten gibt es einen katastrophalen moralischen Verfall. Der Orden ist stark zentralisiert, empfänglich sowohl für Reformen oder auch Schäden von oben. Das Charisma und der Beitrag der Jesuiten waren und sind für die Kirche so wichtig, dass sie nicht einfach aus der Geschichte verschwinden oder einfach eine asiatisch-afrikanische Gemeinschaft werden sollten.“ 

Lesen Sie in der kommenden Tagespost weitere Hintergründe zu den kritischen Artikeln des verstorbenen Kardinals George Pell.

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