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Verteidiger des Glaubens

Literatur: Gilbert Keith Chesterton stand mitten im Pulverdampf seiner Zeit und stritt für die Orthodoxie. Von Matthias Matussek
Gilbert Keith Chesterton - Zwei Meter groß und stets vergnügt
Foto: IN | Zwei Meter groß und stets vergnügt: Gilbert Keith Chesterton.

Als ich einer Kollegin in Los Angeles erzählte, dass ich unterwegs sei zu einem Kongress der American Chesterton Society, fragte sie: „Wer ist Chesterton?“ „Ein Journalist“, sagte ich. „Und ein Heiliger.“ „Ja, was nun? Beides geht nicht.“ „Bei ihm schon“, sagte ich.

Was nicht ganz richtig war, denn der Kanonisierungsprozess zur Seligsprechung von Gilbert Keith Chesterton (1874–1936) läuft gerade erst, aber für mich und eine Menge seiner Leser ist er das schon jetzt: Kein Journalist der Neuzeit hat den Glauben so überzeugend verteidigt wie der Fat Man, der zwei Meter große und stets vergnügte Koloss mit dem mächtigen Bauch und dem albernen Hütchen auf dem Kopf.

Nicht zu Unrecht wurde er, der Autor von Büchern wie „Orthodoxe Kirchen“, „Ketzer“ oder „Der unsterbliche Mensch“, von Pius XI. zum „Fidei Defensor“ erklärt, zum Verteidiger des Glaubens.

Bekannt wurde er wegen seiner Krimis um den Priester Father Brown, der im deutschen fälschlicherweise „Pater Brown“ genannt und wohl auf ewig mit dem verschmitzten Lächeln von Heinz Rühmann in Verbindung gebracht wird, der ihn in einer ganzen Serie von Filmen spielte.

Merkwürdigerweise erhält Chesterton Zuspruch aus allen Lagern der Kirche, Kardinal Marx mag ihn, Papst Franziskus ebenfalls, während der traditionsgebundene Schriftsteller Martin Mosebach ein inspiriertes Vorwort zu seiner „Orthodoxe Kirchen“ verfasste, die Chesterton selber so erklärte: „Ich strebte danach, eine Ketzerei zu finden, die zu mir passt, und kaum hatte ich ihr den letzten Schliff gegeben, musste ich feststellen, dass es die Orthodoxe Kirchen war.“

Alle hat er gleichzeitig verzaubert mit der wundervollen Gabe seines Humors und seines Talentes, zu staunen, mit seinem messerscharfen Verstand, der es liebte, mit Paradoxien zu jonglieren, ein der Dialektik ähnliches Verfahren, das allerdings die Widersprüche nicht auf einer höheren Erkenntnisstufe löst, sondern sie stehen und schwingen lässt, was in Glaubensdingen die überzeugendste Methode ist.

Für den gesunden Unsinn

Der Marxist Ernst Bloch nannte ihn „einen der gescheitesten Menschen, die je gelebt haben“. Über seinen Freund und ständigen Widerpart, den Sozialisten George Bernhard Shaw, schrieb Chesterton: „Er hat einen gesunden Menschenverstand, was eine Hälfte geistiger Gesundheit bedeutet; leider fehlt ihm die andere Hälfte, der Verstand für gesunden Unsinn.“

Die Diskussionen und öffentlichen Debatten zwischen den beiden waren ausverkaufte Spektakel, ob in London oder in Oxford, und sie waren paradigmatisch für die Strömungen der Zeit: Auf der Seite Shaws der unbedingte Glaube an den technischen und sozialen beziehungsweise sozialistischen Fortschritt, auf Chestertons Seite der unbedingte Glaube, dass dem Fortschritt das Wichtigste fehle: der Glaube an Märchen und Feen, denn „der Sieg des Göttlichen im Menschen über das bloß Brutale im Kosmos ist der Kernpunkt aller Märchen“.

Und zum Sozialismus sagte er: „Dies ist die moderne Irrlehre, die Menschenseele zu ändern, um sie den Verhältnissen anzupassen, anstatt die Verhältnisse zu ändern, um sie der Menschenseele anzupassen.“

Auch äußerlich hätten die beiden nicht unterschiedlicher ausfallen können. Chesterton, der beleibte Trinker und Esser, ein Genussmensch, Bernhard Shaw dagegen Vegetarier, der nur aus Sehnen bestand. „George“, rief Chesterton einmal bedauernd aus, „du siehst aus, als hättest du eine Hungersnot nur knapp überlebt.“ Worauf Shaw entgegnete: „Und du, als ob du sie verursacht hättest.“ Sie blieben ein Leben lang befreundet. Heute wünscht man sich, dass es in dem Kulturkampf, den wir gerade durchleben, links gegen rechts, Realität gegen Utopie, Elite gegen das „Pack“, Antifa gegen AfD, ein derart zivilisierter und inspirierender Streit möglich wäre. Chesterton behauptete von sich, er sei „der einzige, der Shaw verstanden hätte und nicht seiner Meinung“ sei.

Er schrieb die wohl beste Biografie über seinen Freund. Shaw wiederum rief ihm nach seinem Tod hinterher: „Chestertons Werke sind voller Weisheiten und Warnungen, die, wären sie beachtet worden, Kriege, Seuchen, Verbrechertum und alle Schrecken der kapitalistischen Zivilisation schön längst abgeschafft hätten.“

Tatsächlich spürte Chesterton vieles voraus, zum Beispiel, dass die moderne Gesellschaft einen Großangriff auf die Familie starten und der Staat sich als Nanny in alle Bereiche einmischen würde. Freie Liebe? Für Chesterton ein Widerspruch in zwei Wörtern. „Als wäre je ein Liebender frei gewesen, oder als könnte er je frei sein. Es ist die Natur der Liebe, sich zu binden.“ Und dann spricht er über das andere Abenteuer, das der Nachkommenschaft. „Das herrlichste Abenteuer ist nicht, sich zu verlieben, sondern geboren zu werden. Da nämlich geraten wir in eine verführerische und verblüffende Falle. Unser Vater und unsere Mutter liegen da wie Räuber hinter einem Busch und warten darauf, dass wir herausspringen. Unser Onkel ist eine Überraschung. Unsere Tante ist ein Blitz aus heiterem Himmel.“

Für ihn beginnt mit der Geburt eine Art Sozialtraining. Es sei, als ob man durch den Kamin irgendeines Hauses fällt und dann versuchen müsse, so gut wie möglich mit den Leuten klarzukommen, die sich dort versammelt haben. „Natürlich ist die Familie eine gute Institution, weil sie unsympathisch ist. Sie ist wohltuend, weil sie soviel Gegensätze und Unterschiede enthält.“ Wer hätte das nicht erlebt, gerade jetzt über Weihnachten!

Chesterton war ein Verteidiger der Tradition, des Hergebrachten, das ewig Gültigen, des Nationalen, all dessen also, das uns derzeit in einer globalisierten Welt um die Ohren fliegt und von den Vielflieger-Eliten und den Utopisten einer Weltregierung in ihrem Zerfall befördert wird, weil es als störender Bremsklotz empfunden wird. „Der Mensch sollte ein Fürst sein, der von der Spitze eines Turmes blickt, den seine Väter erbaut haben, und nicht ein Lümmel, der dauernd mit Fußtritten die Leitern verächtlich umwirft, auf denen er hochgeklettert ist.“ Und zur Tradition fällt ihm diese geniale Wendung ein: „Es ist offensichtlich, dass Tradition nur zeitlich ausgedehnte Demokratie ist. Man kann Traditionen definieren als eine Ausdehnung des Wahlrechts. Tradition heißt, der obskursten aller Klassen, unseren Vorfahren, Stimmrecht zu geben. Es ist die Demokratie der Toten. Tradition weigert sich, der kleinen und anmaßenden Oligarchie jener zu gehorchen, die zufällig gerade am Leben sind.“

Der Leser wird allmählich verstanden haben, was Dorothy Sayers meinte, als sie schrieb: „Chesterton zu lesen ist, als ob ein frischer Windzug durch die Fenster wehe.“ Oder warum Graham Greene stolz war auf ein Autogramm, das er sich von Chesterton ergattert hatte, warum C.S. Lewis konvertierte, nachdem er Chestertons „Orthodoxe Kirchen“ gelesen hatte. Jorge Louis Borges, der argentinische Großmeister literarischer Labyrinthe gestand, er habe die „vergnüglichsten Stunden“ mit der Lektüre von Chesterton verbracht. Selbst Franz Kafka bewunderte ihn aus diesem Grunde: „Er ist so lustig, dass man fast glauben könnte, er habe Gott gefunden.“

Als origineller Unterhalter oder Spaßmacher wäre er weit unter Wert verkauft, auch wenn er bekennt, dass es „leichter ist, einen Leitartikel für die Times zu verfassen als einen guten Witz für (das Satireblatt) „Punch“ und davon überzeugt ist, dass das „Lachen etwas gemeinsam hat mit den alten Windstößen des Glaubens und der Inspiration“. Er war ein Kämpfer, dem es ernst war. Ein Debattierer im Pulverqualm der Zeit. Ein Vorbild vor allem für uns Journalisten, so immens gebildet, so überzeugungsstark, so standfest. Mit seinem Roman „Der Mann, der Donnerstag war“ hatte er, als Echo auf eine tiefe innere Krise, ein düsteres Meisterwerk geschrieben. Georg Bernhard Shaw versuchte ständig, ihn zu Theaterstücken anzustiften (von denen er tatsächlich einige verfasste).

Aber er verstand sich als Journalist. Er wollte seine Gedanken nicht einkleiden in irgendwelchen erfundenen Männern oder Frauen, sondern sie direkt aussprechen. Er verstand sich als Debattierer, als „Kontroversialist“. Das machte ihm Spaß. Er liebte seinen Beruf und er hasste den Berufsstand. Ein Snob war er nie – nichts gegen die Sensationspresse! „Die meisten von uns verbringen die Hälfte ihrer Zeit damit, auf die Zeitungen zu schimpfen, besonders jene, die (wie ich selbst) die andere Hälfte damit verbringen, Zeitungen zu schreiben.“ Damit hat er unsere branchentypische Lieblingsbeschäftigung doch sehr genau erfasst, ob sie sich nun in den damaligen lärmenden Pubs der Fleet-Street abspielte zwischen Whisky und Bier, wo er gern sang und seine Clerihews, seine witzigen Spottverse, zum Besten brachte, oder ob es sich um die Tränken und die Szenerestaurants der Hauptstadt handelt, in denen in unseren Tagen die Frontverläufe abgesteckt werden.

Widerstandsgeist gegenüber der Langeweile

Ich vermute, die damals hatten mehr Spaß. Vor allen aber mehr Widerstandsgeist. Wie langweilig wäre ihm die freiwillig gleichgeschaltete Presse unserer Tage vorgekommen, ihr zuvorkommender Regierungsgehorsam, das Einverständnis über den „Kampf gegen rechts“ und den modernen coolen Sound, der sich alle Nachdenklichkeiten, alle Widersprüche ironisch abfedernd vom Leibe hält. Wer hat heute noch den Mut, so geistreich und glühend über den Glauben zu schreiben? Oder, in unserer Willkommensgesellschaft, über den freiwilligen Kniefall vor einer fremden Kultur samt ihrer Wüstenreligion zu wüten, über die falsch verstandene Toleranz, die nur ein anderes Wort für Prinzipienlosigkeit und religiöses Analphabetentum ist? „Wir sind dahin gelangt“, das schrieb er schon vor hundert Jahren, „dass das Christentum die einzige Religion ist, welche Christen nicht studieren.“ Den Islam lehnte Chesterton nicht nur, aber auch wegen seines Alkoholverbotes ab, in erster Linie jedoch wegen der düsteren „inneren Leere, die wieder und immer wieder neu durch die ständige Wiederholung jener Revolution gefüllt werden muss, die ihn hervorgebracht hat. Es gibt keine Sakramente. Das einzige, was geschehen kann, ist eine Art von Apokalypse, einzig wie das Ende der Welt. Daraus folgt, dass man nichts anderes tun kann, als immer neu diese Apokalypse herbeiführen zu wollen, damit die Welt vergeht, wieder und wieder.“ Hat es in diesen Tagen des Terrors eine präzisere Deutung der islamistischen Selbstmordattentate gegeben?

Chesterton ist neu zu entdecken, ich hoffe, ich kann mit meinem Buch „White Rabbit – oder die Abschaffung des gesunden Menschenverstandes“, das im Frühjahr zur Leipziger Buchmesse herauskommen wird, dazu beitragen.

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