Herr Ziemiak, Bundespräsident Steinmeier hat in seiner Rede gestern davon gesprochen, dass es „fast schon ein Wunder sei“, dass Deutsche und Polen zu so guten Nachbarn geworden seien. Teilen Sie diesen Eindruck?
Es ist tatsächlich ein geschichtliches Wunder. Und ein großes Geschenk für die junge Generation. Gestern durfte ich gemeinsam mit dem Bundespräsidenten mit Überlebenden des Aufstandes sprechen. Eine Frau erzählte uns: Als sie zwölf Jahre alt war, da kämpften vor ihrem Haus Wehrmacht und SS gegen polnische Soldaten. Sie sah auf der Straße ihre Nachbarin, die ihr Kind, einen Säugling, auf dem Arm trug. Dann sah sie wie die deutschen Soldaten schossen. Nicht auf die Frau, nicht auf die polnischen Soldaten, sondern nur auf den Säugling. Getroffen von den Kugeln fiel das Kind leblos zu Boden. Die Mutter stand davor. Damals habe sie sich geschworen, Rache an den Deutschen zu nehmen. Sie schloss sich dem polnischen Widerstand an und war mit zwölf Jahren Boten-Läuferin der polnischen Heimatarmee während des Aufstandes. Aber nun, 80 Jahre später, saß sie mit uns zusammen. Und ihre einzige Botschaft war: So etwas darf nicht wieder geschehen. Und dafür bräuchte es, so ihr Appell an uns, nur eins: Liebe und Freundschaft zwischen dem deutschen und polnischen Volk. Dies sei unsere Verantwortung - nicht mehr ihre. Das war für uns alle in der deutschen Delegation sehr bewegend. Ich merkte auch, wie besonders Frank-Walter Steinmeier berührt von dieser Dame war. Und es hat uns gezeigt: Eine Freundschaft zwischen Deutschland und Polen muss eine Freundschaft zwischen den Menschen sein.
Wie wichtig ist in diesem Zusammenhang die Vergebungsbitte der Deutschen, die der Bundespräsident nun erneuert hat, und im Gegenzug die Vergebungsbereitschaft der Polen?
Vergeben können nur die, die damals Opfer waren. Das ist nicht die Sache der jungen Generation in Polen. Die Bitte des Bundespräsidenten um Vergebung war dennoch außerordentlich wichtig als Symbol für die ehrliche Sühne und die Bereitschaft, die Geschichte nicht zu vergessen, sondern zu bewahren. Er sprach davon, dass die Polen nicht vergessen können und wir nicht vergessen dürfen. Nach der Rede saßen wir mit den Überlebenden und deren Familien zusammen. Da waren nicht auf der einen Seite die Deutschen, auf der anderen die Polen. Sondern hier kamen drei Generationen zusammen: die Überlebenden, die mittlere Generation, zu der ja auch der Bundespräsident gehört, und die Jüngeren. Sie redeten miteinander und hörten gemeinsam den Überlebenden zu.
"Vergeben können nur die, die damals Opfer waren"
Als Papst Johannes Paul II. 1996 bei seinem Deutschlandbesuch das Brandenburger Tor durchschritten hat, sagte er: „Jetzt ist für mich der Zweite Weltkrieg zu Ende.“ Er forderte dazu auf, dass neue Haus Europa zu bauen und eine Zivilisation zu schaffen, „die auf den universellen Werten der Solidarität, der Gerechtigkeit und des Friedens“ begründet sei. So etwas wie der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine schien damals fern. Ist dieser Optimismus des polnischen Papstes heute noch vorhanden? Welche Rolle können Deutschland und Polen gemeinsam dabei spielen, dass diese Vision Wirklichkeit wird?
Das war eine Szene von sehr großer Symbolkraft: Johannes Paul II. schreitet zusammen mit Helmut Kohl durch das Brandenburger Tor im wiedervereinigten und freien Berlin. Der Satz von dem Ende des Weltkrieges ist sehr wahr. Es wurde hier gestern auch mit Spannung erwartet, ob der Bundespräsident in seiner Rede auch etwas zur Ukraine sagt. Und er hat etwas gesagt: Wir können von den Aufständischen lernen, das Unrecht wird dem Recht, die Unfreiheit der Freiheit nicht weichen. Das ist die Lehre aus der Geschichte: Der Kampf um die Freiheit ist nicht umsonst. Er hat den richtigen Ton getroffen und dafür auch viel Beifall erhalten.
Oft hat man den Eindruck, dass Deutsche und Polen immer noch zu wenig über sich, ihre Länder und Kulturen wissen. Was muss sich hier ändern?
Diesen Eindruck möchte ich widersprechen. Es ist so, dass Polen in der Regel sehr viel über Deutschland wissen. Ich habe es auch jetzt während meines Besuches wieder erlebt, es gibt sehr viele Polen, die zumindest einige Redewendungen auf Deutsch sprechen können, viele haben Verwandte, die hier in Deutschland leben. Ich kenne keinen jungen Polen, der nicht schon einmal nach Deutschland gereist ist. Ganz anders sieht es auf der deutschen Seite aus. Etwas zugespitzt: Sehr viele junge Deutsche kennen Mallorca besser als Warschau, Krakau oder Danzig. Wir müssen daran arbeiten, dass sich hier etwas ändert. Die Deutschen müssen neugieriger auf Polen werden und sehen, wie spannend dieses Land ist.
"Sehr viele junge Deutsche kennen Mallorca besser als Warschau, Krakau oder Danzig"
Ein Thema, das in den vergangenen Jahren die deutsch-polnischen Beziehungen immer wieder belastet hat: Reparationen. Wie sieht hier aktuell der Stand bei den Verhandlungen aus, wird es bald eine Lösung geben?
Nach den deutsch-polnischen Regierungskonsultationen Anfang Juli hat der Bundeskanzler gesagt, Deutschland wisse um die Schwere seiner Schuld, um seine Verantwortung und um die Aufgabe, die daraus erwachse. Und er hat angekündigt, dass es Wiedergutmachungen für die Opfer deutschen Unrechts gebe. Aber, das werden wir auch hier in Polen oft gefragt, was hat Olaf Scholz nun konkret damit gemeint? Was heißt das jetzt. Hier ist eine klare Antwort notwendig.
Sie sind in Polen geboren, in Deutschland aufgewachsen. Menschen mit so einem doppelten Hintergrund fragt man oft, in welcher Sprache sie träumen. Wie sieht Ihr politischer Traum für die Zukunft aus und wie groß sind hier jeweils die polnischen und die deutschen Anteile?
Häufig träume ich davon, was ich am Tag erlebt habe. Diese Tage hier in Warschau sind sehr bewegend und es gibt viel zu verarbeiten. Ich werde noch viel über sie und ihre Bedeutung in nächster Zeit nachdenken. Mein Traum ist, dass Deutsche und Polen in einer unwiderruflichen Freundschaft miteinander verbunden sind. Diese Freundschaft sollte sich auch politisch institutionalisieren: in einer deutsch-polnischen parlamentarischen Versammlung. Mit Frankreich gibt es das ja schon. Bis es soweit ist, braucht man sicherlich einen langen Atem, aber ich halte das für notwendig und realistisch.
Zur Person:
Paul Ziemiak wurde 1985 in Stettin in Polen geboren. Da ein Teil seiner Familie deutscher Herkunft ist, siedelten seine Eltern zusammen mit ihm und seinem älteren Bruder 1988 nach Deutschland um. Der Christdemokrat gehört seit 2017 dem Bundestag an. Von 2014 bis 2019 war er Bundesvorsitzender der Jungen Union, von 2018 bis 2022 war er Generalsekretär der CDU. Seit 2022 ist er Generalsekretär der CDU-NRW.
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