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Politikwissenschaftler: „Islamisten sind schlau genug, die woke Sprache zu übernehmen“

Nach dem Überfall der Hamas auf Israel hat sich gezeigt: Die extreme Linke hat ein Antisemitismus-Problem. Auch offene Kooperation mit Islamisten scheint in der Szene kein Problem zu sein. Warum eigentlich? Ein Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Hendrik Hansen.
Gaza-Solidaritätskundgebung an der FU Berlin
Foto: IMAGO (www.imago-images.de) | Ist das schon eine Querfront? Unklar. Jedenfalls gibt es in Teilen der linken Szene ein manifestes Antisemitismus-Problem. Im Bild eine Gaza-Solidaritätskundgebung an der FU Berlin.

Herr Hansen, Sie haben die Entwicklung des politischen Extremismus in Deutschland seit dem Angriff der Hamas beobachtet und sind zu dem Schluss gekommen, dass sich eine neue „Querfront“ zwischen Linksextremen und Islamisten etabliert hat. Was meinen Sie damit?

Mit „Querfront“ wird in der Extremismusforschung typischerweise eine Zusammenarbeit von Links-und Rechtsextremisten bezeichnet – auch wenn derartige Kooperationsversuche in Deutschland historisch immer gescheitert sind. Ich finde aber, auch die Zusammenarbeit von Islamisten und Teilen der linken und linksextremistischen Szene lässt sich angesichts der ideologischen Unterschiede als „Querfront“ bezeichnen. Und diese Form der Kooperation lässt sich schon seit einigen Jahren beobachten. Ein etwas älteres Beispiel ist die „ship to Gaza“-Aktion, mit der 2010 Hilfsgüter in den Gazastreifen geliefert werden sollten. Islamisten organisierten die Lieferung, Bundestagsabgeordnete der Partei „Die Linke“ beteiligten sich daran. Was man aktuell beobachten kann, ist eine Zunahme linker Unterstützung für die Hamas und ihre Anliegen. Ein markantes Beispiel ist etwa die Solidarisierung der feministischen Organisation „Zora“, die sich eigentlich für Frauen und LGBTI+Personen einsetzt, also für Menschen, die nach Vorstellung der Hamas eigentlich nur stark reduzierte oder gar keine Rechte haben sollten, mit der Hamas. Für „Zora“ sind die Hamas-Kämpfer ungeachtet all der Morde und Vergewaltigungen keine Terroristen, sondern einfach nur Leute, die ihr Land befreien wollen.

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Wenn man von Demonstrationen, szene-internen Aufrufen und Manifesten absieht: Welche Konsequenz hat die Bildung dieser Querfront in der Öffentlichkeit? Schlägt sich das in politischer Gewalt nieder?

Davon ist mir bisher noch nichts bekannt. Aber es gibt zum Beispiel Störaktionen, wie im Museum „Hamburger Bahnhof“ in Berlin, wo eine Lesung von Hannah Arendts Werk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ stattfand. Diese Lesung wurde mutmaßlich von einer Gruppe namens „Palestine speaks“ (Palästina spricht), in der Linksextremisten und Islamisten zusammenarbeiten, geradezu gesprengt. Solche Vorfälle gibt es immer wieder. Es wird also gezielt versucht, die öffentliche Meinungsbildung zu beeinflussen.

Auch früher gab es Kooperationen zwischen linken und palästinensischen Organisationen. Es ist bekannt, dass die Rote-Armee-Fraktion gute Verbindungen zu palästinensischen Extremisten hatte. Was unterscheidet die neue Querfront von der historischen Kooperation?

Bei der Kooperation damals – etwa bei der Entführung des Flugzeugs „Landshut“ 1977 – waren palästinensische Linksterroristen die Partner und nicht Islamisten. Es handelte sich also anders als heute gerade nicht um eine Querfront. Die heutige Form der Zusammenarbeit kann in Frankreich seit dem Jahr 2000 beobachtet werden, in Deutschland seit ungefähr 15 Jahren.

Wie groß ist das Phänomen?

Das ist grundsätzlich sehr schwer zu beziffern. Das einzige was wir haben, sind die Angaben des Verfassungsschutzes. Im momentan aktuellsten Bericht für das Jahr 2022 ist die Rede von insgesamt 27.500 Islamisten und 36.500 Linksextremisten. Allerdings arbeiten nur Untergruppierungen zusammen. Es gibt nämlich im linksextremistischen Lager eine Spaltung: die sogenannten „Antideutschen“ gehen davon aus, dass wegen des Holocausts das größte Übel in der Geschichte die Täternation Deutschland sei. Die sind israelfreundlich. Und dann gibt es eben die propalästinensische extreme Linke, die das Existenzrecht Israels infrage stellt und antisemitisch argumentiert. Von denen kooperiert ein Teil mit Islamisten. Eine Spaltung gibt es aber auch in der islamistischen Szene: Der klassische Jihadist, der etwa dem Islamischen Staat nahesteht, hat für Linksextremisten nur offene Verachtung übrig. Aber diejenigen Islamisten, die sich eher an Organisationen wie der Muslimbruderschaft orientieren, agieren pragmatischer. Die sind schlau genug, die „woke“ Sprache zu übernehmen, und ihre Agenda unter dem Label des Kampfes gegen Diskriminierung, gegen Rassismus, gegen „Islamophobie“ voranzutreiben. Die greifen linkes Engagement gegen Rassismus auf – und docken daran an, indem sie Kritik an der Hamas als „antimuslimischen Rassismus“ gegen arabische Freiheitskämpfer delegitimieren. Der linke Diskurs wird also benutzt, um antisemitische, islamistische Botschaften in die Mitte der Gesellschaft zu tragen.

"Der linke Diskurs wird benutzt,
um antisemitische, islamistische Botschaften
in die Mitte der Gesellschaft zu tragen"

Diese „woken Islamisten“ glauben also nicht wirklich, rassistisch diskriminiert zu werden, sondern benutzen nur den Diskurs der linken Szene?

Zumindest geht es ihnen nicht im Kern um den Kampf gegen Rassismus. Es gibt hier keine ideologische Fusion – genauso wenig wie bei Querfrontbestrebungen zwischen Links- und Rechtsextremisten. Islamisten wissen einfach, dass sie ganz allgemein anschlussfähig an linke Strömungen werden, wenn sie diese Sprache benutzen. Damit kommen sie bis in die Ministerien und können zivilgesellschaftliche Organisationen gründen, die mit staatlichen Mitteln finanziert werden. Da fragt dann kaum noch jemand nach, ob es einen islamistischen Hintergrund gibt.

Und was motiviert die linke Szene zur Zusammenarbeit?

Der Politikwissenschaftler Hendrik Hansen
Foto: privat | Für zahlreiche Linke und Linksextremisten ist die Hamas Ausdruck eines Widerstandskampfes, meint der Politikwissenschaftler Hendrik Hansen.

Für zahlreiche Linke und Linksextremisten ist die Hamas Ausdruck eines Widerstandskampfes. Zwar werden die Ziele der Hamas nicht geteilt, aber weil sie aus dieser Sicht auf der Seite der „Unterdrückten“ steht, muss sie unterstützt werden. Das hängt zusammen mit der Entwicklung linker Theorie seit den 70er Jahren. Der Ansatz von Leuten wie Michel Foucault war es, die Ursache für Unterdrückung nicht wie der klassische Marxismus nur in ökonomischen Strukturen zu suchen, sondern auf der Ebene von Sprache und Normen – und um die geht es in der linksextremistischen Theoriebildung seither, auch in der „postkolonialen“ Theorie. Postkolonialismus meint zunächst nur, dass man die das Ende der Kolonialherrschaft überdauernden Strukturen in den ehemaligen Kolonien analysiert und zeigt, inwiefern sie immer noch fortwirken, was ein völlig gerechtfertigtes Anliegen ist. Nur können wir beobachten, dass ein (stark ideologischer) Teil der postkolonialen Theoretiker die Welt scharf unterteilt in Unterdrückte, das sind die Guten, und Unterdrücker, das sind die Bösen. Und in dieser dualistischen Weltsicht stehen Israel und die USA auf der Seite der Bösen, und auf der Seite der Guten und Unterdrückten dann nicht nur allgemein Palästinenser, sondern auch Terrororganisationen wie die Hamas.

Wer unterlegen erscheint, ist immer im Recht?

Im Prinzip, ja. Auf der theoretischen Ebene wird zwar zunächst behauptet, dass es allein um die Analyse von Strukturen gehe – doch am Ende sind die Bösen wieder Menschen, und die bleiben interessanterweise immer die gleichen. Das war schon bei Marx so: Angeblich ging es ihm um ökonomische Strukturen, aber dann spricht er doch immer wieder von der Habsucht der Kapitalisten. Und sobald von Kapitalisten die Rede ist, möchte man die doch gerne etwas präziser benennen – und schon Marx nennt hier die Juden als angebliche Urheber des Kapitalismus. Der linke Antisemitismus identifiziert also als Verantwortlichen hinter den Strukturen doch wieder „den Juden“. Das zieht sich durch die gesamte Geschichte des Linksextremismus, auch wenn man heute lieber von Israel spricht – aber in einer Weise, die klar antisemitisch ist. Wie bei der Rede vom „Genozid“: Die Hamas hat am 7. Oktober gezielt Frauen und Kinder vergewaltigt und ermordet. Man kann hier klar von einer genozidalen Absicht sprechen, denn so etwas machen Sie nur, wenn Sie den Gegner als Volk auslöschen wollen. Bei den israelischen Angriffen sterben auch Frauen und Kinder, aber nicht gezielt und gewollt, sondern – tragischerweise – infolge von Kriegshandlungen. Insofern ist es eine Dämonisierung, in diesem Konflikt ausgerechnet Israel des Genozids zu beschuldigen, und man kann davon ausgehen, dass dem eine antisemitische Einstellung zugrunde liegt.

"Es ist eine Dämonisierung,
in diesem Konflikt ausgerechnet Israel
des Genozids zu beschuldigen"

Zurück zur Querfront: Selbst wenn man die Motivation des Kampfes gegen Unterdrückung akzeptiert, müsste man von linker Seite doch ein Problem mit den reaktionären Zielsetzungen der Islamisten haben. Wie stellt man sich das Endergebnis der Kooperation vor? Von welcher Gesellschaft träumen Linksextreme?

Aus linksextremistischer Sicht sind die reaktionären Ziele der Hamas nur eine Art unwillkürliche Konsequenz der Unterdrückung, der Verstrickung in die gegenwärtigen Strukturen. Die Vision lautet also, wenn die Unterdrückung endet und die Menschen erst frei sind, dann hört früher oder später auch ganz automatisch das reaktionäre Denken auf. Die Losung ist daher, zuerst die Unterdrückung zu bekämpfen. In diesem Kontext wird dann teils auch behauptet, dass Islamismus eigentlich gar nicht existiert, sondern nur ein rassistisches Konstrukt des Westens zur Delegitimierung von Muslimen sei. Was die Ziele des Kampfes gegen Unterdrückung angeht, kommt aber auch hinzu, dass über sie nicht wirklich nachgedacht werden darf. Solange wir in einer Welt der Unterdrückung leben, können wir uns eine freie Welt ja eigentlich nicht vorstellen, so die Ideologie.

Was folgt aus Ihrem Querfront-Befund?

Zunächst einmal brauchen wir in gesellschaftlichen Debatten eine viel intensivere Auseinandersetzung mit Antisemitismus in allen Formen des Extremismus – nicht nur im Rechtsextremismus, sondern auch im Linksextremismus und im Islamismus. Zweitens ist auf der sicherheitspolitischen Ebene eine genaue Beobachtung der beschriebenen Zusammenarbeit geboten. Und falsch finde ich es – drittens – auch, wenn antisemitische Agitation wie zum Beispiel bei der „Dokumenta XV“ mit öffentlichen Geldern bedacht wird. Dabei denke ich auch an die Universitäten, an denen die ideologische postkoloniale Theoriebildung ja zu einem großen Teil stattfindet. Als Beispiel lässt sich der aktuelle Skandal um die Berufung des Gastwissenschaftlers Ghassan Hage an das Max-Planck-Institut für Ethologie in Halle nennen, der die Hamas am 7. Oktober 2023 dafür pries, dass sie nicht nur Tunnel grabe, sondern auch über Mauern fliege. Natürlich gilt bei der Publikation von Büchern und Artikeln die Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit. Aber wenn es um das Einwerben öffentlicher Drittmittel geht, sieht das anders aus. Es gibt da zum Beispiel vonseiten der Deutschen Forschungsgemeinschaft vielfache Vorgaben, sogar, dass ich in meinen Anträgen Gender- und Diversitätsgesichtspunkte zu berücksichtigen habe. Ich finde, bevor wir damit anfangen, könnten wir Forschungsprojekte auch auf die Gefahr antisemitischer Inhalte abklopfen.

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