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Israel braucht dringend ein Wunder

Seit Kriegsbeginn vor sechs Monaten ist Premier „Bibi“ Netanjahu angezählt, doch im Krieg kann nicht abgerechnet werden.
Demo zur Freilassung der Hamas-Geiseln
Foto: IMAGO/DEBBIE HILL (www.imago-images.de) | Nicht nur Angehörige der von der Hamas entführten israelischen Geiseln fordern – wie hier am Sonntag in Jerusalem – vehement, die Regierung Netanjahu müsse die Geisel-Freilassung zur obersten Priorität machen.

Die USA müssen sich 1951 etwas dabei gedacht haben, als sie in ihrer Verfassung die Amtszeit ihrer Präsidenten auf zwei Perioden, also auf acht Jahre, reduziert haben. Zu lange an der Spitze eines Landes zu stehen tut einer Demokratie nicht gut. Amerikas engster Verbündeter im Nahen Osten, Israel, ist dafür ein überzeugendes Beispiel.

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Benjamin Netanjahu ist mit 14 Amtsjahren sieben Mal als Ministerpräsident wiedergewählt und damit die längste Zeit an der Macht. Länger als Staatsgründer David Ben Gurion. Spätestens seit dem 7. Oktober 2023, dem Kriegsbeginn gegen die Terrororganisation Hamas, ist Bibi – wie ihn Freund und Feind nennen – angezählt.

Netanjahus Mehrheit ist fast täglich in Gefahr

In seiner Regierung der Nationalen Einheit, die stark rechts angehaucht und betont national ausgerichtet ist, hat er noch eine Mehrheit. Aber sie ist fast täglich in Gefahr. Im Volk hat er sie längst verloren. Dafür sprechen nicht nur die Umfragen. Die Gründe dafür sind zahlreich. In Tel Aviv hängen jede Menge haushoher Plakate mit der unübersehbaren Aufschrift neben einem unvorteilhaften Portrait: „Du bist unser Anführer – Du bist schuld.“
Gemeint ist damit der Angriff der Hamas am 7. Oktober, der Israel und seine viel gelobte Armee, die Israel Defence Forces (IDF), völlig überrascht hat. Genauer gesagt: Die IDF hat geschlafen. An nur einem einzigen Tag ermordeten die Terroristen fast widerstandslos nahezu 1 200 Zivilisten, vergewaltigten Frauen und brandschatzten mehrere Grenzdörfer. 257 Menschen verschleppten sie nach Gaza, auch Kleinkinder, etwa 130 sind noch immer in Geiselhaft, viele davon vermutlich längst tot.

Die Schuldfrage tobt: zu Hause, in den Medien und in jedem Café. Aber mitten im Krieg kann nicht abgerechnet werden, können auch keine Wahlen abgehalten werden. Das würde das Land für Monate lähmen, in einer Zeit, in der täglich Entscheidungen über Leben und Tod gefällt werden müssen. Es geht um nicht weniger als ums Überleben des jungen jüdischen Staates.

Gestritten wird trotzdem, von nationaler Einheit kann keine Rede sein. Dafür ist die Koalitionsregierung zu breit aufgestellt von Mitte links bis ganz rechts. Jede Partei, jeder einzelne von ihnen weiß es besser. Mehrere Kandidaten scharren mit den Hufen im Kampf um die Nachfolge Netanjahus. Außenstehenden ist nur schwer zu vermitteln wie man sich um so ein Amt in Zeiten wie diesen überhaupt bewerben kann.

Bibi hätte durchaus als erfolgreicher Staatslenker in die Geschichte eingehen können. Er versteht etwas von Wirtschaft und Finanzen. Außerdem ist er ein begabter Rhetoriker und perfekt zweisprachig. Er muss weder in Jerusalem noch in Washington ein Live-TV-Interview fürchten. Sein Name ist mit dem Aufstieg Israels als Start-up-Nation ebenso verbunden wie mit einem jährlichen Wirtschaftswachstum, von dem die meisten Länder Europas nur träumen können.

Die eigene Bevölkerung als Waffe

Aber seit Mai 2020 ermittelt der Oberstaatsanwalt gegen ihn wegen des Verdachts der Korruption und der Vorteilsannahme in mehreren Fällen. Seine Frau Sara, vermeintlich liebevoll „Sarale“ genannt, wird vom Volk weder als First noch als Second, und schon gar nicht als Lady angenommen. Sie ist ihm alles andere als eine Hilfe. Sie verstärkt eher das Egomane im Erscheinungsbild ihres Mannes und scheut auch nicht davor zurück, bei Dienstreisen 1.600 US-Dollar für Friseur und sonstige Beauty-Dienstleistungen auszugeben. Natürlich alles auf Kosten der Steuerzahler.

Jetzt ist seit sechs Monaten Krieg und niemand weiß, wie lange er dauern wird. Krieg ist immer schmutzig, aber dieser besonders, weil die Hamas bedenkenlos die eigene Bevölkerung als Waffe einsetzt. Israels Kriegsgegner kann sich darauf verlassen, dass Medien und Politik der westlichen Welt die Bilder toter und verstümmelter arabischer Kinder, zerstörter Krankenhäuser in gnadenlose Israel-Kritik umsetzen. Selbst der engste Freund und wichtigste Waffenlieferant, die USA, verlieren die Geduld und stellen Forderungen, die Israel nicht erfüllen kann. Unfälle wie der Tod von sieben Mitarbeitern der „World Central Kitchen“ (WCK) in Gaza, die in der Vorwoche von israelischen Raketen „versehentlich“ getötet wurden, heizen die Weltstimmung gegen Israel zusätzlich an.

All das hat auch innenpolitisch Auswirkungen. Israels Volksmeinung steht überwiegend hinter Netanjahus Strategie der Vernichtung der Hamas. Das ist aber leichter gesagt als getan. Vor allem dauert es schon zu lange. Bei den Terroristen des 7. Oktober handelt es sich um gut ausgerüstete, jahrelang trainierte, brutal-todesmutige Truppen, die mit dem Iran einen potenten Unterstützer haben und über grenzenlose Geldquellen auch aus der westlichen Welt verfügen. Die Zeiten, in denen die IDF in sechs Tagen (1967) oder in drei Wochen (Jom Kippur 1973) die Gegner in die Knie gezwungen hat und Siegesbilder um die Welt schicken konnte, sind vorbei.

Zusätzlich ist ein Endlos-Thema wieder aktuell geworden, das Netanjahu die Mehrheit kosten könnte: die Wehrpflicht für den orthodoxen Nachwuchs. Die überwiegende Mehrheit im Land versteht nicht und will auch nicht akzeptieren, dass sich Kinder der Schwarzhutträger mit den Schläfenlocken weiter ihrem Bibel-Studium widmen, während Töchter und Söhne der Säkularen in Gaza und an den umkämpften Grenzen Israels den Kopf hinhalten müssen – im wahrsten Sinne des Wortes.

Sollte der Antrag, der auch von einigen Koalitionären unterstützt wird, Gesetz werden, drohen die Orthodoxen aus der Regierung auszusteigen. Das wär's dann für Netanjahu mal wieder gewesen und Neuwahlen müssten ausgerufen werden. Zwar ist ihm in diesen Tagen eine Verschiebung des Gesetzesantrags gelungen. Aber das ist nur ein absehbarer Zeitgewinn.

Totgesagte leben länger, das gilt auch für Netanjahu

Kein Wunder, dass sich das Nachfolge-Karussell wie wild dreht. Die Namen sind bekannt: Naftali Bennett und Jair Lapid, die beide kurz auf Netanjahus Stuhl saßen, wirbeln vor und hinter den Kulissen und würden am liebsten eine Regierung ohne die Orthodoxen und religiösen Nationalisten bilden. Im aktuellen Kabinett sitzt der frühere Generalstabschef und Ex-Verteidigungsminister Benny Gantz, der in das Kriegskabinett eingestiegen ist, nicht um Bibi zu stützen, sondern um ihn zu stürzen. Die Umfragen geben ihm gute Chancen für die Nachfolge, aber es fehlt ihm an Charisma. Auch seine Rhetorik reißt niemand vom Stuhl.

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Nicht aus den Augen zu verlieren ist Gideon Sa'ar. Der 57-jährige Volljurist war schon einmal stellvertretender Ministerpräsident. Das war noch zu Zeiten als er und Netanjahu an einem Strang zogen. Inzwischen hat er sich selbstständig gemacht und hat sich im März auch von Benny Gantz gelöst, dessen zweiter Mann er war. Aber damit begnügt sich der Mann nicht mehr, der mit einer landesweit bekannten TV-Moderatorin verheiratet ist. Er schielt gezielt auf den Chef-Posten. Alle diese Kandidaten sind ehemalige enge Mitarbeiter Netanjahus oder sind von ihm in hohe Ämter berufen worden. Man kennt sich aus gemeinsam und gegeneinander geführten politischen Schlachten und hat jede Menge politische Leichen im Keller.

Und dann gibt es noch die „Religiösen Zionisten“, die in Judäa und Samaria, besser bekannt als Westbank, zu Hause sind. Dort leben inzwischen über eine halbe Million wahlberechtigte Israeli. Der eine, Bezalel Smotrich, ist Finanzminister, der andere, Itamar Ben-Gvir, ist Sicherheitsminister, weil deren Partei bei der jüngsten Wahl die Anzahl der Mandate auf zwölf verdoppeln konnte. Der eine versteht nichts von Staatsfinanzen, der andere, dessen Frau sich gerne mit einem Pistolengürtel fotografieren lässt, wird von vielen eher als Sicherheitsrisiko empfunden und nicht als verantwortungsbewusster politischer Chef der Polizei. Alle potenziellen Nachfolger Netanjahus würden die „Religiösen Zionisten“ gerne dorthin zurückschicken, wo sie hergekommen sind: in die Westbank.

Totgesagte leben länger. Diese alte Weisheit gilt für den 74-jährigen Amtsinhaber mehr denn je. Er war schon Anfang der 2000er Jahre und 2021/22 ausgebootet, kam aber er stets wieder zurück. Ob Bibis Karriere bald zu Ende geht, darüber entscheidet auch der Kriegsausgang, ob und wie viele Geiseln lebend gerettet werden können.

Israel braucht dringend ein Wunder. Wie vor 3.000 Jahren, als Moses vor den Fluten des Roten Meeres stand und hinter dem jüdischen Volk die bewaffneten Heerscharen des Pharao drohten. So erzählt es die Bibel. Damals spaltete Gott das Meer und rettete das jüdische Volk vor der Vernichtung. Genau dieses Fest, Pessach, steht in Israel vor der Tür. Wie sagte Staatsgründer David Ben Gurion: „Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist.“

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