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Hochgradig problembewusst

Die Stellungnahme des Ethikrats zum Suizid ist der Lektüre wert und gehört von jedem Abgeordneten gelesen. Ein Kommentar.
Bundespressekonferenz Suizid
Foto: (www.imago-images.de) | Die Mitglieder des Ethikrats sind der Ansicht: Beschränkten sich Staat und Gesellschaft darauf, die Beihilfe zum Suizid bloß rechtlich zu regeln, so versagten beide auf ganzer Linie.

Wer der Überzeugung ist, dass Menschen nicht Eigentümer, sondern lediglich Verwalter ihres Lebens sind, wofür viel spricht – denn wann und wodurch könnten sie es auch erwerben? – den wird auch die Stellungnahme, die der Deutsche Ethikrat gestern in Berlin zum Suizid vorgestellt hat, nicht restlos zufriedenstellen können.

Wie nicht anders zu erwarten, widerspricht das Gremium, das Regierung und Parlament in bioethischen Fragen beraten soll, in seiner Stellungnahme nicht dem skandalösen Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 26. Februar 2020, mit welchem die Richter des Zweiten Senats ein „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“ erfanden und in den Rang eines Grundrechts hievten. Wie könnte es auch? Schließlich gelten die Entscheidungen von Höchstrichtern als letzte und für alle verbindliche Instanz im Rechtstreit offener Gesellschaften. Lucum caput locuta, causa finita! Wobei einzelne Formulierungen der Stellungnahme sehr wohl deutlich machen, dass das Karlsruher Urteil, das international auf Kritik stieß, auch im Deutschen Ethikrat nicht von allen gleichermaßen begrüßt wurde.

Keine Glorifizierung von Suiziden

Überraschend ist also – anders als der Tenor zahlreicher Berichte glauben machen will – keineswegs, dass der Ethikrat in seiner Stellungnahme festhält, freiverantwortliche Entscheidungen, das eigene Leben zu beenden, dürften zwar bedauert, müssten jedoch respektiert werden. Dass es dem Rat nicht darum ging, das Lied der tollkühnen Richter zu singen, zeigt mit der Reihung der Substantive: „Suizid – Verantwortung, Prävention und Freiverantwortlichkeit“ zudem bereits der Titel der Stellungnahme an.

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Überraschend ist vielmehr, wie hochgradig problembewusst der Ethikrat in seiner Stellungnahme die zahlreichen Aspekte auf- und ausarbeitet, die in aus seiner Sicht in den Blick genommen gehören, will man dem Drama, dass Menschen in Situationen geraten können, in sehr sie Selbsttötung als ein erstrebenswertes Gut ansehen – so überhaupt möglich – angemessen begegnen. Dazu zählt in jedem Fall, weder Suizide zu glorifizieren, noch Suizidenten zu verteufeln, für manche eine Versuchung, die der Rat jedenfalls nirgendwo erliegt.

Und auch wenn der Rat es nicht genauso formuliert, so scheinen die Ratsmitglieder doch bei allen Meinungsverschiedenheiten in Einzelfragen, die in der Stellungnahme auch offen angesprochen werden, doch der Ansicht zu sein: Beschränkten sich Staat und Gesellschaft darauf, die Beihilfe zum Suizid bloß rechtlich zu regeln, so versagten beide auf ganzer Linie.

So heißt es in der durchweg lesenswerten Stellungnahme etwa: „Die Anerkennung des Rechts der Menschen, sich auch und gerade aus existentieller Not gegen eine Fortsetzung ihres Lebens zu entscheiden, entlastet Staat und Gesellschaft jedoch nicht von der Verantwortung, solchen Notlagen entgegenzuwirken. Schon aufgrund der Verpflichtung zum Integritäts- und Lebensschutz müssen sie so weit wie möglich darum bemühen, dass Menschen nicht in Situationen geraten und verbleiben, in denen sie den Tod als vermeintlich kleineres Übel dem Tod vorzuziehen genötigt sehen.“

Kirche vertritt beim Lebensschutz keine Sondermoral

Mehr noch: Eindringlich warnt das Expertengremium vor der Ausweitung einer „Suizide generierender Kultur“, die es zu analysieren und einzudämmen gelte. Das ist nicht mehr sonderlich weit entfernt von jener „Kultur des Todes“, die schon die Päpste Johannes Paul II. und Benedikt XVI. beklagten und denen sie die „Kultur des Lebens“ entgegenstellten, oder von der von Papst Franziskus mehrfach gegeißelten „Wegwerfkultur“. Statt von einem Gremium wie dem Ethikrat mehr zu verlangen, sollten Katholiken in der Stellungnahme vielmehr einen Beleg dafür sehen, dass Katholiken in Fragen des Lebensschutz keine kirchliche Sondermoral vertreten, sondern eine, die auf der anthropologischen Sonderstellung des Menschen im Kosmos fußt und sich auch säkular begründen lässt.

Und wer, wann auch immer, im Deutschen Bundestag über die Neuregelung der Suizidhilfe befinden soll, der tut gut daran, diese Stellungnahme vorher gelesen und verinnerlicht zu haben.

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Stefan Rehder Deutscher Bundestag Johannes Paul II. Lebensschutz Nationaler Ethikrat Papst Franziskus Päpste Suizidhilfe Säkularisation

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