Viele Türken wissen gar nicht, dass es in ihrem Land überhaupt Christen gibt, denn sie begegnen ihnen im Alltag praktisch nie. Von den 85, 5 Millionen Einwohnern der heutigen Türkei sind weniger als 90 000 Christen, also kaum mehr als 0, 1 Prozent. Das war in osmanischer Zeit völlig anders, denn im Reich der Sultane lebten Millionen orthodoxe und orientalische Christen. Sie bildeten eigene Millets, die trotz mancher Diskriminierung auch eine Art sozialer Selbstverwaltung kannten, etwa im Erb- und Eherecht. Von einer „institutionalisierten Parallelgesellschaft auf religiöser Grundlage“ spricht der Historiker Karl Kaser.
Bis ins 19. Jahrhundert hinein repräsentierte das Ökumenische Patriarchat von Konstantinopel fast alle orthodoxen Christen des Osmanischen Reichs, also neben den Griechen auch die Balkanslawen, während das Armenische Patriarchat neben den Armeniern auch die Christen syrischer Tradition vertrat. Übergriffe gegen Christen gab es immer wieder, doch erst im Zeitalter des Nationalismus nahmen diese einen genozidalen Charakter an, beginnend mit den Pogromen ab Mitte des 19. Jahrhunderts bis hin zum Genozid an den Armeniern ab 1915. Rund 1, 5 Millionen armenische und 600 000 syrische Christen kamen damals zu Tode.
Nach dem Ersten Weltkrieg und der Gründung der „modernen“ Türkei wurden 1923 im Rahmen eines „Bevölkerungstauschs“ 1, 5 Millionen orthodoxer Griechen nach Griechenland vertrieben und eine halbe Million Muslime von dort in die Türkei. Seither sind alle christlichen Kirchen in einer fragilen Lage. „Alle christlichen Gemeinschaften in der Türkei kämpfen ums Überleben“, sagt der armenisch-apostolische Bischof Tiran Petrosyan im Gespräch mit der „Tagespost“. Das hat aber auch einen positiven Nebeneffekt: „Für interne Konflikte bleibt da kein Raum. Es herrscht ein starker ökumenischer Geist, die kirchlichen Oberhäupter treffen sich regelmäßig.“
Nur mehr Schatten einstiger Größe
Die Armenisch-Apostolische Kirche bildet mit maximal 60 000 Gläubigen heute die größte christliche Konfession in der Türkei, also die große Mehrheit innerhalb dieser kleinen Minderheit. Die Armenier bewegen sich durchaus in ihrem traditionellen Siedlungsgebiet, denn das christliche Königreich Armenien reichte im Mittelalter zeitweise vom Kaspischen bis zum Schwarzen Meer und zum Mittelmeer. Sultan Mehmet II., der osmanische Eroberer Konstantinopels, siedelte in seiner Hauptstadt gezielt armenische Kaufleute und Handwerker an. Vor 1914 stellten die Armenier bei einer Gesamtbevölkerung von etwa 20 Millionen rund zehn Prozent der Einwohner des Osmanischen Reichs. Heute ist nur mehr ein Schatten ihrer einstigen Größe sichtbar.
„Allein in Konstantinopel gibt es heute noch 36 Kirchen – ein letzter Rest dessen, was wir einst besaßen“, so Bischof Tiran Petrosyan. Er weiß auch von Einschränkungen der Meinungs- wie der Religionsfreiheit zu berichten: „Armenier in der Türkei dürfen bis heute nicht offen über den Genozid an ihrem Volk sprechen. Viele geben ihre Religionszugehörigkeit gar nicht erst an: aus tiefer, existenzieller Angst.“ Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk, an dessen Grabmal Papst Leo XIV. – wie jeder Staatsgast außer den Iranern – bei seiner Türkeireise Ende November einen Höflichkeitsbesuch absolvieren muss, war aggressiv gegen alle Religiosität und zugleich extrem nationalistisch: Für die Armenier war Atatürks „Modernisierung“ im Geiste der Französischen Revolution doppelt giftig, denn sie gerieten aus ethnischen wie religiösen Gründen unter Druck.
Unter Erdoan wurden immerhin einige Kirchen an das armenische Patriarchat in Istanbul zurückgegeben. Manche sehen darin aber eher ein Schauspiel für den Westen, denn während einige wenige Kirchen restituiert werden, verfallen zeitgleich viel mehr. Weder den Griechen, die seit Jahrzehnten für die Wiedereröffnung ihrer Hochschule auf der Istanbul vorgelagerten Insel Chalki werben, noch den Armeniern ist ein Priesterseminar in der Türkei gestattet. Doch gleichzeitig werden als Priester nur Männer akzeptiert, deren Eltern in der Türkei geboren wurden.
Der bevorstehende Besuch des Papstes gibt nun für einen Moment auch den armenischen Christen in der Türkei mehr Sichtbarkeit. Bischof Tiran Petrosyan meint gegenüber dieser Zeitung: „Die Beziehungen zwischen der katholischen und der armenisch-apostolischen Kirche sind hervorragend. Der Katholikos hat den Papst bereits im Vatikan besucht, und der Besuch des Papstes in der armenischen Kathedrale von Istanbul wird ein schönes Zeichen der Anerkennung und geschwisterlichen Verbundenheit.“ Auch die anschließende Reise des Papstes in den Libanon sei bedeutsam: „Dieser Besuch des Papstes kann den Menschen im Nahen Osten neue Hoffnung geben. Christen – und selbst viele Nicht-Christen – sehen darin ein starkes Zeichen der Solidarität.“
Bedrohte Existenz der Armenier an der Levante
An der Levante fanden vor mehr als einem Jahrhundert während des jungtürkischen Genozids viele verfolgte Armenier Zuflucht. Heute leben im Libanon noch etwa 50 000 Armenier, doch ebenso viele wanderten in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten aus. Mit ihnen emigrierten auch viele Gemeindepfarrer, von denen etwa 90 Prozent verheiratet sind. Das Oberhaupt der armenisch-apostolischen Christen im Libanon ist der Katholikos des „Großen Hauses von Kilikien“, dem auch Zypern und Teile Griechenlands unterstehen, nicht aber die Patriarchate von Jerusalem und Istanbul. Angesichts des langen Kriegs in Syrien hatten viele der dortigen Armenier ihrer Heimat den Rücken gekehrt und Zuflucht im Westen oder in Armenien gesucht.

Eine ähnliche Emigrationswelle könnte die anhaltende Wirtschaftskrise im Libanon auslösen. Das ist doppelt problematisch, denn einerseits unterscheiden sich die post-sowjetisch geprägten Armenier von ihren Landsleuten aus islamisch dominierten Gesellschaften in Religiosität, Mentalität, Kultur und Sprache. Während in Syrien und im Libanon Westarmenisch gesprochen wird, spricht man in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion und im Iran Ostarmenisch. In islamischen Ländern senden die Armenier ihre Kinder in armenische Schulen. Die Kirche sei ein fester Teil ihres Alltags, um die eigene Identität zu bewahren, sagen Experten. Zugleich wird mit ihrer Emigration das Christentum in Nahost immer mehr ausgedünnt.
Denn nicht nur die armenische, sondern die christliche Präsenz insgesamt ist in Nahost in Gefahr. Sensationeller Kirchen-Neubau in Istanbul Die zweitgrößte christliche Konfession in der Türkei bildet die Syrisch-Orthodoxe Kirche, wenngleich im Genozid während des Ersten Weltkriegs zwei Drittel ihrer Gläubigen zu Tode kamen. Heute leben in Istanbul etwa 25 000 syrisch-orthodoxe Christen, aber im ursprünglichen Siedlungsgebiet, im Tur Abdin, nur mehr rund 2 500, und auch die nur im Sommer. Dauerhaft leben nur noch 200 Christen in dieser Region im Südosten der Türkei, wie der Theologe Aho Shemunkasho im Gespräch mit der „Tagespost“ schildert. Selbst 1969 im Tur Abdin geboren, emigrierte er mit seiner Familie 1980 nach Europa, während viele andere nach Istanbul gingen. Dort seien die Christen der syrischen Tradition historisch betrachtet in der „Diaspora“, meint er.
Istanbul sei das „Territorium der Griechen und Armenier gewesen“. Dem dortigen syrisch-orthodoxen Me-tropoliten Filüksinos Yusuf Çetin gelang vor wenigen Jahren ein historisch einmaliger Coup: Er konnte Staatspräsident Er- doan dafür gewinnen, den ersten Neubau einer christlichen Kirche seit Gründung der Türkischen Republik zu bewilligen. Erdoan kam persönlich zur Grundsteinlegung der St. Efrem-Kirche im hübschen und traditionsreichen Istanbuler Stadtteil Yesilköy (Grünes Dorf), die auf dem Grund eines alten katholischen Friedhofs steht und die Papst Leo XIV. nun am 29. November besuchen wird. Dieser Neubau sei vielleicht auch deshalb erlaubt worden, weil die syrischen Christen mit keinem Staat assoziiert werden können, anders als Griechen und Armenier, meint Aho Shemunkasho. Erdoan habe „in den vergangenen 15 Jahren gesehen, dass wir syrischen Christen keine Gefahr sind. Zuvor gab es Enteignungsverfahren, aber nach und nach kam es zu einer Wende“.
Jetzt versuche seine Kirche, sich auch die Eigentumsrechte an ihren Klöstern im Tur Abdin und deren Grundstücken zu sichern. „Wir sind zuversichtlich, dass Erdoan zustimmen wird, dafür eine Lösung zu finden. Denn unser Erbe ist im Tur Abdin, wenngleich die Träger des Erbes in Istanbul leben.“ Nicht weniger wichtig sei aber das immaterielle Erbe, vor allem die aramäische Sprache, die Literatur und die Liturgie. Vor dem Ersten Weltkrieg – viereinhalb Jahrhunderte nach der osmanischen Eroberung – waren noch 23 Prozent der damals 1,1 Millionen Einwohner Istanbuls orthodoxe Griechen und 18 Prozent christliche Armenier. Die katholische Kirche zählte 1914 hier 60 000 Gläubige unterschiedlicher Herkunft: damals wie heute eine Ausländerkirche, die sich aber immer wieder über türkische Konvertiten freuen kann.
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