Die CDU muss sich drehen, wenden und winden. Schließlich geht es um die Frage der Regierbarkeit und Regierungsfähigkeit. Und das ist die Partei eigentlich gewohnt – 16 Jahre Helmut Kohl, 16 Jahre Angela Merkel. Und nun soll es Friedrich Merz richten, der bislang ja kein Exekutivamt ausgeführt hat und jahrelang politisch-abstinent war. Anders als beim letzten Mal sollte es zu weniger Querschüssen aus Bayern kommen. Gerade dadurch wurde ja die Ampelkoalition erst möglich, die nun vor dem Fall steht. Alte Gewissheiten verschwinden, wie auch die Union feststellen muss.
Gecrasht? Grecrasht!
Mit Blick auf das katastrophale Abschneiden der Ampelparteien in Thüringen, Sachsen und Brandenburg zog der potentielle Ministerpräsident in Thüringen, der CDU-Spitzenkandidat Mario Voigt, jüngst in der Talkshow von Markus Lanz im ZDF folgendes Fazit: „Das Parteiensystem, das wir kannten, ist ziemlich durcheinander gebracht, wenn nicht sogar ...“ Lanz unterbrach ihn: „Gecrasht?“ Voigt bejahte: „Gecrasht finde ich einen guten Begriff, muss ich sagen.“ Von Disruption würde jemand sprechen, der sich mit dem Wandel der modernen Technologien beschäftigt. Wer nun den Eklat im Thüringer Landtag bei der ersten konstituierenden Sitzung verfolgt hat, sieht die Problematik eines zerfaserten Parteiensystems. Immerhin kann die CDU nun den Parlamentspräsidenten stellen. Die CDU ist „die Partei der Deutschen Einheit“. Sie ist die einzige Kraft, die in Ostdeutschland die Wut auf den Westen bezähmen kann. Die AfD ist gleichwohl dort zu einer Volkspartei geworden, mit manipulierten und geklauten Parolen wie „Wir sind das Volk“, die an die „Friedliche Revolution“ erinnern sollen.
Für „linksgrüne Gutmenschen“ ist der daher durchaus legitime „Kampf gegen rechts“ wichtiger als alles andere. Das Verhalten der AfD in Thüringen zeigt, dass man es dort und nicht nur dort mit einer rechtsextremistischen Partei zu tun hat. Der politische Diskurs ist in der einstigen Konsensdemokratie längst vergiftet. Man erinnere sich auch an die Demonstrationen vor einigen Monaten: Bei der Formulierung „gegen rechts“ ist in erster Linie die AfD gemeint, die CDU wird jedoch stets mitgedacht. Doch fällt dies kaum noch jemandem auf. Folglich könnten die Wahlkämpfe im Osten ältere Bürger an die Zeiten der „Nationalen Front“ in der DDR erinnern: Alle gegen einen.
Wunschkoalitionen sind passé
Und es wird noch dramatischer. Nun soll es Sahra Wagenknecht richten, die medial als Ex-Kommunistin, also nicht nur als Abweichlerin ihrer Partei, stilisiert und heroisiert wird. Ihre Partei heißt wie sie. Das BSW ist bislang eher eine Kaderpartei. In Brandenburg hat die Partei zurzeit rund 40 Mitglieder, in Thüringen hatte sie zum Zeitpunkt der Wahl etwa 75. Über jede neue Aufnahme entscheidet Wagenknecht höchstpersönlich. Sie führt die CDU vor, zitiert deren Vertreter nach Berlin und erweckt den Eindruck, am liebsten selbst einen prorussischen Friedensvertrag mit der Ukraine abschließen zu wollen. Sie pocht darauf, dass auch auf der landespolitischen Ebene außenpolitische und verteidigungspolitische Erklärungen abgegeben werden. Die CDU-Landesspitzen wollen Landesfürsten werden – und das geht nur mit Wagenknecht, in welcher Form auch immer. Man stelle sich vor, die Union hätte in den 1990er Jahren mit der PDS und Gregor Gysi koaliert, nicht in den Talkshows, sondern im Parlament? Aber es geht jetzt weniger um Personen, als um Strukturen und Inhalte. Und hier besteht ein Dilemma: Es gibt keine Wunschkoalition mehr. Aus politikwissenschaftlicher Politik ist dieser Befund höchst problematisch. Das politische System der Bundesrepublik lebt und zehrt von Koalitionen. Fast nach Gewohnheitsrecht ist man hier Zweierkoalitionen gewohnt. Passé.
Traut sich Merz Leitkultur zu?
Auf dem Spiel steht nicht weniger als die außenpolitische Staatsräson der Bundesrepublik. Wir leben in Zeiten von Clankriminalität, politisch-motivierten Gewalttaten und islamistischem Terrorismus. Entscheidend, so unbequem diese Erkenntnis für manche auch sein mag, ist dabei die Migrationsfrage. Gerade diese will Friedrich Merz aus dem Bundeswahlkampf heraushalten, wann immer dieser auch beginnen mag. Der Unions-Antrag zum Politischen Islam wurde abgeschmettert. Konsistent sind die Positionen der Partei nicht. Im Mai 2024 sprach sich Merz für eine klare Ansage des Staates gegen den Islamismus aus: „Das wollen wir hier nicht. Das ist nicht die Identität der Bundesrepublik Deutschland in ihrer großen Freiheit.“ Islamisten sollten „keine Staatsangehörigkeit bekommen“.
Gleichwohl: Auf die Frage, ob die CDU bei den Reaktionen auf die Kalifat-Demonstration Zurückhaltung übe, sagt Merz: „Wir haben in Deutschland Millionen Muslime, die hier leben und problemlos die Regeln dieses Landes akzeptieren. Die wollen wir nicht verletzen.“ Die CDU muss ihrer Wählerschicht nun auch vermitteln, dass es mit den Postkommunisten „geht“ und die AfD weiter als Dämon gilt und verteufelt wird. Das alles verursacht Kommunikations-, Strategie und Vermittlungsprobleme, egal, wie man zur AfD stehen mag. Für die CDU ist also die Situation nur (etwas) weniger vertrackt als für die „Noch-Ampel-Parteien“. Über den Tellerrand hinausblickend muss es fast traurig stimmen, dass politische Inhalte in Zeiten des Wirtschaftsabschwungs und der Inflation kaum mehr diskutiert werden oder auch nicht mehr durchdringen. Ob Friedrich Merz, der ja Kanzler werden will, sich traut, wie einst einmal eine Leitkulturdebatte zu führen?
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