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Pure Anarchie: EU-Parlament fordert „Recht auf Abtreibung“

Weil das „Recht auf Leben“ das Fundament ist, auf dem alle anderen Rechte fußen, ruft, wer ein „Recht auf Abtreibung“ behauptet, in Wahrheit die Anarchie aus.
Demonstration für Recht auf Abtreibung  in Kalifornien
Foto: Pat Mazzera (SOPA Images via ZUMA Press Wire) | Nicht nur in den USA setzen sich Menschen für ein Recht auf die Tötung ungeborenen Lebens ein.

Manchmal ist es ratsam, sich einfach mal zurückzulehnen. Das entspannt nicht nur, es schafft auch Distanz. Distanz führt, schon rein physisch, zu einer Erweiterung des Sichtfeldes und ermöglicht es so, Beobachtbares aus einer erweiterten Perspektive zu betrachten. Nirgendwo ist ein solches Zurücklehnen derart angebracht wie dort, wo diametral entgegengesetzte Überzeugungen unversöhnlich aufeinanderprallen. Und nirgendwo scheint dies gegenwärtig so ratsam wie dort, wo es um die Frage geht, ob es ein „Recht auf Abtreibung“ gibt. Dass es ein solches gebe, wird nicht nur von einer Mehrheit des Europäischen Parlaments behauptet. In den USA sucht Präsident Joe Biden nach Möglichkeiten, ein solches Recht in einem Bundesgesetz zu verankern. Und Frankreichs Präsident, Emmanuel Macron, will es gar in die Verfassung aufnehmen lassen.

Ein Recht auf etwas zu haben, meint, einen berechtigten Anspruch auf ein Gut oder eine Leistung zu besitzen. Dabei kommt es entscheidend auf das Adjektiv „berechtigt“ an. Denn beanspruchen lässt sich alles und jedes. Angefangen bei kostenloser Logie und Verpflegung, über die Bereitstellung eines Fuhrparks oder eines Privatjets, bis hin zur Herrschaft als König oder Verehrung als Gott.

Das Recht auf Leben

Bei der Prüfung, ob ein erhobener Anspruch zu Recht besteht, lassen sich für gewöhnlich zwei Modi unterscheiden. Der erste betrifft Ansprüche, die erworben werden können, der zweite solche, die Menschen „qua Natur“ zukommen. Unterzeichnet etwa jemand einen Mietvertrag für eine Wohnung oder ein Haus, so erwirbt er, unter der Voraussetzung, dass er selbst nicht vertragsbrüchig wird, nach allgemeinem Dafürhalten damit das Recht auf eine entsprechende Nutzung der Immobilie. Anders verhält es sich beim „Recht auf Leben“. Ein berechtigter Anspruch auf Leben muss und kann nicht erworben werden, sondern kommt nach allgemeinem Dafürhalten jedem Menschen „qua Natur“ zu, eben weil er Mensch ist.

Könnte er erworben werden, stellte sich die Frage: Wodurch? Den Anspruch auf Nutzung einer Immobilie etwa erwirbt, wer den im Mietvertrag vereinbarten Mietzins fristgerecht entrichtet. Vergleichbares ist beim „Recht auf Leben“ undenkbar. Einen Anspruch auf Leben kann schon deshalb niemand erwerben, weil das Leben Voraussetzung dafür ist, dass jemand Rechte haben und Ansprüche erwerben kann. Es ist daher auch ungenau, von einem „Recht auf Leben“ zu sprechen. In Wirklichkeit meint das „Recht auf Leben“, dass Menschen einen berechtigten Anspruch darauf haben, nicht von anderen Menschen getötet zu werden. Ob dieser Anspruch, der Menschen „qua Natur“ zukommt, verwirkt werden kann, ist, wie die Diskussion um die Todesstrafe zeigt, durchaus umstritten. Völlig unbestritten ist jedoch, dass kein Mensch das Recht hat, einen unschuldigen und wehrlosen Menschen zu töten.

Unredliche Entmenschlichung

Nicht einmal die Befürworter eines „Rechts auf Abtreibung“ behaupten, Frauen hätten das Recht, einen Arzt mit der Tötung eines unschuldigen und wehrlosen Menschen zu beauftragen. Sie tun stattdessen so, als wäre das ungeborene Kind im Mutterleib noch kein Mensch. Statt von einem Menschen im Frühstadium seiner Existenz sprechen sie von „menschlichem Leben“ oder einem „Zellhaufen“, als handele es sich dabei um Entitäten, die keine Rechte haben könnten.

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Eine solche „Entmenschlichung“ ist jedoch wissenschaftlich unhaltbar und daher zutiefst unredlich. Nicht nur, weil auch die Existenz der Befürworter eines „Rechts auf Abtreibung“ einmal genauso begonnen hat und ein „Recht auf Abtreibung“ überdies nur der fordern kann, bei dem von diesem kein Gebrauch gemacht wurde. Sondern vor allem, weil bis auf den heutigen Tag noch niemand zu zeigen vermochte, wie und wodurch aus einem „Etwas“ ein „Jemand“ und aus einem „Noch-Nicht-Mensch“ ein „Mensch“ wurde.

Hippokratischer Eid

Warum ist das so? Die Frage ist alles andere als trivial. Schließlich hat es Abtreibungen, genauso wie Mord und Totschlag, immer gegeben. Und offensichtlich haben sich Frauen, die sich mit einem solchen Ansinnen trugen, mit diesem auch früh an Ärzte gewandt. Der griechische Arzt Hippokrates von Kós etwa, der um 460 bis 370 vor Christus lebte, ließ seine Schüler gar einen Eid sprechen. Mit ihm riefen die jungen Ärzte die Heilgötter Appollon, Asklepios, Hygieia und Panakeia an und schworen, sie zu Zeugen nehmend, die von ihrem Lehrer erlernte Kunst ausschließlich zum Erhalt des Lebens einzusetzen. Die in diesem Kontext relevante Passage lautet: „Nie werde ich jemandem, auch auf Verlangen nicht, ein tödlich wirkendes Gift geben und auch keinen Rat dazu erteilen, gleicherweise werde ich keiner Frau ein fruchtabtreibendes Mittel geben.“ Dabei hätten Hippokrates und seine Schüler vor rund 2 400 Jahren vermutlich allen Grund gehabt, in der „Frucht“ vieles, nur eben keinen Menschen zu erblicken. Aber auch sie wussten bereits, dass diese nie eine andere Gestalt ausbildet, als die eines Menschen. Heute wissen wir weit mehr.

Wir wissen, dass während des Befruchtungsvorgangs, der etwa 24 Stunden dauert, aus den mütterlichen und väterlichen Chromosomen ein neuer Chromosomensatz hergestellt wird, der das einmalige, individuelle genetische Entwicklungsprogramm eines neuen und einzigartigen Menschen – einschließlich seines Geschlechts – beinhaltet. Wir wissen, dass die befruchtete Eizelle, obgleich für das bloße Auge noch unsichtbar, schon vor ihrer Einnistung in die Gebärmutter eine ganze Reihe komplexer Vorgänge steuert. Dazu gehören neben der koordinierten Zellteilung und der Zellspezialisierung auch die Wanderung durch den Eilleiter sowie ein Selbstheilungsprogramm, welches der befruchteten Eizelle das Erkennen und Abstoßen sich abnorm entwickelnder Zellen ermöglicht.

Frühe Signale

Wir wissen, dass der neu entstandene winzige Organismus bereits zwischen dem Vier- und Acht-Zellstadium biochemische Signale an den Organismus der Mutter sendet, die den embryo-maternalen Dialog, auch „crosstalk“ genannt, einleiten und zu einer Umstellung des mütterlichen Organismus führen. Lange bevor eine Frau überhaupt weiß, dass sie schwanger ist, sorgen diese Signale dafür, dass sich ihr Organismus umstellt. Auf diese Weise schafft sich die befruchte Eizelle selbst die Voraussetzungen für ihre erfolgreiche Einnistung. Mit ihr verschafft sie sich Zugang zum mütterlichen Gefäßsystem, das ihn für die weitere Entwicklung mit Nährstoffen versorgt. Das erste Organsystem, das der Organismus bildet, ist der aus Herz und Blutgefäßen bestehende Blutkreislauf. Es wird zur Verteilung der Nährstoffe benötigt. Bereits in der 3. Woche nach der Befruchtung besitzt der Embryo ein s-förmiges Herz, dessen Schlagen heute um die 6. Woche nachgewiesen werden kann.

Wir wissen heute, dass parallel dazu die Ausbildung des Zentralnervensystems erfolgt und der Embryo über die Ausbildung der Gliedmaßen, die ab Mitte der 5. Woche sichtbar werden, beginnt, seine Umgebung zu erkunden. Wir wissen, dass in der 7. Woche nach der Befruchtung die Entwicklung des Herzens abgeschlossen ist und das Herz des Kindes mit bis zu 180 Schlägen pro Minute rund doppelt so schnell schlägt wie das seiner Mutter und es mit seinem eigenen „Motor“ die Blutzirkulation vorantreibt. Oft erfährt die Mutter durch Ausbleiben der Regelblutung erst jetzt, dass sie schwanger ist.

Menschen entwickeln sich als Menschen

Kurz: Wir wissen längst, dass Menschen „biologische Wunder“ sind, die sich nicht „zu“, sondern „als“ Menschen entwickeln und die Bezeichnung „Zellhaufen“ eine unzulässige Unterbestimmung eines Wesens darstellt, das jeder im ausgewachsenen Zustand als Mensch bezeichnet. Wir wissen, dass es die „Menschwerdung“ im eigentlichen Sinne in der Geschichte der Menschheit nur ein einziges Mal gab, nämlich als Gott in Jesus Christus Mensch wurde.

Wenn der Mensch einen berechtigten Anspruch darauf besitzt, von anderen Menschen nicht getötet zu werden, und ihm dieser „qua Natur“ zukommt, dann muss dieses Recht auch den unschuldigsten und wehrlosesten Exemplaren der Gattung zukommen. Oder es gilt für niemanden. Alles andere wäre eine beispiellose Diskriminierung. Denn welche Diskriminierung könnte schlimmer und entsetzlicher sein, als von den eigenen Eltern zum Tode verurteilt zu werden?

Tötung eines Wehrlosen

Die Forderung nach einem „Recht auf Abtreibung“ und der Versuch, dieses mit einem „Recht auf Privatheit“ zu begründen, ist daher in Wahrheit der Versuch der Eröffnung beziehungsweise Verteidigung eines rechtsfreien Raumes, in dem Staaten das Gewaltmonopol privatisieren und Ärzte auf Wunsch der Eltern vom Tötungsverbot suspendieren. Im Grunde müssten Ärzte, die sich dafür hergeben, auf der Stelle die Approbation entzogen werden. Denn eine Abtreibung ist die einzige Operation, die statt der Heilung des Patienten die Tötung eines Wehrlosen zum Ziel hat und dabei auch noch die mögliche Traumatisierung seiner Mutter in Kauf nimmt.

Besonders erbärmlich aber ist es, das vermeintliche „Recht auf Abtreibungen“ mit dem „Recht auf körperliche Selbstbestimmung“ begründen zu wollen. Selbstverständlich gibt es ein „Recht auf körperliche Selbstbestimmung“. Nur setzt dieses eben bereits ein, wenn sich ein Paar zum Geschlechtsverkehr entscheidet und nicht erst, wenn ein Schwangerschaftstest positiv ausfällt. Ein „Recht auf Abtreibung“ würde bedeuten, dass der Staat Menschen ermächtigt, die von ihnen gezeugten Kinder als „zu töten“ zu deklarieren, die sie als „unerwünscht“ oder „ungelegen“ betrachten.

Unverantwortbare Tötung

Mit der eigenen Sexualität verantwortungsvoll umzugehen, ist keine leichte Aufgabe und etwas, das erst und oft mühsam erlernt werden muss. Auch dass es Umstände gibt, unter denen die Zeugung eines Kindes unverantwortlich zu sein scheint, lässt sich nicht bestreiten. Und es ist nicht schwer zu verstehen, dass Menschen dies in solchen Fällen gerne „korrigieren“ würden. Aber die vorgeburtliche Tötung eines Kindes ist nicht die Korrektur einer unverantwortlichen Tat, sondern die Hinzufügung einer noch unverantwortlicheren. Denn die Tötung eines wehrlosen und unschuldigen Menschen lässt sich niemals und von niemandem verantworten.

Gott vermag auch das Unverantwortbare (im Grunde ist jede Sünde unverantwortbar) zu verzeihen. Dies auch noch gern zu tun, gehört gewissermaßen zu seinem Kerngeschäft. Der Staat aber, zu dessen Kerngeschäft die Wahrung der äußeren und inneren Sicherheit gehört, muss Menschen davor schützen, von ihresgleichen getötet zu werden. Tut er es nicht, versagt er auf ganzer Linie. Die Tötung eines Exemplars der Spezies Mensch im Mutterleib ist auch keine private Angelegenheit, sondern eine ganz und gar öffentliche. Denn wer einen unschuldigen und wehrlosen Menschen tötet, tötet auf symbolische Weise auch alle anderen. Ein Mensch, der meint, entscheiden zu dürfen, ob ein anderer weiterleben darf, bestreitet nämlich die Unverfügbarkeit des Lebens an sich und erklärt damit zugleich auch das Leben aller anderen für antastbar. Und weil das Recht, nicht getötet zu werden, das Fundament ist, auf dem alle anderen Rechte fußen, ruft, wer ein „Recht auf Abtreibung“ deklamiert, in Wahrheit die Anarchie aus.

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