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Abtreibungsüberlebende: Vom Dunkel ins Licht

Wie ist es mit dem Wissen zu leben, dass man nie hätte überleben sollen? Eine Reise durch das Leben einer Abtreibungsüberlebenden.
"Abtreibung? Nein Danke!", so protestieren Menschen In Deutschland gegen die Abtreibungspraxis.
Foto: Tobias Hase (dpa) | "Abtreibung? Nein Danke!", so protestieren Menschen In Deutschland gegen die Abtreibungspraxis.

Ruhig liegt die Havel im Kanalbecken, ein gelber Pollenfilm hat sich darauf gebildet, der angrenzende Schleusenturm spiegelt sich auf der glatten Oberfläche. Früher wurde das Wasser durch das Wehr der Schleuse gezogen, nichts, was der Strom mit sich brachte, blieb ganz, alles wurde in Stücke gerissen. Andrea Müller lehnt an dem Gitterzaun, der die Promenade vom Wasser trennt. Nachdenklich schaut sie auf das still liegende Gewässer. Als Teenager stand sie jede Woche hier, überlegte sich hineinzuspringen. Wie es wohl wäre, wie die Äste, die das Wasser mit sich trug, durch das Getriebe gepeitscht zu werden? Ob ihre Eltern sie vermissen würden? Wie sie reagieren würden? Ob sie ihre Fehler bereuen würden? Doch etwas hielt sie immer zurück.

Schon einmal entkam Andrea Müller nur knapp dem Tod: Sie hätte abgetrieben werden sollen. Sie hat überlebt, ihre Zwillingsschwester nicht.

Andrea Müller
Foto: Veronika Wetzel/Mainpost | Andrea Müller entkam nur knapp dem Tod: Sie hätte abgetrieben werden sollen. Heute berät sie schwangere Frauen in Konfliktsituationen.

Nur ein Zwilling abgetrieben

März 1975. Ihre Mutter schlägt tränenüberströmt in der Wohnung ihrer Schwägerin auf. Sie ist wieder schwanger. Sie hat bereits eine Tochter und einen Sohn, um die sie sich neben dem landwirtschaftlichen Betrieb kümmern muss, unter der Woche soll sie künftig die Fleischprodukte in einem Kühlwagen auf dem Markt verkaufen. Sie weiß nicht, wie sie dort das Kind beaufsichtigen sollte, sie weiß nicht, wie sie das zusätzlich zu allem anderen stemmen soll. Ob sie abtreiben sollte? Auch vor ihrer Ehe hatte sie schon eine Abtreibung, der Gedanke scheint also naheliegend. Ihre Schwägerin, die sich kürzlich bekehrt hat, rät ihr davon ab. Sie tut es trotzdem, lässt in einem privaten Raum illegal das Kind von einem Arzt ausschaben.

Doch etwas stimmt nicht – auch nach der Abtreibung bleibt ihre Periode aus, ihr Bauch schwillt immer weiter an, sie hat Heißhungerattacken. Erneut geht sie zum Arzt, der feststellt, dass sie wohl mit Zwillingen schwanger war und er nur eines der beiden Kinder aus dem Mutterleib entfernt hatte. Da es noch keinen Ultraschall gibt, wusste weder der Arzt noch die Mutter, dass die Frau mit Zwillingen schwanger war. Für sie ist die Feststellung, dass sie doch noch schwanger ist, ein Weltuntergang, in ihrer Verzweiflung schreit sie zu Gott: „Wenn es dich gibt, dann vergib mir meine Schuld und lass dieses Kind gesund zur Welt kommen. Ich werde nichts mehr unternehmen, aber bitte lass dieses Kind gesund sein!“

Du bist nicht allein

Mai 2022, Berlin-Spandau. Wir treffen uns in einer hellen Wohnung, die Möbel sind alle in cremefarbenen Tönen gestrichen, weiche Teppiche und warme Wandfarben lassen die Räume ein Gefühl von Geborgenheit und Gemütlichkeit vermitteln. Hier befindet sich die Schwangerenkonfliktberatungsstelle „Schwanger – du bist nicht allein e.V.“ der Abtreibungsüberlebenden. Seit 2015 arbeitet sie als Schwangerenkonfliktberaterin, 2017 gründete sie den Verein. Obwohl sie in ihrer Arbeit täglich mit ihrem eigenen Schicksal konfrontiert wird, verspürt sie weder Zorn gegenüber den Frauen noch eigenen Schmerz.

„Ich kann mich in die Not der Frauen hineinversetzen, weil sie nicht immer mit der reinen Intention hierherkommen, abzutreiben.“ Ihre Motivation ist aber nicht, die Schuld ihrer Mutter zu begleichen oder das Leben aller ungeborener Kinder zu retten, sondern den Frauen zu helfen zu erkennen, warum sie ihre Schwangerschaft als konflikthaft empfinden. „Finanzielle und familiäre Nöte oder Probleme mit dem Partner sind eigentlich oft nur die Spitze des Eisbergs. Im Grunde fühlen die Frauen sich selbst nicht angenommen und geliebt und können daher ihre Kinder nicht annehmen. Wenn man aber eigene Verletzungen mit ihnen aufarbeitet, dann können sich die meisten Frauen ihrem Kind zuwenden und sich für es entscheiden. Und dieser Moment ist himmlisch.“

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Ein Schulgebäude mit bunt umrahmten Fenstern ragt in den blauen Berliner Nachmittagshimmel. Im Vorgarten stehen bunte Blumenkästen auf der Wiese, ein großflächiger Innenhof bietet den Kindern Platz zum Spielen. Eigentlich wirkt der Ort freundlich, Andrea Müller erinnert er aber an dunkle Zeiten: In der Grundschule wird sie gemobbt, ausgeschlossen, gewalttätig behandelt. Ihre Unsicherheit, die aus dem grundsätzlichen Gefühl der Ablehnung resultiert, macht sie zu einem leichten Opfer.

An den Haaren gezogen werden, eine blutige Nase geschlagen bekommen, gestoßen werden ist für sie Alltag. Schon ihr ganzes Leben lang fühlt sich Andrea Müller abgelehnt. Einerseits weil sie von ihrer Mutter als Anhängsel behandelt wird – es wird kaum nach ihr geschaut, oft spielt sie stundenlang allein. Andererseits weil eine innere Stimme ihr immer wieder sagt „Du bist nicht erwünscht“: „Ich habe mich immer wie ein ungebetener Gast auf einer Party gefühlt, selbst wenn mir gesagt wurde, dass es schön ist, dass ich da bin. Ich hatte bis zu meinem 30. Lebensjahr das Gefühl, niemand zu sein, nichts wert zu sein. Diese Unsicherheit haben auch andere gespürt.“ Dieses Gefühl spiegelt sich auch in ihrer Gesundheit wider: Von Kindheit an plagen sie Kopfschmerzen, Magenkrämpfe, Neurodermitis.

Als ihre Mutter der sechsjährigen Andrea Müller die Haare kämmt, sagt die Tochter plötzlich: „Wäre es nicht schön, ein Zwilling zu sein?“ Ihre Mutter hält inne: „Wie kommst du denn jetzt darauf?“

Die imaginäre Schwester

Der Gedanke lässt das Mädchen nicht mehr los, über ein halbes Jahr äußert sie täglich den Wunsch, ihre Mutter geht nie darauf ein. Irgendwann beschließt Andrea Müller für sich, dass sie sich nicht wünschen muss, eine Schwester zu haben, sondern dass sie eine hat. Sie ist nun ihre beste Freundin, mit ihrer imaginären Schwester spielt sie stundenlang. Das Gefühl, eine Schwester zu haben, hält an. Mit 13 Jahren bittet sie eine Seelsorgerin aus ihrer freikirchlichen Gemeinde, ihr bei der Aufklärung zu helfen. Sie findet heraus, dass Andrea Müller eine abgetriebene Zwillingsschwester hat, aber sagt es ihr nicht, denn: Der Teenager hat den Gipfel von Magersucht erreicht. Mit 1,75 Meter wiegt sie nur noch 46 Kilo, sie nimmt unzählige Tabletten, um immer noch dünner zu werden, isst nur ein Ei am Tag.

Der Arzt offenbart ihr, dass sie keine Kinder bekommen könne, wenn sie nicht bald wieder zunimmt, da sie extrem unterentwickelt ist. Eine Alptraumbotschaft für die junge Frau, die Kinder liebt und eine viel gefragte Babysitterin ist. Sie gilt als höchst suizidgefährdet, man befürchtet, dass diese Nachricht ihr die letzte Lebenskraft rauben würde. Sie fragt sich selbst: „Ich will doch eigentlich leben, warum ist in mir immer unterschwellig der Wunsch zu sterben?“ Verzweifelt geht sie zu ihrer Tante, schlägt in der gleichen Wohnung auf wie ihre Mutter vor über 14 Jahren. Genauso wie ihrer Mutter macht sie Andrea Müller Mut und betet für sie. Ab da geht es bergauf, die junge Frau nimmt langsam wieder ein gesundes Gewicht an.

Ein Kreuz hängt über einer gläsernen Eingangstür, das Gebäude wirkt unscheinbar – nicht wie eine Kirche. Nur in das Eingangstor eingefasste metallene Fische und ein gelbes Plakat, das an der grauen schlichten Hauswand hängt und groß verkündet „Jesus spricht: Ich lebe und ihr sollt auch leben“, verraten, dass es sich um eine Kirche handelt. Mit sieben Jahren entscheidet sich Andrea Müller hier dafür, Jesus als Freund anzunehmen. Die Kirche wird ihr Zufluchtsort, hier findet sie Hoffnung. Trotz all der Krisen in ihrem Leben ist sie sich heute sicher, dass ihre Beziehung zu Gott sie vor Schlimmerem bewahrt hat, dass sie ohne ihren Glauben heute nicht mehr leben würde. „Der Glaube hat mir bewusst gemacht, dass ich gewollt bin, dass es jemanden gibt, der mich absolut liebt mit all meinen Fehlern. Gott hat mich immer wieder auf die richtige Bahn gelenkt.“

Ich bin es wert, geliebt zu werden

Mit 15 Jahren betet sie in einem Gottesdienst gegen die Einführung des Paragraphen 218, der regeln soll, dass Abtreibung nach einer Beratung und Bedenkzeit straffrei wird. Auf dem Heimweg sagt sie im Auto zu ihrer Mutter: „Ich liebe Kinder, das weißt du. Ich würde am liebsten alle Frauen, die abtreiben, an die Wand stellen und abknallen.“ Ihre Mutter fährt rechts ran, schaltet den Motor ab und antwortet: „Dann müsstest du auch mich erschießen.“ Erstaunt fragt Andrea Müller „Warum?“ aber sie hat bereits eine Vorahnung. Ihr Mutter antwortet: „Ich war auch in der Situation: Ich wollte dich abtreiben lassen und du wärst eigentlich ein Zwilling.“ Stille. Für Andrea Müller ist es Schock und Bestätigung ihrer Intuition zugleich.

Ein neues Ringen setzt ein: Sie will ihrer Mutter vergeben, zugleich staut sich innere Wut auf, weil sie von ihrem Umfeld in erster Linie gefragt wird, ob sie ihrer Mutter vergeben konnte, nicht aber, wie für sie das Wissen um die überlebte Abtreibung ist: „Ich wurde nie gefragt, wie es mir damit geht. Nur weil man um die Geschichte weiß, heißt das ja noch nicht, dass das damit verbundene Leid aufhört.“ Sie sucht Mitleid bei ihrer Mutter, doch auch sie fordert stattdessen Verständnis von ihrer Tochter. Die Reaktion: Andrea Müller verfällt in Perfektionismus, um ihrer Mutter zu zeigen: Ich bin doch eine tolle Tochter. Ich bin es doch wert, geliebt zu sein.

Das Trauma kommt zurück

Mit 30 Jahren kocht das Trauma wieder hoch: Ihre Ehe steht kurz vor dem Aus. Erneut das Gefühl: Endstation. Wieder das Gefühl, das Leben nicht zu schaffen, nichts zu taugen, nicht einmal lieben zu können. Und damit das tiefe Gefühl der Einsamkeit und Trauer über das, was ihr genommen wurde: Hätte sie jetzt eine Zwillingsschwester, könnte sie mit ihr reden. Sieben Jahre braucht sie,

bis die Wunden endgültig heilen. Das Gebet, Bibellesen und eine Bekehrungserfahrung holen sie aus der Dunkelheit heraus. Aus der Bekehrung wird eine Liebesbeziehung zu Gott, die auch die Beziehung zu ihrem Mann heilt. „Mein Mann und ich leben jetzt Beziehung, weil ich weiß, ich bin gut so wie ich bin. Ich muss nicht mehr ständig von ihm Bestätigung bekommen.“ Endlich kehrt Lebensfreude ein.

Nachdenklich schaut sie auf das still liegende Gewässer, ihre Silhouette spiegelt sich darin. An die Stelle des in Schwarz gekleideten Teenagers ist eine glückliche Frau in weißer Bluse mit ordentlich frisiertem Haar getreten, deren Augen funkeln, wenn sie spricht. An die Stelle der inneren Unruhe ist Frieden getreten. „Im Nachhinein bin ich Gott für mein ganzes Leben nur dankbar. Auch für das Abtreibungserleben, denn ich glaube nicht, dass ich meinen Dienst so ausüben könnte, wenn ich nicht diese Lebensgeschichte hätte. Er hat mein Leben wiederhergestellt.“ Und lächelnd: „Es ist ein Unterschied wie Tag und Nacht.“

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Veronika Wetzel Abtreibung Schwangerschaftsabbruch

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