Digitalisierung

Entschleunigt Euch!

Durch den stark wachsenden Einsatz von Computer-Technologien wird unser ganzes Leben in vieler Hinsicht immer temporeicher. Doch der Mensch verträgt nur jenes Maß an digitaler Beschleunigung, das es ihm noch erlaubt, sein Menschsein zu wahren.
Schnelles Internet schreit nach Entschleunigung.
| Schnelles Internet schreit nach Entschleunigung.

Allenthalben eilt es. In unserer so fortschrittlichen Kultur sind die meisten Menschen Gejagte. Namentlich die digitale Transformation steht im Zeichen rasant wachsender Beschleunigung. Der forcierte Ausbau modernster Technologie wird so betrieben, als handele man entsprechend einem auf Beschleunigung ausgelegten Naturgesetz. Schon greift dieses scheinbare Naturgesetz auf die Natur über: „Wenn wir die Digitalisierung unverändert fortsetzen, wird sie zum Brandbeschleuniger für die ökologischen und sozialen Krisen unseres Planeten“ – so die einstige Bundesumweltministerin Svenja Schulze. Längst betroffen ist namentlich die menschliche Natur, der die zunehmende Hetze nicht wirklich gut tut. Zwar kann wachsende Schnelligkeit kann ein Überlebensvorteil und ein Gewinn für Individuen und die Kulturgestaltung sein. Aber je temporeicher sich alles gestaltet, desto mehr zeigt sich, dass die immer ausgezeichneteren Maschinenleistungen dem Wesen des Menschen keineswegs in jeder Hinsicht entgegenkommen.

Die digitale Revolution hat keineswegs als plötzlicher Umsturz stattgefunden; insofern ist der Begriff der Revolution eigentlich unangebracht. Sie fing vielmehr klein an, um sich mit der Zeit wie ein Pilz als „stille Revolution“ und „Transformation“ immer schneller auszubreiten. Ihre Geschwindigkeit steigt inzwischen exponentiell an. Und das hat Folgen: Sie stürzt in ihrem Fortgang Machtverhältnisse um und fördert in zunehmendem Tempo die Entwicklung einer regelrechten Technokratie – in China, den USA und schließlich auch in Europa.

Luxus daheim

Das zeigt sich auf vielen Gebieten; hier nur ein Beispiel aus dem Alltag: das sogenannte smart home. Mit zahlreichen digitalen Arrangements zielt es darauf, nicht etwa notwendige Übel der häuslichen Existenz zu beseitigen, sondern diese luxuriös auszugestalten – so dass man mitunter schon fast ein Stück wiederhergestelltes Paradies zu erleben meinen könnte. Die Grundidee des in sich und nach außen vernetztem Heim besteht darin, allerlei Geräte mittels Sensoren, Funk und passender Hardware aufeinander abzustimmen. Marcus Rohwetter bemerkt exemplarisch zum internetfähigen Kühlschrank: „Das Problem ist – wie bei den meisten Utopien – die Realität: Wer will immer nur dasselbe Zeug im Kühlschrank vorfinden? Und weiter: Ist es sinnvoll, wenn vom Kühlschrank eigenmächtig bestellte Joghurt, Milchtüten und Weichkäse an der Haustür in der prallen Sonne gammeln, weil der Lieferant leider keinen menschlichen Hausbewohner angetroffen hat? Denn noch macht der Kühlschrank die Haustür nicht auf.“

Im digitalen Hamsterrad

Entgegen der laufenden Werbung wird das Leben auf diese Weise eben kaum stressfreier, im Gegenteil. Gerald Lembke, Professor und Autor des Buches „Im digitalen Hamsterrad“ (2016), warnt vor einem drohenden Kollaps, wenn das „Internet der Dinge“ tatsächlich Realität wird: Dann wäre ein „Abschalten“ immer weniger möglich, schon weil die vielen digitalen Transaktionen ja ständig überwacht werden müssten. Wie der Hirnforscher Manfred Spitzer in seinem Bestseller „Digitale Demenz“ schon vor einem Jahrzehnt unterstrichen hat, dürften all die digital erzeugten Bequemlichkeiten und Zeiteinsparungen auf die Dauer keineswegs zu mehr geistiger und körperlicher Fitness führen; vielmehr schließt der digital provozierte Umbau im Gehirn „immer häufiger Gedächtnis-, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen sowie emotionale Verflachung und allgemeine Abstumpfung“ ein. Indem digitale Medien beschleunigt eine Vielzahl von Entscheidungen bei Menschen unter enormem Dringlichkeitsdiktat fordern, wird verhaltenspsychologisch eine Herrschaft der „Bauchgefühle“ erzwungen, so „dass man im digitalen Zeitalter zu sehr auf reflexhaftes intuitives Entscheiden hin konditioniert wird. Und diese Art des Entscheidens überträgt sich auf das analoge Leben – das überlegte Entscheiden kommt abhanden.“ Solch bedauernswerter Abstumpfungsprozess, ja Reflexionsschwund zeigt sich nicht zuletzt gegenüber dem Umstand, dass das Internet der Dinge die Transparenzgesellschaft vollendet, die sich immer weniger von einer – merkwürdig bereitwillig tolerierten – Überwachungsgesellschaft unterscheidet.

Stress- und Burn-out

Längst stellt die stete Zunahme von Stress- und Burn-out-Opfern in unserer Gesellschaft keine überraschende Diagnose mehr dar. Dabei häuft sich in Deutschland die ursächliche Hetze in besonderem Maße, wie der Psychologe Robert Levine auf der Basis eines weltweiten Vergleichs über den kulturellen Umgang mit der Zeit herausgefunden hat: Unser so fortschrittsfreundliches Land gehört zu den am meisten gehetzten Nationen auf Erden. Dabei hat Carola Feddersen recht, wenn sie betont: „Die immense Beschleunigung unserer Tage ist in erster Linie auf die Digitalisierung zurückzuführen.“

Die temporeiche High-Tech-Entwicklung verändert unter der Hand das bisherige, mehr oder weniger humanistisch geprägte Menschen- und Weltbild hierzulande – einschließlich der damit zusammenhängenden Werte – in Richtung Transhumanismus. Orientiert sich der digitale Umsturz unserer Kultur nicht bereits an einem Mischwesen, nämlich dem mit digitalen Maschinen verschmolzenen, immer tempofähigeren Cyborg? In einer schier unaufhörlichen Spirale produziert der Markt selbst immer schnellere Technologien. Der Takt muss sich ständig erhöhen. Doch wie viel digitale Beschleunigung verträgt der Mensch? Jedenfalls eine ganze Menge, könnte man meinen, wenn man auf all die begeisterten jugendlichen und immer öfter auch älteren User digitaler Geräte schaut. Bekanntlich hat sich dank moderner Technik unser Fortbewegungstempo seit hundert Jahren deutlich erhöht – vom Fahrrad übers Auto hin zum Flugzeug, ja zu Raketenflügen! Und unser Kommunikationstempo hat sich durch die digitale Transformation sogar vertausendfacht. Dennoch ist dem emeritierten Papst Benedikt XVI. zuzustimmen: „Je schneller wir uns bewegen können, je zeitsparender unsere Geräte werden, desto weniger Zeit haben wir.“

Unser Leben wird temporeicher

Im Kern bedeutet Digitalisierung den Transfer von Informations- und Qualitätsdaten in schnellstens verrechenbare Zahlenfolgen von lauter Einsen und Nullen. Durch den stark wachsenden Einsatz von Computer-Technologien wird unser ganzes Leben in vieler Hinsicht immer temporeicher. Denn die exponentiell wachsende Beschleunigung reißt auch nichttechnische Bereiche in ihren Strudel mit hinein. Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung hielt bereits vor zehn Jahren fest, dass sich insgesamt „Politik und Gesellschaft vom Tempo des technischen Fortschritts überrumpelt sehen.“ Die Beschleunigungsgesellschaft wird ihrer selbst nicht mehr Herr.

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Die Folgen treffen jeden Einzelnen. Mit dem Soziologen Hartmut Rosa formuliert: Wenn alles beschleunigt ist, kann das Individuum nicht langsamer laufen. Oder in den Worten Ulrich Schnabels: „Auf dem rasant dahinströmenden Fluss der Beschleunigung sitzen wir alle im selben Boot.“ Doch wie bekommt den Menschen das auf die Dauer? Diese Frage stellt sich aus gegenläufigem Interesse. Die einen wollen auf Biegen und Brechen wissen, wie hoch sich das Tempo treiben lässt. Die anderen fühlen sich von der digitalen Hetze beschädigt und überlegen, wie man einer individuellen und kulturellen Entschleunigung nähertreten könnte.

Viele bleiben Gejagte bis in die Träume hinein

Weil in der Folge Burn-out-Fälle und Depressionen bereits erschreckende Ausmaße angenommen haben, setzen sich manche Politiker und Konzernvorstände mittlerweile dafür ein, etwa die digitale Erreichbarkeit außerhalb beruflicher Dienstzeiten zu begrenzen. Aber wie steht es um die Verführungsmacht der digitalen Technologien gerade auch in der Freizeit? Die digitale Technokratie kennt kaum noch (uhr-)zeitliche oder räumliche Grenzen. Viele bleiben Gejagte bis in ihre Träume hinein – bis dann die digitale watch sie pünktlichst weckt. Zahlreiche Zeitgenossen suchen mittlerweile dem digitalen Beschleunigungsdruck sogar per Multitasking zu entsprechen: Indem sie mehrere Dinge gleichzeitig erledigen, tun sie allerdings ihrem Gehirn kaum Gutes. Forschungsergebnisse der University of Sussex haben untermauert: Durch Multitasking wird beim Umschalten zwischen verschiedenen Objekten jener Teil des Gehirns in Mitleidenschaft gezogen, der für kognitive und emotionale Steuerungsfunktionen verantwortlich ist. Das passt zu den Thesen von Technik-Philosophen, wonach bei intensivem Umgang mit digitaler Technologie ein Schrumpfen menschlicher Empathie droht. Hat nicht vielleicht der traurige Umstand, dass jetzt nach vielen Jahrzehnten in Europa wieder Krieg herrscht, auch mit der gesunkenen Empathie in der zunehmend digital geprägten Kultur zu tun?

Digitale Beschleunigung schadet

Digitale Beschleunigung schadet nicht nur dem Menschen, sondern auch der Menschlichkeit. So unterstreicht Fritz Reiheis, die ökonomisch erzeugte Beschleunigungslogik ziele „auf nichts Geringeres als die Eliminierung des Menschen.“ Der Umstand, dass hierzu auch die Logik digital beschleunigter und präzisierter Waffen zählt, passt in dieses düstere Gesamt-Szenario. Der Mensch verträgt bestenfalls jenes Maß an digitaler Beschleunigung, das es ihm noch erlaubt, sein Menschsein zu wahren.

Es kann nicht darum gehen, die Digitalisierung pauschal zu widerrufen, aber sehr wohl darum, dass ihre Resultate und Pläne am Maßstab des Menschlichen überprüft und korrigiert werden. Bereits politisch Eingespurtes gehört in diesem Sinne dringend evaluiert. Was nützt etwa eine vielleicht doch noch einigermaßen gelingende Beherrschung des Klimawandels, wenn der Mensch sich selbst und sein Lebenstempo nicht mehr zu beherrschen vermag? Entschleunigung ist dringend angesagt – kulturell, individuell und nicht nur im Urlaub.

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