„Wikipedia ist ein Projekt zum Aufbau einer Enzyklopädie aus freien Inhalten“, heißt es auf der Hauptseite der „freien“ Internet-Enzyklopädie. Beitragen dazu kann im Prinzip jeder. Selbstverständlich gelten gewisse Regeln für die Abfassung eines Wikipedia-Artikels. Unter den „Grundprinzipien“ ist beispielsweise die Rede von der „Neutralität“: „Mittels eines neutralen Standpunktes versucht man, eine Thematik so zu präsentieren, dass sowohl deren Gegner als auch deren Befürworter die Darstellung tolerieren können.“ Weil aber die Akzeptanz aller kaum zu erreichen sei, „sollte das Ziel darin bestehen, eine für alle rational denkenden Beteiligten tolerable Beschreibung zu formulieren.“
Was zu einer „tolerablen“ Formulierung gehört, schildern die Wikipedia-Grundsätze zwar nicht. Wie es zu einer für die (ehemals) freie Enzyklopädie „intolerablen“, also zu einer nicht hinnehmbaren, unzumutbaren Äußerung kommen kann, zeigt nun ein Beispiel im Zusammenhang mit der Homo-„Ehe“.
Ein „Freiwilliger“, der für Wikipedia Artikel verfasst, darf nun auf seiner sogenannten „Userbox“ (der Profilseite, wo er sich selbst, seine Vorlieben und seine Überzeugungen vorstellt) nicht mehr den Satz schreiben: „Dieser Benutzer glaubt, dass die Ehe zwischen einem Mann und einer Frau besteht“. Laut der US-amerikanischen Nachrichten- und Meinungsplattform „Breitbart“ ging dem Verbot eine Diskussion voraus, „an der sich überwiegend linke Redakteure beteiligten“. Sie meinten, eine „solche Haltung“ sei „diskriminierend“; sie verletze die „Wikipedia-Politik“.
„LGBTQ-Wikipedianer sind willkommen,
christliche Wikipedianer aber nicht.“
In der Diskussion wurde argumentiert, solche „Userboxen“ könnten schwule Redakteure davon abhalten, an Wikipedia mitzuarbeiten, denn sie seien eine „feindselige Umgebung“ für solche Autoren. Eine Administratorin schrieb gar: „Wir haben uns für eine Seite entschieden, nämlich dass LGBTQ-Wikipedianer hier willkommen sind.“
Eine solche Entscheidung wurde gefällt, nachdem bereits im Mai Wikipedia-Mitbegründer Larry Sanger erklärt hatte, der sogenannte „NPOV“ („neutral point of view“, der neutrale Blickwinkel) bei Wikipedia sei „tot“. Dazu führte er aus: „Die nun geltende Wikipedia-Politik unterstützt die Idee, dass Journalisten das vermeiden sollen, was sie ,falsches Gleichgewicht‘ nennen. Aber gerade der Gedanke, dass wir ein ,falsches Gleichgewicht‘ vermeiden sollten, steht in direktem Widerspruch zur ursprünglichen Neutralitätspolitik von Wikipedia.“
Es fehlt eine stringente Logik
Als Beispiel nannte Sanger den Artikel „Jesus“ (in der US-amerikanischen Wikipedia): Darin werde behauptet, dass „die Evangelien weder unabhängige noch konsistente Aufzeichnungen über das Leben Jesu“ seien. Der Artikel könnte zwar durchaus als „liberale“ akademische Diskussion bezeichnet werden. Weil er aber „die traditionellen oder orthodoxen Ansichten zu diesen Themen“, die für „sehr viele Christen“ entscheidend seien, außer acht lasse, sei ein solcher Artikel „nicht neutral, nicht in dem ursprünglichen Sinn, den wir für Wikipedia definiert haben.“
Die beiden Beispiele zeigen: Wikipedia meint, es sei für Christen nicht diskriminierend zu behaupten, die Evangelien gäben nicht den historischen Jesus wieder. Die Meinung zu äußern, eine Ehe sei eine Verbindung zwischen einem Mann und eine Frau, stelle indes eine nicht hinnehmbare, unzumutbare Diskriminierung dar. Mit anderen Worten: LGBTQ-Wikipedianer sind willkommen, christliche Wikipedianer aber nicht. Wenn das kein dicker Hund ist.
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