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Kirchliches Liedgut bietet heilende Klänge

Musik tut gut. Gerade in Krisen-Zeiten kann sie beruhigen. Sehr zu empfehlen ist Musik der Hildegard von Bingen. Ihre Musik hat nicht nur, ähnlich wie der Gregorianische Choral, eine beruhigende Wirkung, sie richtet zugleich auf das lebendige Licht aus, 
Chorfestival "Pueri Cantores"
Foto: David Ebener (DPA) | Engelsgleicher Gesang: Ob diesen Regensburger Domspatzen bewusst war, dass ihrer Musik heilende Wirkung zugeschrieben wird?

Das Hören ist der "Amplexus" unter den Sinnen: Denn die Fähigkeit, auf die Klänge zu lauschen, die uns wie eine Umarmung umfangen, ist der erste und letzte Sinn im menschlichen Leben. Klänge umgeben uns nicht nur, sie dringen auch tief in uns ein. Diese Eindringlichkeit betrifft dabei sowohl unseren Leib als auch Geist und Seele. Töne wirken wandelnd, weil sie uns durchschwingen. In einem Bild erklärt: Wenn man eine Platte, die mit Sandkörnern bestreut ist, mit einem Bogen streicht, bilden die Körner ein Muster.

Schwingung verändert nicht nur die geistige, sondern auch die physische Wirklichkeit. Diese Performanz ist die Basis jeder Musiktherapie aber auch jeder persönlichen Erfahrung mit Werken der Tonkunst. Wer in die Welt der Klänge eintaucht muss, sich allerdings bewusst sein, dass deren Wirkungen, ganz ähnlich wie die der geistigen Welt, von unterschiedlicher Qualität sind. Es ist also nicht egal, ob ich mich Rockmusik, Techno oder dissonanten Klängen aussetze oder dem Gregorianischen Choral, den Gesängen Hildegards oder den Kompositionen Wolfgang Amadeus Mozarts lausche. 

„Eine gewisse Fremdheit kann wirksam zur Anziehungskraft beitragen, weil sie deutlich macht:
Hier geht es nicht um eine Zementierung des alltäglichen Lebens,
hier tritt der Mensch in eine über ihn hinaus auf das Ewige,
auf den Ewigen deutende Wirklichkeit ein“

Letztere haben ebenso eine wissenschaftlich messbare heilende Wirkung wie erstere sich negativ auf unsere neuronalen Netzwerke, unsere Stimmung und sogar unsere Herzfrequenz oder unseren Blutdruck auswirken. Musiktherapeuten arbeiten deshalb bewusst mit solchen Klangwelten, die einen heilenden Raum schaffen, in dem Leib und Seele sich auf ihren ganz heilen Ursprung zurückbesinnen und sich in diese uns von Gott geschenkte Lebenswirklichkeit einschwingen können.

Der Grund für die besondere Wirkung mancher Kompositionen ist kein Geheimnis. Erkennen kann man dies am besten am Beispiel der Gesänge Hildegard von Bingens. Sie sind das Ergebnis der Suche und des Findens der Stimme des lebendigen Geistes. Und sie sind Teil des bei Hildegard nicht nur visionären, sondern auch auditiven Erlebens, das ihr in der Schau einen Eindruck von der funkelnden und tönenden Wirklichkeit der himmlischen Welt vermittelt hat. Ihre Gesänge sind   und dies ist Teil des Geheimnisses ihrer Performanz   ein Widerhall des tönenden Lobpreises der Chöre der Engel, in die einzustimmen wir Menschen berufen sind. Die Geschichte, die dahintersteckt, erzählt von Luzifer, dem Leiter eines der Engelchöre, der – strahlend vom Widerschein des göttlichen Lichtes –dem Irrtum verfiel, dieses Leuchten käme aus ihm selbst und sich deshalb von Gott abwandte.

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Wir Menschen sollen den gefallen Engelchor ersetzen

Genau in diesem Augenblick verlor er die schwebende Leichtigkeit des Seins und stürzte, wie Hildegard in einem aussagekräftigen Bild beschreibt, wie ein Klumpen Blei in die Hölle und alle Engel, die, ihm nachfolgend, dem gleichen Irrtum verfielen, mit ihm. Die Folge dieses Engelssturzes ist eine zweifache. Zum einen müssen wir seitdem sowohl mit den lichten als auch mit den dunklen geistigen Kräften rechnen, zum anderen wurde uns Menschen die Berufung zuteil, jenen vakant gewordenen Engelchor zu ersetzen. Damit dies gelingt, müssen wir uns auf die Suche jener ganz heilen Stimme machen, die uns von Geburt an geschenkt ist. Dabei ist nicht die von Luciano Pavarotti, Cecilia Bartoli oder Anna Netrebko gemeint, sondern unsere ureigenste Seelenstimme.

Dass sie nicht im Sinne des klassischen Gesangs schön sein muss, um authentisch zu klingen und zu berühren, kann man an Herbert Grönemeyer hören, der mit seiner Stimme ein Millionenpublikum erreicht. Apropos klassisch: Ob eine Stimme ankommt, hängt nicht von einer professionellen Gesangsausbildung ab. Exzellente Professoren und Sänger wie Andreas Scholl sagen klar, dass es bei der Formung einer Stimme vor allem darauf ankommt, die eigene Persönlichkeit in Schwingung zu versetzen und zum Klingen zu bringen. Wenn dies gelingt, wirkt auch eine Stimme, die technisch nicht perfekt ist, bewegend, wohingegen eine ausgebildete Stimme, die nicht mehr als eine Kopie ist, niemals die Wirkung eines guten Originals erzielen wird.

Ausrichtung auf das lebendige Licht

Ob Musik auf uns heilend wirkt, hängt neben der eingesetzten Musik, die objektiv gut und heilsam sein muss, auch von unserer eigenen Resonanzfähigkeit ab. Man kann deshalb Musik nicht verschreiben wie eine Pille. Was dem einen nützt, kann bei dem anderen vollkommen wirkungslos sein. Jenseits der objektiv messbaren Wirkungen, auf deren Grundlage beispielsweise die Tomatis-Therapeuten mit dem  Gregorianischen Choraloder der Musik von Wolfgang Amadeus Mozart aufgrund deren zentrierender, die Aufmerksamkeit fokussierender und sie so steigernden Effekte arbeiten, ist die Frage, von welchen Klangwelten wir erreicht werden, immer auch eine zutiefst persönliche Angelegenheit. Zugleich gilt in Zeiten wie der unseren, in denen so vieles durcheinandergeworfen wird, dass alles, was konzentrierend wird, besonders empfehlenswert ist.

Mit Hildegard von Bingen ist man da auf der sicheren Seite. Denn ihre Musik hat nicht nur, ähnlich wie der Gregorianische Choral, eine beruhigende Wirkung, sie richtet denjenigen, der sie hört, zugleich auf jenes lebendige Licht aus, von dem Hildegard all ihre Kraft empfing. Dies wird schon in der Grundbewegung ihrer Gesänge deutlich, von denen viele mit einer aufsteigenden Tonbewegung beginnen, die nicht selten den Raum einer Oktave durchschreiten und die innerliche Aufrichtung des in sich verkrümmten Menschen bewirken. So entsteht ein neuer Raum, jener Raum, von dem Hildegard im Hinblick auf den Patron ihres Klosters, Rupert, sagt: In dir singt und spielt der Heilige Geist, denn du bist den Chören der Engel zugesellt.

Perspektive der Ewigkeit

Heilende Klänge zu hören   und dies gilt auch für die Kompositionen anderer Tonkünstler wie etwa Arvo Pärt, Johann Sebastian Bach, Enjott Schneider, Claudio Monteverdi, Edvard Elgar oder Aruna Sajeram   macht feinsinnig, durchlichtet diejenigen, die sich von ihnen umhüllen lassen, und befähigt sie so, sich in das Wunder der ewig währenden Musik einzuschwingen, in die einzustimmen wir alle berufen sind. Insofern eignet sich heilende Musik eine Eigenschaft an, die sie von Rockmusik oder Techno scharf unterscheidet. Denn sie eröffnet die Perspektive der Ewigkeit, weil sie dort im tiefsten Zuhause ist. Genau aus diesem Grund macht es auch keinen Sinn, Menschen, was die musikalische Gestaltung des Gottesdienstes angeht, dort abzuholen, wo sie stehen. Denn dieser gewiss gut gemeinte Versuch endet nicht selten damit, dass man sich auf dieser irdischen Ebene einrichtet und diese als Weg gemeinte Geste ins Nichts führt.

Ein gutes Ritual, und genau dies ist die Feier der Eucharistie und des Stundengebetes, muss nicht jedem von Anfang an einleuchten oder in jeder Einzelheit nachvollziehbar sein. Eine gewisse Fremdheit kann wirksam zur Anziehungskraft beitragen, weil sie deutlich macht: Hier geht es nicht um eine Zementierung des alltäglichen Lebens, hier tritt der Mensch in eine über ihn hinaus auf das Ewige, auf den Ewigen deutende Wirklichkeit ein. Aus ihr kommt uns dann jene Heilung zu, die wir gerade in diesen Tagen so sehr ersehnen. Sie zu finden hilft Musik sehr und baut zugleich eine Brücke in die jenseitige Welt, in der wir ebenso wie sie wahrhaft zuhause sind.

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