Die spirituelle Wende in Leben und Werk der französischen Philosophin Simone Weil (1909–1943) fand einen Niederschlag in ihrer ästhetischen Theorie, die ihr einen Weg zur Gottesfrage eröffnete. Die radikale Suche nach Wahrheit schulte zunächst ihr Lehrer Alain am renommierten Lycée Henri IV in Paris, die Weil aber nicht in der akademischen Welt stehen ließ, sondern im Schulbetrieb, in der Gewerkschaftsarbeit, in der Fabrik und letztlich in ihrer intensiven Suche nach Gott eine Fortsetzung fand.
Wenn Mystik von Musik umrahmt wird
Ihre drei mystischen Begebenheiten, die wirklich für sie zählten (so Weil im Originalton), werden musikalisch umrahmt und vertieft. In ihrer ersten Begegnung berührte sie der geistliche Gesang der Fischerfrauen während einer Prozession in Portugal. Auf ihrer Italienreise lernt sie die Musik Monteverdis schätzen und im Benediktinerkloster Solesmes tauchte sie in die Musik der gregorianischen Gesänge der Mönche ein. Wie Charles Baudelaire bei seinem Besuch der Oper Tannhäuser in Paris von der Musik ergriffen wurde, verstand Simone Weil im Benediktinerkloster, dass Musik weder Droge noch Betäubung des menschlichen Lebens sei, sondern die höchste Aufbietung einer Aufmerksamkeit, die zwischen Schwerkraft und Gnade schwinge und den Abstieg des göttlichen Logos in die Welt zu denken erlaube. So realisiert und transformiert eine musikalische Erfahrung die Meditation der Passion Christi zu einem echten mystischen Erleben.
Über die Schönheit der Worte und der Musik der Liturgie der Mönche findet Simone Weil zu einer reinen Freude, hierin dem musikalischen Erleben Augustins im Dom zu Mailand verwandt! „Diese Erfahrung hat mich auch durch Analogie besser verstehen lassen, wie es möglich sei, die göttliche Liebe durch das Unglück hindurchzulieben. Ich brauche nicht eigens hinzuzufügen, dass im Verlauf dieser Gottesdienste der Gedanke an die Passion Christi ein für alle Mal in mich Eingang fand.“
Radikale Suche nach Wahrheit
Weil liebt ebenso die Musik von Johann Sebastian Bach und Wolfgang Amadeus Mozart. Für Weils radikale Suche nach Wahrheit bedurfte dieses musikalische Erleben jedoch einer philosophischen Reflexion und gedanklichen Grundierung. Die ästhetische Reflexion über Welt und Dasein erlaubt Weil ein Darüberhinaus, ein „surnaturel“ zu denken. Mit Pythagoras sind für sie Mathematik und Mystik die Koordinaten ihres Musikverständnisses. Das Erleben der Musik besteht aus zwei grundsätzlichen Bewegungen des Herabstiegs und der Wiederholung dieses Herabsteigens aus Liebe. Diese Bewegungen sind der Schlüssel für eine Philosophie der Kunst resp. der Musik. In der Schönheit bekommen Inkarnation und Gnade für sie eine musikalische Note. So schreibt sie in „Schwerkraft und Gnade“: „Das Schöne umfasst, unter anderen Vereinigungen der Gegensätze, die des Augenblicklichen mit dem Ewigen. (…) Das Schöne ist etwas, bei dem die Aufmerksamkeit verweilen kann.“
Dies realisiert sich im Alltag. In allem, was das reine Gefühl des Schönen im Menschen wecken kann, ist Gott präsent. Christologisch gewendet heißt dies für die Philosophin: „Das Schöne ist der Experimentalbeweis, dass die Inkarnation möglich ist.“ Diese zweifache Bewegung ist der Schlüssel aller Kunst. „Zweifache Bewegung des Herabstiegs: aus Liebe wiederholen, was sonst die Schwerkraft bewirkt.“ Diesen Umstieg verdeutlicht Simone Weil an einem musikalischen Beispiel. Im Lamento d’Arianna von Monteverdi steigt die Stimme unaufhörlich, bis zu einem Punkt, dann hält sie inne, kehrt um, steigt herab und verlöscht. Eine ähnliche Bewegung kennt für Weil der gregorianische Choral. Gregorianik besitzt eine „wunderschöne“ Monotonie, die als Widerschein des Ewigen betrachtet werden kann; Ähnliches gilt für die Fugen in den Kompositionen von Bach.
In der (musikalischen) Pause oder Stille manifestiert sich die übernatürliche Freiheit, denn nach der Stille, dem Durchschreiten des Transzendenten, herrscht die absteigende Bewegung vor. Zunächst siegt die aufsteigende Bewegung, und die dazwischengeschobenen Abstiege sind durch die Schwerkraft bedingt, dann erfolgt aber, als Folge der Gnade, der Augenblick, in dem der Abstieg Liebe ist.
Weils Denken in Musik gegossen
Die „Gnade in Welt“ (Karl Rahner) zeigt in nuce die Größe des Menschen, die darin besteht, sein Leben nochmals zu erschaffen. Zu erschaffen, was ihm gegeben ist. Für die Kunst bedeutet dies, er wird „zum Nachschöpfer des Bündnisses zwischen seinem Körper und seiner Seele.“
Diese kurzen Schlaglichter auf das Musikverständnis Weils sollen genügen, um in einer rezeptionsästhetischen Perspektive auf moderne Musikkompositionen zu schauen, die sich von Leben und Werk Simone Weils inspirieren ließen. Die kanadische Komponistin Cassandra Miller schuf ein Violinkonzert, das den Titel trägt „I cannot love without trembling“ (2023). Die Musikerin entleiht sich diesen Titel aus einem Brief von Simone Weil: „Das menschliche Dasein ist so zerbrechlich und solchen Gefahren ausgesetzt, dass ich nicht lieben kann, ohne zu zittern.“ Für die Musikerin drückt das Zittern der Musik das Gefühl des Heimwehs aus. Miller lernte die Schriften Weils durch die Vermittlung eines Freundes kennen. Die Komponistin fühlte sich durch die Gedanken Weils zu Nähe und Distanz angesprochen, die zwischen Menschen und zwischen Menschen und dem Göttlichen bestehen. Jede Trennung schafft für Weil auch eine Verbindung, die ein Aus- und Überstieg ermöglicht. Das Violinkonzert ist in fünf Teile unterteilt, denen jeweils ein Zitat Simone Weils vorangestellt wird: „Reine Liebe bedeutet, Distanz anzunehmen“, „Ich kann nicht lieben, ohne zu zittern“, „Tief begraben unter dem Klang seiner eigenen Klage, liegt die Perle der Stille Gottes“, „Die absolut reine Aufmerksamkeit ist Gebet“ und „Sterne und blühende Obstbäume; höchste Leistung und Zerbrechlichkeit vermitteln ein Gefühl des Ewigen“.
Die finnisch-französische Komponistin Kaija Saariaho (1952–2023) las bereits in ihrer Schulzeit die Schrift „Schwerkraft und Gnade“ von Simone Weil. Leben und Gedanken Weils waren für die junge Frau eine Referenz für ihre persönliche und künstlerische Entwicklung. Saariaho fühlte sich stets von den Reflexionen und dem geistlichen Zeugnis der Philosophin beeindruckt und inspiriert. Das Werk „La Passion de Simone“ (2006) entsteht aus ihrer Wertschätzung des Werkes Simone Weils als Oratorium für Sopransolo, Chor, Orchester und Elektronik.
Beeindruckt vom sozial-karitativen Engagement Weils
Die Liebe zum Œuvre der Philosophin teilte die Komponistin mit dem Regisseur Peter Sellars, mit dem sie bereits für ihre beiden Opern zusammengearbeitet hat. War es bei der Komponistin der spirituelle Grundzug des Werkes, beeindruckte Peter Sellars das sozial-karitative Engagement Weils. Das Werk sollte keine Abfolge verschiedener Tableaux des Lebens oder eine Hagiografie der Philosophin werden. Aus diesem Grund zogen beide als Librettisten den Dichter Amin Maalouf hinzu. Maalouf wiederum war von der mathematischen Stringenz der Reflexionen und dem spirituellen Impetus der Französin fasziniert. „La Passion de Simone“ wurde in der Form des Oratoriums konzipiert.
Das Leben Simone Weils war durch eine existenzielle Kreuzesnachfolge geprägt. Einige der 15 Stationen der Passion entsprechen dem klassischen Arrangement des liturgischen Kreuzweges und der Passionsandacht der Karwoche der katholischen Liturgie. Station eins beginnt mit einer verstörenden Hintergrundmusik des Orchesters, die Musik beginnt in Dissonanzen zu spielen. Station sieben thematisiert die Selbstdestruktion Weils unter den Leitmotiven ihrer späteren Werke „Licht“ und „Schwere“, musikalisch finden sich Anklänge an die Oper Tristan von Richard Wagner. Station zwölf sieht den Tod als folgerichtige Konsequenz der Dramatik des Lebens, einzig der Chor tritt in seinem Part für das Leben ein. Die Komponistin stellt eine Parallele zwischen Jesus, Alexander dem Großen und Simone Weil in der 13. Station her, die ungefähr in ihrem 33. Lebensjahr verstarben.
Weitere Stationen nehmen weitere Passagen ihres Lebens auf (zum Beispiel gewerkschaftliches Engagement, Fabrikarbeit, Hinwendung zum Glauben, Résistance). Das Psalmwort „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“ sieht das Leben allgemein zwischen Zweifel und Determination changieren. In den einzelnen Stationen wird immer wieder die seit der Aufklärung virulente Rage nach dem stellvertretenden Opfer gestellt. Wie kann ein Einzelner die Erlösung bringen? Die 15. Station thematisiert den Triumph der Auferstehung. Maalouf zitiert aus der Johannespassion von J. S. Bach: „Durch dein Gefängnis Gottes Sohn ist mir der Freiheit kommen.“ Die „Passion de Simone“ versteht sich jedoch nicht nur als eine Illustration der biblischen Hoffnung auf ein Jenseits, sondern ruft im Libretto Maaloufs zum einen die Relevanz des Mutes und der radikalen Suche nach Wahrheit Weils in Erinnerung, zum anderen wird im Finale betont, dass der Kampf um Freiheit und Gerechtigkeit fortdauert.
Wenn Philosophie die Musik inspiriert
Die Komponistin widmete das Oratorium „La Passion de Simone“ als ihr geistliches Testament ihren beiden Söhnen. Das Lebenszeugnis der französischen Philosophin erhält durch die Kompositionsarbeiten der beiden Frauen, Kaija Saariaho und Cassandra Miller, eine musikalische Note. Die Rezeption des Werkes Weils beeinflusst nicht nur Theorien und Gedanken der gegenwärtigen Philosophie und Theologie, sondern spricht und klingt durch die Musik in einer eigenständigen Resonanz. Die genannten Musikbeispiele illustrieren einen ästhetischen Zugang zu den Glaubensinhalten. Mystik und Musik weiten den reflexiven Zugang des Glaubens in einer ganzheitlichen Perspektive.
Der Autor war Professor für Dogmatik an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern.
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