Als Michelangelo im Jahr 1536 begann, das „Jüngste Gericht“ auf der Frontwand der Sixtinischen Kapelle zu verewigen, hatte wenige Jahre zuvor der von Heinrich VIII. gewollte „Act of Supremacy“ die Abspaltung der Kirche in England von der Kirche Roms besiegelt und den englischen König zum Haupt der anglikanischen Kirche erklärt.
An den Ort des „Jüngsten Gerichts“ – Michelangelo brauchte fünf Jahre für dieses monumentale Werk mit seinen 390 Figuren – in der Kapelle, in der die Kardinäle der Kirche die Päpste wählen, ist nach fast fünfhundert Jahren König Charles III. mit Königin Camilla zurückgekehrt, um gemeinsam mit Leo XIV. zu beten. Es war ein halbstündiges Gebet mit Musik und Gesten, ohne Ansprachen oder Erklärungen. Es sollte im Zeichen der Versöhnung von katholischer und anglikanischer Kirche und der Bewahrung der Schöpfung stehen, zehn Jahre nach der Umwelt-Enzyklia „Laudato sì“ von Papst Franziskus. Das war der Wunsch von Charles III. Papst Leo und der anglikanische Erzbischof Stephen Cottrell von York standen der Feier gemeinsam vor, sie saßen unter dem Fresko des „Jüngsten Gerichts“, rechts von ihnen hatte das britische Königspaar seinen Platz.
Die zerbrochene Welt der Anglikaner
Charles III., weltliches Oberhaupt der Kirche von England, kam in Zeiten, in denen das Auseinanderbrechen der anglikanischen Weltgemeinschaft so gut wie beschlossene Sache ist. So geht es allen Kirchengemeinschaften, die aus der Reformation hervorgegangen sind. Letzter Anlass zur Besiegelung des Bruchs: die Wahl von Sarah Mullally zur neuen Erzbischöfin von Canterbury und damit zur „Primatin“ der Anglikaner.
Am 16. Oktober, zwei Wochen nach der Bekanntgabe der Berufung Mullallys, hat die „Global Fellowship of Confessing Anglicans“ (GAFCON), der weltweite Zusammenschluss bekenntnistreuer Anglikaner, bekanntgegeben, dass der Verband mit seinen etwa 42 Millionen Mitgliedern in der Welt sich von der Kirche Englands lossage und sich nun selbst als die eigentliche Anglikanische Gemeinschaft verstehe. Da wo heute neben dem Papst der Yorker Erzbischof Cottrell von den Anglikanern saß, hätte auch Erzbischöfin Mullally sitzen können – aber sie ist in ihr neues Amt noch nicht offiziell eingeführt.
Musik und schöne Worte
Die Liturgie und Gesang überspielten diese dramatische Lage bei den Anglikanern. Drei Chöre umrahmten das Mittagsgebet: der Chor der Sixtinischen Kapelle, der Laienchor der St. George’s Chapel im Schloss Windsor und der Kinderchor der Königlichen Kapelle des St. James’s Palace. Eine dem heiligen Ambrosius von Mailand zugeschriebene Hymne wurde in einer englischen Übersetzung von John Henry Newman gesungen, den Papst Leo am 1. November feierlich zum Kirchenlehrer erheben wird.
Als Lesung diente der Römerbrief mit dem Satz: „Denn wir wissen, dass die gesamte Schöpfung bis zum heutigen Tag seufzt und in Geburtswehen liegt.“ Es sollte bei dem Gebetstreffen ja um die Natur und ihre Bewahrung gehen. Den Schlusssegen erteilten der Papst und der anglikanische Erzbischof gemeinsam.
Begegnung im Staatssekretariat
Vor der Zeremonie in der Sixtina hatte Papst Leo König Charles und seine Gemahlin in Privataudienz empfangen. Im Anschluss sprach der Monarch mit Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin und dem vatikanischen „Außenminister“ Erzbischof Paul Richard Gallagher, der selbst aus England stammt. Die Mitteilung, die der Vatikan später veröffentlichte, war wie immer eher allgemein gehalten: „Im Rahmen der freundschaftlichen Gespräche im Staatssekretariat wurden die guten bilateralen Beziehungen gewürdigt und ein Meinungsaustausch zu einigen Themen von gemeinsamem Interesse geführt, darunter Umweltschutz und Armutsbekämpfung. Besonderes Augenmerk wurde auf das gemeinsame Engagement für die Förderung von Frieden und Sicherheit angesichts globaler Herausforderungen gelegt. Schließlich wurde unter Hinweis auf die Geschichte der Kirche im Vereinigten Königreich gemeinsam über die Notwendigkeit nachgedacht, den ökumenischen Dialog weiter zu fördern.“ Während Charles III. im Staatssekretariat vorsprach, erhielt zur gleichen Zeit Königin Camilla eine Privatführung durch die Paolinische Kapelle, die im Apostolischen Palast in unmittelbarer Nähe der Sixtina liegt.
Die beiden Kapellen verbindet die Sala Regia, der Königssaal. Dort empfing Papst Leo das britische Königspaar nach dem Mittagsgebet ein weiteres Mal. Charles III. und Leo XIV. schenkten einander jeweils einen kleinen Baum derselben Sorte. An der Begegnung nahmen auch Persönlichkeiten aus dem Bereich Wirtschaft, Fachleute der Vereinten Nationen und Umweltaktivisten teil, darunter Delegierte der von Papst Franziskus gewollten internationalen „Laudato si'“-Bewegung. Es sollte bei dem Treffen von König und Papst ja um die Natur und ihre Bewahrung gehen.
Charles III. erhielt eigenen Holzsitz
Nach der Begegnung im Vatikan nahm König Charles am frühen Nachmittag in der Basilika Sankt Paul vor den Mauern an einer weiteren ökumenischen Feier teil – diesmal ohne Papst. Gemeinsam mit der angrenzenden Benediktiner-Abtei hat die Basilika eine starke Verbindung zur englischen Krone.
Im Jahr 1966 hatten Papst Paul VI. und der damalige Erzbischof von Canterbury, Michael Ramsey, in der Basilika verkündet, zum ersten Mal seit der Reformation einen formellen Dialog zwischen Anglikanern und Katholiken aufzunehmen. Der Erzpriester der Basilika, Kardinal James Michael Harvey, und der Abt der Benediktiner, Dom Donato Ogliari, verliehen Charles III. jetzt den Titel „Royal Confrater“ – „Königlicher Mitbruder“ – von Sankt Paul vor den Mauern. Zu diesem Anlass war ein Holzsitz mit dem Wappen von König Charles und dem lateinischen Spruch „Ut unum sint“ – „Dass sie eins seien” hergestellt worden, auf dem der König saß und auf dem in Zukunft alle zukünftigen Könige Englands sitzen dürfen – egal ob anglikanisch oder schon katholisch.
Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.









