Liebe Leserinnen und Leser,
„Empörung“ ist zum Lieblingswort von Politikern, Kommunikationsberatern und Medienleuten geworden. Warum Gott sich nicht empört von den Menschen abwendet und wir er stattdessen reagiert, erklärt Pater Ballestrem im heutigen Tagesimpuls.
Ach ja: Heute geht es leider nicht um den heiligen Nikolaus, aber trotzdem: ein gesegnetes Nikolausfest!
Ihre Franziska Harter
Chefredakteurin
MIT DER BIBEL DURCH DEN ADVENT
Tageslesung:
Jes 30,19-21.23-26
Mt 9,35-10,1.6-8
Gott dreht sich nicht beleidigt weg
Dabei hätte er manchmal allen Grund dazu. Doch er reagiert anders Von Raphael Ballestrem
Wenn ein Arbeitskollege oder Nachbar zwei- oder dreimal einen blöden Kommentar macht, ist unsere Reaktion schnell klar: Wir meiden diese Person und gehen ihr aus dem Weg. Die unbegründete Kritik und schlechte Laune des anderen wollen wir nicht ständig ertragen.
Das Überraschende ist: Gott hätte so viel Grund, den Menschen gegenüber ähnlich zu reagieren. Adam und Eva haben ihm misstraut, das Volk Israel hat andere Götter angebetet. Sie haben seine Wohltaten und Wunder vergessen. Besitz, Reichtum und Macht wurden die Sicherheit und Sehnsucht vieler Menschen.
Hier auch zum Anhören:
Und was macht Gott? Wie geht er mit den unzähligen Ungerechtigkeiten um, die ihm von uns Menschen entgegengebracht werden? Dreht er sich weg und zeigt die kalte Schulter? Im Gegenteil. Er sieht das Leid des Menschen. Er schaut auf unsere Gebrochenheit und fehlende Erfüllung. Gottes Blick ist nicht von Angst oder Selbstschutz geprägt. Er sieht den Menschen nicht zuerst als Täter, sondern als jemanden, der Heilung braucht. Und er antwortet nicht mit Distanz, sondern mit Nähe.
Der Prophet Jesaja verheißt dem Volk, dass es nicht mehr weinen muss. Der Herr kommt, um den Bruch seines Volkes zu verbinden (vgl. Jes 30,26). Und im Evangelium lesen wir, dass diese Verheißung wahr wird. Jesus sieht, dass wir Hirten brauchen. Er schickt die Apostel, damit sie Kranke heilen, Dämonen austreiben, Tote auferwecken und Aussätzige rein machen.
Was bedeutet das für uns in der Vorbereitungszeit auf Weihnachten? Zum einen streckt Jesus jedem von uns seine Hand aus und bietet uns an, unsere Sünden zu verzeihen. Er sehnt sich danach, die Last der Sünde aus unseren Herzen zu lösen. Er wartet darauf, dass wir ihn darum bitten.
Zum anderen bietet er uns an, der Hirte zu sein, der uns auf die grünen Auen führt, nach denen wir uns sehnen. Die innige Beziehung und Freundschaft mit diesem Hirten ist die beste Entscheidung, die wir treffen können. Der Advent ist eine passende Zeit, um diese Beziehung zu stärken und zu vertiefen. Jesus, ich vertraue auf dich!
Pater Raphael Ballestrem ist Priester in der Gemeinschaft der Legionäre Christi.
WEIHNACHTEN IM BILD

Caravaggios „Adorazione dei pastori“
Die Gottheit in der Wirklichkeit Von Patrick Peters
Als der große Michelangelo Merisi da Caravaggio 1609 die „Adorazione dei pastori“ („Die Anbetung der Hirten“) für die Kapelle der Franziskaner-Kapuziner im sizilianischen Messina malte, schuf er ein Werk, das so radikal wie seine berüchtigte Lebensweise war und dessen theologische Kühnheit in der visuellen Direktheit noch immer trägt. Caravaggio zeigt keine thronende Madonna mit Krone und Licht der Heiligkeit, sondern eine junge, erschöpfte Frau auf dem Boden liegend, die soeben entbunden hat. Das Neugeborene, vollständig der Wahrnehmung des Betrachters entzogen (sein Gesicht ist uns abgewandt), ruht dort wie jedes andere Menschenkind auch: hilflos, klein, ohne himmlische Insignien.
Wer war der Erste, der die menschgewordene Gottheit erblickte? Es sind die Hirten, die Ärmsten, Marginalisierten, Ungebildeten, sie drängen mit nackten Füßen ins Bild, ihre Gesichter von einem rätselhaften Licht aus unsichtbarer Quelle umflutet, das das Dunkel um sie herum durchbricht. Joseph, gekennzeichnet durch die dezente Gloriole, führt die Hirten und teilt ihre Ehrfurcht und Verwirrung. Das ist der psychologische Realismus Caravaggios: Menschen, die gerade Zeugen eines Wunders wurden, aber nicht sofort verstehen können, was sie erblicken. Sie sind noch nicht in die Heilsgeschichte übersetzt worden, aber unmittelbar mit ihrer leiblichen Wirklichkeit in ihr.
Im Vordergrund zeigt Caravaggio Werkzeug, Brot, Tücher, also Alltagsgegenstände des einfachen Volks. Das hat symbolischen Charakter, zeigt es doch, dass die Inkarnation sich nicht nur in den Höhen der Theologie ereignet. Sie ereignet sich in der Wirklichkeit, in der Armut, in der physischen Verletzlichkeit, in der Begegnung zwischen Gott und denen, die die Welt vergessen hat. Die Erschütterung der Hirten ist auch unsere: Können wir glauben, dass das Göttliche sich so radikal erniedrigt, sich mit unserer menschlichen Gebrochenheit identifiziert? Im Advent, wenn wir auf den warten, der kommt, erinnert uns Caravaggios „Adorazione“ an eines: Christus kommt, um uns aus unserer Schwäche und Bedürftigkeit zu erlösen.
Der Autor ist Professor für Kommunikation und schreibt zu kulturgeschichtlichen Themen.
ADVENTLICHE KLÄNGE
„O Heiland, reiß die Himmel auf“
Der Schrei nach Erlösung wird zur Sehnsuchtsformel für den Advent Von Henry C. Brinker
Dieses Kirchenlied aus dem Gotteslob (Nr. 231) gehört zu den innigsten Adventsgesängen des katholischen Kulturraums – ein Lied, das nicht mit zarter Erwartung beginnt, sondern mit einem Aufschrei. Friedrich Spee, der Jesuit, der gegen die Hexenverfolgungen anschrieb und für eine Theologie des Erbarmens stand, schuf mit diesem Text um 1622 ein geistliches Gegenlied zur Erfahrung politischer und seelischer Zerrissenheit. Sein Advent ist kein idyllischer, rund geschlossener Adventskranz, sondern ein Riss durch die Welt: die Bitte, Gott möge selbst die Himmelsdecke zerreißen, um dem Menschen nahe zu sein. Spee starb 1635 als Pestopfer in Trier, während er dort die Kranken pflegte. Seine Grablege ist die dortige Jesuitenkirche.
Musikalisch lebt das Lied von der Spannung zwischen Jammertal und Erlösung. Die Melodie – im katholischen Raum meist die aus dem Kölnischen Gesangbuch von 1638 – weitet sich in langen Linien nach oben, als wollte sie die Himmelskluft, von der der Text spricht, musikalisch überwinden. Der Sprung auf „reiß die Himmel auf“ ist mehr als musikalisches Stilmittel: Er ist fast körperlich erfahrbarer Impuls. Gleichzeitig besitzt die schlichte Tonfolge die lichte Fasten-Askese, die so viele Adventsgesänge prägt: keine triumphale Vorwegnahme des Weihnachtsjubels, sondern ein gedämpfter Klang, der von Ferne her Trost verheißt. Die Adventszeit ist keine Weihnachtszeit, sondern eine Phase des ruhigen Innehaltens.
Katholisch gelesen, ist dieses Lied eine Verdichtung der Adventstheologie: Es verbindet das messianisch-hoffende Seufzen Israels mit der neutestamentlichen Erfüllung und der konkreten Erfahrung menschlicher Not. Der alte Bund berührt die Gegenwart. Die Strophen sprechen von Frost, Dunkel, Leid – und lehnen sich doch auf gegen jede keimende Verzweiflung. Spees Theologie ist die des Durchbruchs: Gott kommt nicht „von oben herab“ als ferner Herrscher, sondern steigt „vom Himmelsthron“, um seine Erde zu berühren, sie durch sich zu verwandeln. Die spannungsvolle Erwartung ruft von unten nach oben und wird von oben nach unten erhört.
So bleibt „O Heiland“ eines der großen katholischen Adventslieder, weil es die Sehnsucht nach Erlösung ernst nimmt – ohne Pathos, aber mit einer musikalischen Geste, die den Himmel offen denkt.
Der Autor ist Feuilletonist der „Tagespost“.
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