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Das fünfte Türchen

Auf Weihnachten warten bedeutet, aus dem Dunkel ins Licht zu treten.
Das fünfte Türchen des Tagespost-Adventskalenders
Foto: DT/KNA | Das fünfte Türchen des Tagespost-Adventskalenders.

Liebe Leserinnen und Leser,

das ungewöhnliche Musikstück, das wir Ihnen heute vorstellen, lässt die Verbindung von Krippe und Kreuz geheimnisvoll aufscheinen. Nur wer den inneren Zusammenhang zwischen beiden Mysterien erkennt, der Menschwerdung und der Erlösung, dem öffnen sich auch die Augen für den wahren Kern des Christentums.

Ihre Franziska Harter
Chefredakteurin


MIT DER BIBEL DURCH DEN ADVENT

Tageslesung:
Jes 29,17-24
Mt 9,27-31

Von der Blindheit zum Licht

Gott wird Mensch, damit wir seine Liebe sehen können  Von Raphael Ballestrem

Es muss eine unfassbare Erfahrung sein, blind zu sein. Man tastet sich morgens aus dem Bett. Im Alltag gibt es zahlreiche Einschränkungen. Und eine schöne Winterlandschaft kann man auch nicht genießen. Wenn einem dann das Augenlicht geschenkt wird, dürfte jede Person geradezu überwältigt sein. So viele neue Eindrücke und Möglichkeiten. Jesus hat genau damit viele Menschen beschenkt: die Heilung ihrer Augen.
All das ist nur ein müder Abglanz von dem, was Jesus im Leben jeder Person bewirken möchte. Durch Schnelllebigkeit, Reizüberflutung und Überforderung erleben wir immer wieder die Blindheit des Herzens: Momente, in denen wir nicht sehen, wofür wir dankbar sein könnten. Situationen, in denen wir Gottes Nähe nicht erkennen. Zeiten, in denen wir uns im Inneren wie im Dunkeln fühlen.

Hier auch zum Anhören:

Audio

Gott wird Mensch, damit wir seine Liebe sehen können. Er kommt auf diese Erde, um uns das Herz des himmlischen Vaters zu offenbaren. Er sehnt sich danach, uns den Weg zum Himmel zu zeigen. Er möchte auf diese Weise unser Leben erhellen. Genau das hat Jesaja verheißen: „Aus Dunkel und Finsternis werden die Augen der Blinden sehen.“ (Jes 29,18).

Was bedeutet das für uns in der Vorbereitung auf Weihnachten? Zum einen ist es die Einladung, Jesus um das Licht des Glaubens zu bitten. Herr, hilf mir, deine Liebe in meinem Alltag zu entdecken. Lass mich deine Güte erfahren. Mehr noch: Öffne meine Augen, um zu sehen, wie du siehst.

Zum anderen erinnert es uns an unsere Aufgabe, selber Licht zu werden. Am Tag der Taufe wurde uns eine Kerze übergeben, die genau das verdeutlichen soll: Gib das empfangene Licht weiter. Leuchte damit für andere. Inspiriere die Personen in deinem Umfeld, ermutige sie, diene ihnen. Dein Licht erlaubt anderen, Gottes Liebe zu entdecken.

Herr, öffne heute meine Augen!

Pater Raphael Ballestrem ist Priester in der Gemeinschaft der Legionäre Christi.


WEIHNACHTEN IM BILD

Lorscher Evangeliar
Foto: KNA | Elfenbeinminiatur auf dem Einband des Lorscher Evangeliars (Ausschnitt)

Das Lorscher Evangeliar

Die Geburt im Stall als Offenbarung der Demut  Von Patrick Peters

Das Lorscher Evangeliar, vermutlich entstanden um 810 an der Hofschule Karls des Großen in Aachen, gehört zu den kostbarsten Prunkhandschriften des frühen Mittelalters. Der Elfenbeindeckel zeigt die Geburt Jesu im Stall zu Bethlehem. Im unteren Feld der Vorderseite entfaltet sich eine mehrschichtige Narration: Maria und Joseph ruhen neben der Krippe, in der das Jesuskind liegt, Ochse und Esel rahmen den neugeborenen Christus im zweiten Teil ein und bezeugen die Animalität des Ortes, während in der dritten Sequenz der Szene – wie in separater himmlischer Sphäre – Engel den Hirten die Frohe Botschaft verkünden.

Die ikonografische Komposition spricht die fundamentale christliche Logik aus: Gott, der Allmächtige, der das Universum erschaffen hat, wird in Jesus Christus als wahrer Mensch und wahrer Gott klein. Er beginnt die Erlösung nicht in einem Tempel, sondern in einem Stall, nicht umgeben von Hofdienern, sondern von Tieren. Diese bewusste Darstellung der „Kenosis“ – der „Selbstentäußerung“ Gottes – war für die karolingische Theologie vor dem Hintergrund des Glaubens an die Einheit von Gottes und menschlicher Natur zentral. Der göttliche Logos wird Fleisch, nicht um Macht zu demonstrieren, sondern um unsere Armut, unsere Not, unsere Sterblichkeit zu teilen. Auch die Verkündigung an die Hirten zeigt eindrücklich, dass Gott nicht der Mächtigen wegen Mensch, sondern der Schwachen wegen wird. Die Menschwerdung ist ein Akt der Solidarität mit dem Geringen.

Das Lorscher Evangeliar erinnert uns daran, wer kommt: nicht ein triumphierender Herrscher, sondern ein schutzbedürftiges Kind. Die karolingische Elfenbeintafel lehrte ihre Betrachter eine paradoxe Wahrheit: In der Offenbarung Gottes durch das Kleinste und Niedrigste liegt seine größte Liebe zu uns. „Solch ein Gott, der so klein wurde, kann nur Barmherzigkeit und Liebe sein“, wie die heilige Therese von Lisieux es später ausdrücken wird. Das edle Elfenbein unterstreicht diese Botschaft, denn das Kostbare verkündet das Armselige, die Pracht das Elende. Advent bedeutet, diese Umkehrung aller Maßstäbe zu erwarten – und zu empfangen.

Der Autor ist Professor für Kommunikation und schreibt zu kulturgeschichtlichen Themen.


ADVENTLICHE KLÄNGE

John Taveners „The Lamb“

Ein Mensch als Opferlamm geboren  Von Henry C. Brinker

John Taveners 1982 komponiertes „The Lamb“ gehört zu jenen Werken, die durch äußerste Einfachheit eine tiefe, geistliche Spannung erzeugen. William Blakes mystisches Gedicht war wohl zu seiner Entstehungszeit vom Autor selbst vertont worden, allerdings ist diese musikalische Fassung nicht überliefert. Blake, ein Zeitgenosse Goethes, ist ein bis heute aktueller Botschafter seines eigenen, faszinierenden Mystizismus geblieben. Spiritualität und Psychedelik: Blake wurde zum Kunststar der Post-68er, vor genau 50 Jahren widmete ihm die Hamburger Kunsthalle eine Ausstellung und präsentierte ihn erst im letzten Jahr erneut – als Proto-Hippie. Blake stand der Kirche eher feindlich gegenüber, trotzdem lohnen seine Verse und Gedanken aus Spiritualität und Prophetie den Blick aus katholischer Perspektive.

Auf William Blakes enigmatisches Gedicht „The Lamb“ antwortet Tavener mit einem Klang, der wie aus einer anderen Sphäre herüberweht: zwei Stimmenpaare, die sich spiegeln, kreuzen, auflösen und wiederfinden – die Musik beschreibt die Botschaft der Menschwerdung und wahrt doch das Geheimnis. Die lineare Klarheit der Melodik verbindet sich mit harmonischen Reibungen, die wie chiffrierte Lichtzeichen in der Dunkelheit wirken.

Asketische, ikonische Klangwelt

Gerade im Advent gewinnt dieses Stück eine besondere Resonanzkraft. Die wiederkehrenden Quarten und Quinten schaffen eine asketische, beinahe ikonische Klangwelt, die als Chorgesang an Taveners Nähe zu byzantinischer Spiritualität erinnert. Gleichzeitig spricht sie tief in ein katholisches Verständnis des Advents hinein: Die Harmonie ist nicht erfüllt, sondern geöffnet – wie die Erwartung der Kirche, die den kommenden Christus ersehnen und zugleich schon in seinem sanften Licht stehen darf. Tavener selbst unterschied in seiner persönlichen Glaubenswelt zwischen Gott und Christus. Er wollte nicht die personale Einheit durch Gottessohnschaft nachvollziehen.

Blakes Bild des „Lamb“, des Lammes, verweist unmittelbar auf Joh 1,29: „Ecce Agnus Dei“ – „Seht das Lamm Gottes“. In der katholischen Liturgie erklingt dieser Ruf täglich vor der Kommunion. So wird Taveners Musik zu einer adventlichen Vorwegnahme der Eucharistie: Das Lamm, das in Windeln liegt, ist dasselbe, das sich am Altar schenkt. Die zerbrechliche Reinheit der Kinderstimme, für die Tavener ursprünglich schrieb, lässt etwas von der Opfergestalt des Christuskindes in der Krippe erahnen, das „sich selbst entäußert“ (Phil 2,7).

Zugleich öffnet die Kreuzform der Stimmen – ein wiederkehrendes kompositorisches Motiv Taveners – den Blick auf das Paradox des Advents: Das Kind kommt, um zu erlösen, und sein sanftes Licht fällt schon auf das Kreuz. Die Musik balanciert zwischen Unschuld und Vorahnung, zwischen Weihnachten und Karfreitag. In den bildenden Künsten der früheren Jahrhunderte ist der Verweis auf Lamm und Kreuz beim Kind in der Krippe häufig Teil der Ikonografie.

So wird „The Lamb“ im Advent zu einem flüsternd-raunenden und staunenden Magnificat: der Lobgesang im Chor der Menschen, die sich selbst zu lauschen scheinen und uns zum Mithören einladen.

Der Autor ist Feuilletonist der „Tagespost“.


 

Info:

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