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Martin Heidegger: Der Unerschlossene

Heidegger wollte sich aus der Philosophie „herausphilosophieren“. Das Werk dieses eigenwilligen Kopfs bietet der Forschung noch reichlich Stoff.
Philosoph Martin Heidegger
Foto: dpa

Die neuere Philosophie begann mit René Descartes(1596– 1650). Er suchte nach einer absoluten, nicht mehr bezweifelbaren Gewissheit. Wenn ich alles bezweifeln kann, so doch nicht die Tatsache, dass ich in eben diesem Augenblick zweifle, dies jedenfalls ist sicher, und deshalb lautete seine Schlussfolgerung: „Ich denke, also bin ich.“ Die Welt war fortan in eine äußere „ausgedehnte“ körperliche und eine innere, mentale aufgespalten. Und die Frage musste aufkommen: Wie gelingt es eigentlich dem Denken, aus dieser Verschalung heraus und zu den Dingen zu kommen? Diese Versuche kennen wir unter dem Titel „Erkenntnistheorie“. Heideggers erste Leistung war eine Art Gewaltstreich, mit dem er der Erkenntnistheorie jedes Recht bestritt.

Müssen wir denn aus einer rein mentalen Welt erst „herauskommen“, fragte er, und die Antwort lautete: Wir sind ja schon immer „draußen“, haben zu-tun-mit, besorgen, was zu besorgen ist, verständigen uns, verstehen immer schon etwas von der Welt, bevor wir uns noch davon Rechenschaft ablegen können. Unser Dasein ist immer schon „In-der-Welt-sein“ – dies war die Pointe seines großen Werks „Sein und Zeit“, das 1927 erschien.

Sinnlichkeit und Verstand

Martin Heideggers erste revolutionäre Leistung war der Abbau von überkomplizierten und verkünstelten Ideen in der Philosophie wie etwa der, unsere Erkenntnisse gingen auf „Sinnlichkeit“ und „Verstand“ zurück. Der Raum, in dem wir leben, ist keineswegs ein geometrischer von drei Dimensionen. Wir wollen nicht wissen, wie viel Meter es bis zum Bahnhof sind, sondern ob wir fünf oder fünfzig Minuten brauchen und wo wir abbiegen müssen. Wir leben in einer Gegend, nicht in einem Koordinatensystem. Wenn wir vom Jahr 2018 sprechen, dann meinen wir keine Ziffer wie bei einer naturwissenschaftlichen Berechnung der Zeit, sondern: dass wir damals das und das mit dem und der gemacht haben. Aus dieser epochalen Abbau-Leistung und der Umstellung der Fragerichtung auf die Lebenswelt erklärt sich der weitere Weg Heideggers, der ihn schließlich aus der Philosophie überhaupt herausführte, die er mit zu vielen unbefragten Voraussetzungen belastet sah. Je später, je mehr sprach er nur mehr vom „Denken“. Der Weg war ungemein konsequent, auch darin, dass er überhaupt „Weg“ sein wollte und nach „Sein und Zeit“ auf das Abliefern von Hauptwerken verzichtete.

Das Denken ging oft auf ein Philosophieren vor der Philosophie zurück, vor Platon und Aristoteles zu den Vorsokratikern, vor allem zu Parmenides und Heraklit. Dort suchte Heidegger Spuren einer anderen, vielleicht im Überlieferungsprozess verdrängten Denkart. Er wollte sich, wie er einmal schrieb, als er noch ganz am Anfang dieses Unternehmens stand, „aus der Philosophie herausphilosophieren“. Das war keineswegs ein exzentrisches Unternehmen, ähnlich hätte es der späte Ludwig Wittgenstein formulieren können.

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Schwarze Hefte

Ungefähr seit einem Jahrzehnt sind Heideggers „Schwarze Hefte“ in den Vordergrund der Beachtung getreten. Das hatte ursprünglich seinen Grund in dem geistespolitischen Skandal von zeitweise extrem judenfeindlichen Äußerungen, die man darin fand und die von anderen wiederum zur Nebensache heruntergespielt wurden. Damit ist aber noch nicht die Frage nach der Form dieser Hefte beantwortet, die ja keine Tagebücher im herkömmlichen Sinn darstellen. Vielmehr sind sie ganz von dem ruhelos weiterdrängenden Prozess des Fragens bestimmt, in dem Heidegger Schritt für Schritt auch seine eigene Vergangenheit auflöste. Das konnte nicht in den Vorlesungen geschehen – es war Studierenden nicht zuzumuten –, und als Prozess auch nicht einfach in ein „Werk“ zu packen.

Die bislang letzten Bände der Gesamtausgabe sind „Vigiliae und Notturno“, Schwarze Hefte 1952/53 – 1957 und „Winke I und II“, Schwarze Hefte 1957 – 1959 (Band 100 und Band 101, beide Frankfurt am Main 2020, beide herausgegeben von Peter Trawny). Woher der Titel „Vigiliae“? In seiner Jugend, schreibt Heidegger, „waren die Vigiltage, die Tage vor den hohen Festen, die geheimnisvollsten; sie verzauberten alles Erwarten und stellten doch jegliches in das Stille, in sich Zurückgegangene. / Die blaue Farbe der Messgewänder an diesen Tagen versammelte alles in eine unerklärliche Tiefe. Der Festtag selber erschien dann fast wie leer und allzulaut und ins Öffentliche gezogen. Die Vigil achtete niemand. Vermutlich weil wir noch kaum ermessen, inwiefern im Unerfüllten, in der Gewähr des je und je verhüllten Geschenkes aller wahrhafte und unversehrliche Reichtum der Sterblichen beruht.“ Die Stelle ist sehr merkwürdig, auch weil sie dieser Wegetappe den Titel gibt.

Katholische Lebenspraxis

Heidegger stammte aus einer frommen Familie; der Vater war Mesner und besorgte den Kirchendienst, die Mutter war dort für den Blumenschmuck zuständig, Martin Heidegger und sein Bruder Fritz waren Messdiener und „Läutebuben“, denen der Glockendienst zugeteilt war. Das Katholische bedeutete in einer solchen Familie eben auch nicht nur eine rein „mentale“ Aktivität des Glaubens, sondern einen Rahmen der Lebenspraxis. So etwas vergisst sich nicht, und wenn die Taufe unauslöschlich ist, dann vielleicht auch eine gelebte, zum Habitus gewordene Bindung an die Kirche – wie sehr Heidegger sich später auch von dieser Kirche entfernte.

In der zitierten Textstelle nun hat sich Heidegger die Vigiltage programmatisch für sein eigenes Vorhaben und den gegenwärtigen Augenblick darin angeeignet. Noch ist nicht Festtag, noch ist es nicht die Zeit für prunkende Werke. Sein eigenes Denken kann nicht mit diesem Resultathaften auftrumpfen, es steht, ohne es eigens zu wollen und zu betonen, noch im Modus der Erwartung, der Vorbereitung. Der Horizont erscheint in hoher Schönheit fernblau und vertieft, die Öffentlichkeit ist einstweilen noch fern. Dies aber ist das eigentlich Geschenk der Vigiltage: Den Reichtum im Unerfüllten erkennbar zu machen. An dieser Stelle sieht Heidegger sich und das, was ihm zu tun auferlegt ist.

Martin Heideggers Fall bleibt kompliziert

Man bemerkt die katholische Prägung, die in aller ausdrücklichen Distanzierung nicht vergeht, sondern sich geltend macht, wenn man an die wichtigsten Dinge denkt. Das Katholische ist da und ist nicht da, es sei denn als Hinweis auf seinen Denkprozess. Deshalb ist und bleibt Heideggers Fall kompliziert. Beim Begräbnis sprach auf seinen eigenen Wunsch hin ein befreundeter katholischer Priester, und sein Sohn Hermann sprach Hölderlin-Gedichte mit Anrufungen der griechischen Götter. Heidegger heute zu lesen kann nur bedeuten, solche Ambivalenzen mit der maximalen Geduld erkennbar zu machen.

Dieses Werk, das derzeit in 102 Bänden vorliegt, ist in seinem Gehalt außerordentlich reich. Die Forschungen zu besonderen Aspekten nehmen aus guten Gründen kein Ende. Sie betreffen rein logische Fragen ebenso wie solche der Existenz, die im Frühwerk im Mittelpunkt gestanden hatten. In „Sein und Zeit“ sprach Heidegger vom Tod als dem Gegensatz zum Dasein. Die katholische Pariser Philosophin Elisabeth Kessler bereitet eine Veröffentlichung in der Zeitschrift „Religions“ vor, die Heideggers Deutung der Sterblichkeit in den Zusammenhang von Pascal und Lessing stellen wird.

Konzeptualisierung der Geschlechter

Andere Arbeiten, deren Publikation kurz bevorsteht, gehen auf eine umfangreiche Vorlesung der späten zwanziger Jahre zurück, in der Heidegger über das Wesen der Tiere nachdachte. Unvermeidlich ist auch die Frage nach Heideggers Konzeptualisierung der Geschlechter, die schon Jacques Derrida aufgeworfen hatte, deren Gehalt aber noch längst nicht ausgeschöpft ist, zumal seither viele Briefwechsel und Schriften bekanntgeworden sind. Schließlich dürften sich auch die Künste – und hier besonders Plastik und Bildhauerei – in ihrer Bedeutung für Heideggers Denken „vom Raum her“ als ertragreich für die weitere Forschung erweisen.

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