Die Schriftrollen vom Toten Meer, die Beduinen zwischen den Jahren 1947 und 1952 in elf Höhlen nahe der archäologischen Städte Khirbet Qumran im Westjordanland entdeckt haben, sind nicht nur für Theologen und Historiker interessant. Deshalb werden die bereits seit vielen Jahren unter dem Dach der Akademie der Wissenschaften in Göttingen betriebenen Forschungen an den Inhalten der neun Buchrollen und den weiteren zahlreichen Schriftfragmenten in einem neuen Projekt fortgeführt. Mit dem Arbeitstitel „Qumran Digital – Text und Lexikon“ wird ein komplettes philologisches Lexikon zu den etwa 1 000 hebräischen und aramäischen Handschriften vom Toten Meer entstehen, das bereits im kommenden Jahr in Teilen nicht nur Wissenschaftlern, sondern auch der interessierten Öffentlichkeit vieles zu erzählen hat.
Eine unschätzbare Quelle religiösen Wissens
„Wir gewinnen aus den Schriften nicht nur interessante Erkenntnisse für die Bibelwissenschaftler. Noch spannender ist das Wissen, das sie uns über die jüdischen Lebens- und Vorstellungswelten der Zeit des Zweiten Tempels von etwa 300 vor Christi Geburt bis 150 Jahre danach vermitteln“, erklärt der Leiter des Projekts, der Göttinger Professor Reinhard Kratz. „Der Qumran-Fund ist deshalb so spektakulär, weil es sich um die ältesten handschriftlichen Zeugnisse der Hebräischen Bibel und vieler bis dahin unbekannter Schriften handelt.“ Viele der Schriften seien zwar schon aus der hebräischen oder der griechischen Bibel bekannt. Interessant sei hierbei aber auch, dass die Geschichten immer wieder in verschiedenen Textfassungen und teilweise auch inhaltlich abweichenden Wiedergaben zu finden seien.
Fluide biblische Geschichte
„Die Erkenntnis daraus: Es gibt nicht einen festgelegten kanonischen Text, sondern die biblischen Geschichten sind durchaus fluide“, berichtet Kratz. Das stimme nicht mit der Idee des einen von Gott gegebenen Textes überein, den es so auch wohl nicht gegeben habe. Andere Schriftfragmente bezögen sich auf so genannte parabiblische Texte, die man bisher nur aus Übersetzungen in andere Sprachen gekannt habe und die zum größten Teil dieselbe Autorität gehabt hätten, wie die, die Einzug in den Bibelkanon gefunden hätten. Unter den Qumranschriften hätten sich Fragmente der Originaltexte in hebräischer oder aramäischer Sprache befunden.
Das Leben in der Gemeinschaft
Eine dritte Gruppe von Texten handle vom Leben der Qumran-Gemeinschaft und allgemeiner von jüdischem Leben in der damaligen Epoche. Sie bieten, so Kratz, eigentlich den spannendsten Einblick, da vieles andere schließlich bereits lange bekannt gewesen sei, Erkenntnisse über die Lebensverhältnisse einer religiösen Gemeinschaft in der damaligen Zeit in schriftlicher Form aber eben nicht vorgelegen hätten. „Die Gemeinschaft von Qumran wird oft mit den Essenern gleichgesetzt“, erklärt der Bibelwissenschaftler. Ob beide wirklich identisch gewesen seien, oder nur eine ähnliche Lebensweise an den Tag gelegt hätten, sei heute wieder eher umstritten. Soweit die Qumran-Gruppe oft als „Sekte“ bezeichnet wird, weist Kratz darauf hin, dass die damit verbundene Konnotation im deutschen Sprachgebrauch der Beschreibung nicht gerecht werde. Es habe sich vielmehr um eine weit verbreitete Ausrichtung im Judentum gehandelt. Die Besonderheit der Gruppe sei es gewesen, dass sie ihre Lebensvollzüge radikal an der Thora des Mose und den biblischen Schriften ausgerichtet hätte. Sie habe ein hochreligiöses Leben geführt, das man heutzutage fast schon als fundamentalistisch oder pietistisch einordnen könne.
„Die Geschichten, die diese Schriften erzählen, stehen zwischen dem biblischen Judentum und den Traditionen und dem, was sich daraus im frühen Christentum und im rabbinischen Judentum entwickelt hat“, ergänzt Kratz. Und genau an dieser Schnittstelle, um die sich die Göttinger Forschungen in den letzten 20 Jahren gedreht hätten, setze jetzt das neue Projekt, das auf zwölf weitere Jahre angelegt sei, an.
Bunt und lebendig
Die Qumranforscherin Annette Steudel beschreibt einige Besonderheiten, die in den Schriften der Gemeinschaft erwähnt sind. Zum einen seien die Schriften deshalb von so großer Bedeutung, weil sie einen Teil der jüdischen und damit auch unserer christlichen Geschichte erzählten, der so für uns völlig unbekannt war. „Das Leben hat sich bunt und lebendig, nicht nur zwischen den Buchdeckeln der Bibel abgespielt. Es gab unterschiedliche Gruppen und Gemeinschaften, die verschiedene Ansichten hatten, die wir in ihren Gebetstexten, aber vor allem in den einfachen Beschreibungen der Veranstaltungen und Gruppenregeln wiederfinden“, berichtet Steudel. „In der Versammlung der Gemeinschaft durfte man nicht spucken, man wurde bestraft, wenn man eingeschlafen ist, und durfte auch nicht nackt umherlaufen, denn dann wurde die Essensration gekürzt.“ Das sind für die Wissenschaftlerin einzigartige Einblicke.
Die von vielen erwarteten Erkenntnisse zu authentischen Informationen über Jesus, Paulus oder Johannes den Täufer hätten die Schriftrollen nicht gebracht. Auch eine genaue Identifikation der Gruppe sei nicht möglich, da in dem Schrifttum regelmäßig keine Klarnamen, sondern nur Umschreibungen (Chiffren) benutzt worden seien. So spreche man dort unter anderem vom „Lehrer der Gerechtigkeit“, ein Gegner werde beispielsweise als „Frevelpriester“ bezeichnet. Auch sei es schwer von einer konsistenten Gruppe zu sprechen, da sich die Gemeinschaft durchaus in dem Zeitraum, in dem sie aktiv war, entwickelt habe. Die Handschriften seien, so Steudel, im Übrigen nicht nur für Theologen, sondern auch für Literaturwissenschaftler von großem Interesse, da sie zeigten, wie Literatur in der damaligen Zeit entstanden sei und wie sich ein Werk in verschiedenen Etappen entwickelt habe.
Eine große Bibliothek
„Was die Forschung an den vorgefundenen Texten erschwert, ist, dass es sich um eine Bibliothek der Qumran-Gemeinschaft gehandelt hat, und eben nicht alle Texte in der Gruppe selbst entstanden sind“, berichtet der Semitist Ingo Kottsieper, der wie Steudel bereits in dem vorherigen Projekt mit Reinhard Kratz zusammengearbeitet hat. Dieser Umstand sei besonders interessant, da eben nicht nur jeder sein eigenes Buch vor sich hergetragen, sondern man sich tatsächlich auch mit dem Sammeln anderer Schriften befasst habe. Kottsieper ist in dem Projekt, gemeinsam mit einem Kollegen, der noch eingestellt wird, unter anderem auch dafür zuständig, dass das digitale Format so entsteht, dass es nicht nur für Wissenschaftler, sondern auch für interessierte Internetnutzer leicht zugänglich und zu durchforschen ist.
Diese große Herausforderung wird allerdings dadurch erleichtert, dass sich die Wissenschaftler schon beim Start des Vorprojektes dafür entschieden haben, digital zu arbeiten. „Wir waren schon von Beginn an ein ,digital born project‘. Das war damals, zu Beginn unseres Jahrtausends, durchaus noch nicht üblich und habe einiges an Überzeugungsarbeit gebraucht“, beschreibt Kottsieper. Die Herangehensweise, alle Texte und Fundstellen zugänglich zu machen, sei ein großer Gewinn an Transparenz. An einen solchen „Kulturbruch“ müssten sich traditionellere Wissenschaftler erst noch gewöhnen. Bei einer Präsentation des damaligen Projektes und der Vorstellung, dass alle User alle Hintergründe nachforschen könnten, habe einer seiner Zuhörer angemerkt: „Dann können wir ja kontrolliert werden“, erzählt Kottsieper schmunzelnd.
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