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Zeichen der Zeit als neue Offenbarungsquelle?

Über Versuche, die Architektonik theologischer Erkenntnislehre zu verändern.
Zeichen der Auferstehung und der menschlichen Lebenswelt
Foto: Arne Dedert (dpa) | Synodaler Weg zählt Zeichen der Zeit und Glaubenssinn der Gläubigen zu den loci theologici, Orten der Offenbarung .

Einer der meist zitierten Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils ist ohne Zweifel Nr. 4 der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ (GS): Zur Erfüllung ihres Auftrags, der Welt das Evangelium zu verkünden, so heißt es dort, habe die Kirche die Pflicht, „nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten“. Dazu sei es nötig, „die Welt, in der wir leben, ihre Erwartungen, Bestrebungen und ihren oft dramatischen Charakter zu erfassen und zu verstehen“.

Zeichen der Auferstehung und der menschlichen Lebenswelt

„Gaudium et spes“ spricht anders von den Zeichen der Zeit als Jesus in Mt 16,1–4, der einzigen Stelle im Neuen Testament, an der das Bild aufkommt: „Da kamen die Pharisäer und Sadduzäer zu Jesus, um ihn zu versuchen. Sie forderten von ihm, ihnen ein Zeichen vom Himmel zu zeigen. Er antwortete ihnen: Wenn es Abend wird, sagt ihr: Es kommt schönes Wetter; denn der Himmel ist feuerrot. Und am Morgen sagt ihr: Heute kommt schlechtes Wetter, denn der Himmel ist feuerrot und trübt sich ein. Das Aussehen des Himmels wisst ihr zu beurteilen, die Zeichen der Zeit aber könnt ihr nicht beurteilen. Diese böse und treulose Generation fordert ein Zeichen, aber es wird euch kein anderes gegeben werden als das Zeichen des Jona. Und er ließ sie stehen und ging weg.“

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Das Zeichen des Jona, auf das Jesus verweist, ist kein kosmisches Zeichen, sondern das Zeichen der Auferstehung des Menschensohnes nach drei Tagen und drei Nächten (vgl. Mt 12,40). Die Zeichen der Zeit, von denen Jesu spricht, haben es mit dem Einbruch des Reiches Gottes zu tun, zu dem wir uns verhalten müssen. In diesem Sinne spricht Lk 12,56 – ohne das Bild von den Zeichen der Zeit – vom „Kairos“, der Entscheidung. Bei den Zeichen der Zeit in "Gaudium et Spes" 4 geht es weder um Zeichen des angebrochenen Reiches Gottes noch um Zeichen der Parusie Christi (Mt 24,29), sondern um Zeichen der menschlichen Lebenswelt, bei denen zu unterscheiden ist, welche davon „wahre Zeichen der Gegenwart oder des Ratschlusses Gottes sind“ und welche nicht.

Zeichen der Zeit werden offenbarungstheologisch aufgeladen 

Zwar hat die Kirche aus der Geschichte und Entwicklung der Menschen vielfach Hilfe empfangen, etwa durch die „Erfahrung vergangener Zeiten“, die „Wissenschaften (scientiae) oder die Kulturen“. Kirche und Theologie müssen die „Sprachen unserer Zeit“ hören. Die Geschichte kennt aber auch viele für den Menschen gefährliche „Ideologien“.

Es fällt auf, dass die Zeichen der Zeit heute von einzelnen Theologen offenbarungstheologisch aufgeladen werden. Leitend ist dabei eine fragwürdige Konzilshermeneutik, die in der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“, die Christian Bauer als „zweite Offenbarungskonstitution“ einstuft, als den Schlüssel zur Interpretation der Konzilstexte sieht und nicht in den beiden Dogmatischen Konstitutionen „Dei Verbum“ über die göttliche Offenbarung und „Lumen gentium“ über die Kirche. Auf eine griffige Formel gebracht: Die Pastoral interpretiert die Lehre und korrigiert sie gegebenenfalls.

Zweifelhafte Quelle göttlicher Selbstmitteilung

Zwar ordnen manche Autoren die Zeichen der Zeit den Orten der Theologie zu, die Melchior Cano (1509–1560) in seiner Theologischen Erkenntnislehre „fremde Orte“ (loci alieni) der Theologie nennt und zu denen der Dominikaner neben der natürlichen Vernunft, die Philosophie und die Geschichte rechnet, wobei hier im Blick ist, was wir die „historische Rekonstruktion geschichtlicher Ereignisse“ nennen. Doch immer häufiger wird von Theologen bei den Zeichen der Zeit mit dem Wortfeld „Offenbarung“ operiert. Der Theologe Christoph Böttigheimer sieht in den Zeichen der Zeit eine „Quelle göttlicher Selbstmitteilung“, der Theologe Christoph J. Amor nennt sie „wirkliche Offenbarungsorte“. Die Zeichen der Zeit werden in die Nähe von Schrift und Tradition gerückt, bei denen es sich nach Cano um die primären Orte der Theologie (loci theologici primarii) handelt, sofern sie ihre Grundlage in der göttlichen Offenbarung haben.

Leo Nowak, der frühere Bischof von Magdeburg, sieht in den Zeichen der Zeit eine dritte Quelle der Offenbarung neben Schrift und Tradition – so in einem auf der Homepage des Bistums zum Jahr des Glaubens abgedruckten Kommentar. Von Quellen (fontes) der Offenbarung zu sprechen, läuft freilich der Konstitution „Dei Verbum“ über die göttliche Offenbarung diametral entgegen, da sie gegen die neuscholastische Theorie von zwei Quellen der Offenbarung (Schrift, Tradition) nur eine einzige Quelle der Offenbarung anerkennt: Aus dem einen göttlichen Quellgrund (divina staturigo) des Evangeliums Gottes, so heißt es in Dei Verbum 9, entspringen Schrift und Tradition. Sie bilden die beiden Formen der Überlieferung der Offenbarung. Daraus folgt, dass die eine göttliche Offenbarung, die im Glauben erkannt und in Schrift und Tradition weitergegeben wird, den fundamentalen Bezugspunkt theologischer Erkenntnis darstellt. Die Zeichen der Zeit sind von hieraus zu deuten, nicht umgekehrt.

Glaubenssinn und Zeichen der Zeit sind keine loco theologici

Der in erster Lesung abgestimmte Grundtext „Macht und Gewaltenteilung in der Kirche“ des Synodalen Weges tendiert dagegen dazu, Schrift, Tradition und Zeichen der Zeit auf eine Stufe zu stellen: „Sowohl die Heilige Schrift und die kirchliche Tradition als auch die ,Zeichen der Zeit‘ geben Weisungen für das immer neue ,Aggiornamento‘ der Kirche, ihr Heutigwerden. Keine der Bezeugungsinstanzen ist absolut zu setzen oder unkritisch geltend zu machen.“

Mit Verweis auf „Lumen Gentium“ 12 und "Gaudium es Spes" 4 wird behauptet, das Zweite Vatikanische Konzil habe den „Glaubenssinn“ und die „Zeichen der Zeit“ als „Orte der Theologie“ neu herausgestellt, obschon an den zitierten Stellen von „loci theologici“ überhaupt nicht die Rede ist, und der Glaubenssinn der Gläubigen (sensus fidei fidelium) nur dort nicht in die Irre führt, wo er von der Gesamtheit der Gläubigen des Gottesvolkes getragen wird, das heißt von Bischöfen bis zu den Laien der katholischen Kirche, die in und aus verschiedenen Ortskirchen besteht.

Neuer Schriftsinn wird erfunden

Im „Orientierungstext“, der auf der dritten Synodalversammlung in zweiter Lesung mit dem erforderlichen Quorum bischöflicher Zweitdrittelmehrheit beschlossen wurde, werden die Zeichen der Zeit mit Schrift und Tradition sowie dem sensus fidelium, dem Lehramt und der Theologie zu den wichtigsten Orten theologischer Erkenntnis gerechnet, wobei zwischen den „loci“, die ihre Grundlage in der göttlichen Offenbarung haben, und den anderen „loci“ nicht unterschieden wird. So ist von „Zeiten der Theologie“ die Rede, die „das ,Heute‘ der Stimme Gottes in je verschiedenen Kontexten entdecken lassen.“

Weiter wird mit dem „aktuellen Sinn“ gegenüber dem vierfachen Schriftsinn ein neuer Schriftsinn erfunden, der es erlaubt, „in der Gottesgeschichte unsere eigene Lebensgeschichte zu entdecken“. Schließlich werden die Zeichen der Zeit explizit als Offenbarungsorte qualifiziert: „Die Zeichen der Zeit stehen für Momente, in denen sich etwas Bedeutsames offenbart und zur Entscheidung zwingt.“

Theologin: OutInChurch ist "theologisch eine Offenbarung"

Dazu zählt der Synodale Weg ganz offensichtlich, darauf deutet etwa der in erster Lesung abgestimmte Grundtext des Synodalforums zur „Liebe in Sexualität und Partnerschaft“ hin, das uneingeschränkte Recht auf sexuelle Selbstbestimmung, die weitgehende Angleichung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften an die Ehe von Mann und Frau sowie die Pluralität und Fluidität sexueller Identitäten (Gender- und Queer-Bewegung). Dazu passt, dass Hildegund Keul, die zwar selbst nicht Mitglied des Synodalen Weges ist, aber mit seinen Anliegen sympathisiert, die jüngste Initiative #OutInChurch „theologisch eine Offenbarung“ nennt, womit eine Art fortgesetzte Offenbarung (revelatio continua) beansprucht zu sein scheint.

Während es in „Gaudium et spes“ heißt, dass die Zeichen der Zeit im Licht des Evangeliums gedeutet werden müssen, behauptet der „Orientierungstext“, dass es der Glaubenssinn der Gläubigen (sensus fidei fidelium) sei, der die Zeichen der Zeit deute, wobei der Glaubenssinn selbst ein Ort der Offenbarung sein soll: „So ereignet sich im Glaubenssinn der Gläubigen immer wieder neu eine Selbstmitteilung Gottes.“

Im Licht des Evangeliums deuten

Nach "Dei Verbum" 8 gibt es freilich kein Wachstum in der Offenbarung selbst, sondern nur in ihrem tieferen Verständnis. Da das Evangelium, das uns die Heilige Schrift vermittelt, und die heilige Überlieferung voneinander nicht zu trennen sind, entspringen sie doch ein und demselben göttlichen Quell, müssen die Zeichen der Zeit im Licht des Evangeliums sowie der sacra traditio gelesen und gedeutet werden.

Es heißt zwar in "Gaudium et Spes" 11, „alles wahrhaft Menschliche“ solle im Herzen der Jünger Christi „seinen Widerhall“ finden. Allerdings gilt es bei den Zeichen der Zeit genau „zu unterscheiden, was darin wahre Zeichen der Gegenwart oder des Ratschlusses Gottes sind.“ Die Stimmen und die verschiedenen „Sprachen unserer Zeit“ können nicht einfach mit der Stimme Gottes und seinem Willen gleichgesetzt werden. Glaubenshermeneutik in unserer Zeit hieße sonst nämlich, den Glauben der jeweiligen Zeit, in der er zu verkünden ist, anzupassen. So aber war das Programm des „Aggiornamento“, das Johannes XXIII. für das Konzil vorgab, niemals gemeint, ist doch die Kirche zwar in der Welt, aber nicht von der Welt.

Lehramt dient dem Wort Gottes

In "Dei Verbum" 10 erklären die Konzilsväter, dass es ausschließlich dem Lehramt der Kirche zukommt, „das geschriebene oder überlieferte Wort Gottes authentisch (das heißt letztverbindlich) auszulegen“, wobei das Lehramt „nicht über dem Wort Gottes“ steht, sondern „ihm dient“. Daraus macht der „Orientierungstext“: „Aufgabe des Lehramtes ist, die verbindliche Auslegung der Heiligen Schrift zu bezeugen“. Das Lehramt wird darauf reduziert, die verbindliche Schriftauslegung zu testieren. Wer aber soll über die authentische Auslegung der Schrift entscheiden, die Exegeten oder die Dogmatiker in der Vielfalt ihrer zum Teil konträren Stimmen?

Von der Theologie sagt "Dei Verbum", dass sie ihr „bleibendes Fundament“ im „geschriebenen Wort, zusammen mit der Heiligen Überlieferung“ hat. Der Synodale Weg verändert, gestützt auf einzelne Theologen, die Architektonik der theologischen Erkenntnislehre, indem er Schrift und Tradition an den Zeichen der Zeit als neuen Offenbarungsorten misst.

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