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Stößt Kants „Autonomie“ die klassische kirchliche Sexualmoral um?

Freiheit ohne Bewusstsein für das Richtige, ist Beliebigkeit. Wer allerdings nur „gut“ sein will, weil er Angst vor Gottes Beurteilung hat, ist nicht wirklich frei. Erst wenn er einsieht, dass Gott das Richtige von ihm erwartet, wird er eine wirklich freie Persönlichkeit sein.
Kant und seine Tischgenossen, kolorierter Holzstich von Emil Doerstling
Foto: public domain

In der europäischen Freiheitsgeschichte geht es keineswegs ursprünglich um die Freiheit eines Einzelnen gegenüber einer Gruppe, vielmehr um die gesetzlich geordnete Freiheit eines Volkes gegenüber der Unfreiheit und Gesetzlosigkeit eines anderen Volkes. Historisch wird diese Erfahrung erstmals im Konflikt zweier Lebensformen gemacht: bei den Juden mit dem Auszug aus Ägypten, bei den Griechen in den Perserkriegen. Die griechische eleutheria ist nicht der Gegenbegriff zum Gesetz, sondern zur Knechtschaft, doulia, der barbarischen Heere: Es ist Freiheit, das erprobte Gesetz zu verteidigen. „Frei sind sie nämlich, aber nicht in allem frei. Über ihnen steht nämlich das Gesetz als Herr, das sie noch viel mehr fürchten als deine Leute dich. Sie führen aus, was immer jenes ihnen befiehlt.“ (Herodot, Perserkriege 6, 104, 4)

„Autonomie kann nicht sein, wie Jacobi das nannte, eine ‚Selbstgötterey‘.
In ihr steckt nach Blumenberg vielmehr verblüffend: ein ‚autonomer Gehorsam‘“

Auch in der Präambel der mosaischen Zehn Gebote weht der Atem der Freiheit: „Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus dem Sklavenhaus Ägypten geführt hat“ (Ex 20, 2); so wird das befreite Volk in einen gemeinsamen Raum von Tun und Lassen eingewiesen. Mit der Erfahrung Jesu bricht bei Paulus dann der Gedanke der Freiheit des Einzelnen durch: nicht mehr hineingestellt zu sein in die natürliche blutmäßige Ordnung von „Jude oder Grieche“ (Gal 3, 28), sondern in die neue Ordnung der „herrlichen Freiheit der Kinder Gottes“ (Röm 8, 21).

Damit steigert sich das Freiheitsbewusstsein des Einzelnen, ja der Begriff des Einzelnen wird dadurch erst wesentlich geschaffen. Aus der politischen Freiheit Vieler wird die Freiheit des individuellen Tuns. Thomas von Aquin (De malo 6) konzentriert die Tradition zu einem unerhörten Wort: „Wer das Böse meidet wegen der Gebote des Herrn, ist nicht frei. Wer das Böse meidet, weil es böse ist, ist frei, denn er handelt aus sich selbst. Der Freie ist die Ursache seiner selbst.“

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Ihm entspricht das augustinische „Liebe, und tu, was du willst.“ Augustinus bezieht Freiheit auf Liebe, Thomas bezieht Freiheit auf Einsicht - frei wird man also im Blick „auf etwas“, etwas Begründendes. Wahlfreiheit - ich wähle dies oder etwas anderes - ist schwache Freiheit; Wesensfreiheit ist starke Freiheit: Ich wähle dies aus mir selbst heraus, weil es das Richtige ist.

Bei einigen Stichwortgebern für die geplante Neuschreibung kirchlicher (Sexual-)Moral wirkt das Wort Autonomie als Zauberstab. Kant wird ausgerufen zum Gewährsmann einer „autonomen Moral“, die in sich selbst gründet und keine Fremdbestimmungen braucht. Insbesondere könnte solche Autonomie über den eigenen Leib, die Liebe, das Leben verfügen, von der Ausübung der Sexualität (homo-, bi-, hetero- etc.) über die Wahl des eigenen Geschlechts (Trans-Identitäten) bis zum „freiwilligen“ Suizid. Ist Kant dafür tatsächlich ein Gewährsmann? Letztlich stellt man ihn damit von den Füßen auf den Kopf.

Ich soll, was ich will? Oder doch: Ich will, was ich soll?

Autonomie wird in Kants „Kritiken“ theoretisch verstanden als „Selbstgesetzgebung der Vernunft“ und praktisch-moralisch als „Selbstgesetzgebung des Willens“. Wichtig: Kant unterscheidet zwischen Freiheit und Autonomie. Der allgemeine Begriff Freiheit wird erst dann zur Autonomie, wenn die praktische Vernunft das sittlich Gesollte auch einsieht und tut. Das bedeutet eine vorausgehende Einsicht: Das sittlich Gesollte muss als Gutes verstanden sein, dann vollzieht man es zustimmend, „von selbst“, autonom.

Einfacher: Ich tue, was gesollt ist = was ich als gut eingesehen habe. Nochmals anders: Ich soll wollen, was ich soll. Noch kürzer: Ich will, was ich soll. (Und eben nicht: Ich soll, was ich will.) Autonomie ist die verwirklichte Freiheit des sittlich guten Willens bei Kant. Das Sittliche muss daher in seiner begründeten Forderung verstehbar sein, nicht nur für den Einzelnen, sondern für alle vernünftig Denkenden. Es gibt nicht eine solipsistische = subjektive Sittlichkeit, keine individuellen moralischen Entscheidungen, die nicht allgemein vernünftig zu beurteilen wären. Auch Sittlichkeit ist vernünftig, gerade sie!

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Kants Imperativ ist ein Gesetz, das es nicht gibt

In Kants schönem, wenn auch schwierigen Deutsch heißt das so: Autonomie ist „die Beschaffenheit des Willens, dadurch derselbe ihm selbst (unabhängig von aller Beschaffenheit der Gegenstände des Willens) ein Gesetz ist. Das Prinzip der Autonomie ist also: nicht anders zu wählen als so, dass die Maximen seiner Wahl in demselben Wollen zugleich als allgemeines Gesetz mit begriffen werden.“ (Metaphysik der Sitten (1785), AA 4, 440) Damit ist der kategorische Imperativ gerade auch in der Autonomie wirksam, als „die Form des Wollens, in Gestalt eines allgemeinen Gesetzes, das er sich selbst gibt“. Wer derart autonom ist, entscheidet sich für das Gesollte unabhängig von der Sinnenwelt und ihren natürlichen Begierden und Neigungen, unabhängig vom Mechanismus der Naturtriebe; vielmehr „abhängig“ von der allgemein verständlichen Vernünftigkeit des Sittlichen.

Gibt es Raum für Gott in der kantischen Selbstgesetzgebung - sei es der Vernunft, sei es des Willens? Oder taucht Gott nur in der Gestalt der Fremdbestimmung im christlichen (oder anderen) Glauben auf: Du musst, weil Ich es will? Das gerade will Kant ausschließen. Menschen sind als endliche Vernunftwesen eingeschränkt, sowohl im Gebrauch der Vernunft als auch im Gebrauch des Willens. Ihnen ist erfahrungsgemäß eine „Anlage“ zum Guten wie ein „Hang“ zum Bösen eigen, weswegen sie die Einsicht in das allgemeine Sittengesetz erst erstreben, ja erarbeiten müssen (nicht zuletzt durch das Lernen von Geboten und Verboten).

Gott:: reine Vernunft und reiner Wille, moralisch gut

Der Begriff „Gott“ aber ist uneingeschränkt in seiner Vernunft wie in seinem Willen; er ist ungehindert, das moralisch Gute zu erkennen und zu wollen. Er selbst ist und will das Sittlich-Gute. Gott als reines Vernunftwesen und als reiner Wille sowie das zur Anerkennung vorliegende Sittengesetz sind in eins zu denken. Kantische Autonomie verpflichtet auf eine allen gemeinsame sittliche Vernunft (formal), die als Gesetzgebung (inhaltlich) allen gleichermaßen einsichtig ist. Sie schließt daher deutlich aus, dass Einzelne formal auf unbedingte Anerkennung ihrer Autonomie pochen und inhaltlich beliebige Moralen und Eigeninteressen beanspruchen.

Denn sittliche Vernunft umfasst gemeinsame ethische Inhalte, die als solche gegeben und nicht verhandelbar sind (was schon im Ausdruck „Gesetz“ hörbar wird). So heißt es in der „Religionsschrift“ (B 219): „Daß der Mensch durchs moralische Gesetz zum guten Lebenswandel berufen sei, daß er durch unauslöschliche Achtung für dasselbe, die in ihm liegt, auch zum Zutrauen gegen diesen guten Geist und zur Hoffnung, ihm, wie es auch zugehe, genug thun zu können, Verheißung in sich finde, endlich, daß er, die letztere Erwartung mit dem strengen Gebot des ersteren zusammenhaltend, sich als zur Rechenschaft vor einem Richter gefordert beständig prüfen müsse: darüber belehren und dahin treiben zugleich Vernunft, Herz und Gehorsam.“

Aufklärung über die Aufklärung

Aufklärung kann daher nicht mehr bedeuten: Befreiung der Moral von angeblicher Fremdbestimmung, sondern Befreiung von der Täuschung einer formal leeren Selbstbestimmung. Sie ist nämlich Täuschung, wenn sie als schlechte Wahlfreiheit „immer auch anders könnte wählen “ ohne ein vorgängig „Gutes“, auf das sie sich richtet, mehr noch: von dem sie selbst ausgerichtet wird. Der Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit enthält die freie Zustimmung zum verbindlichen Sittengesetz. Dass dieses selbst ein gegebenes – sogar ein verdanktes – ist, macht die Zustimmung nicht kleiner. Kants Autonomie gründet auf einem vorausgesetzten Guten, ohne es einzuholen. Vielmehr wird sie umgekehrt vom Guten in Gang gesetzt. Autonomie kann nicht sein, wie Jacobi das nannte, eine „Selbstgötterey“. In ihr steckt nach Blumenberg vielmehr verblüffend: ein „autonomer Gehorsam“.

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