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Abfall vom Ursprung? 

Über das Verhältnis von Apostelnachfolge, Kollegialität und den Primat des Bischofs.
Petersplatz Heiligenstatue
Foto: Evandro Inetti via www.imago-images.de (www.imago-images.de) | Schon im zweiten Jahrhundert weist der einzelne Ortsbischof seine Bekenntnisgemeinschaft (Communio) mit den übrigen Ortskirchen dadurch aus, dass er mit möglichst vielen anderen Bischöfen kommuniziert, erinnert Menke.

In dem vom Ökumenischen Arbeitskreis [ÖAK] erarbeiteten Papier „Gemeinsam am Tisch des Herrn“ bestätigen die beteiligten Katholiken ihren protestantischen Gesprächspartnern, sie seien auch ohne das Institut der Apostelnachfolge (successio apostolica) dem apostolischen Ursprung treu geblieben.  Doch so einfach lässt sich die Frage nicht beruhigen, wie sich überprüfen lässt, was da behauptet wird. Ganz offenkundig besteht die den Protestanten attestierte Treue zum apostolischen Ursprung nicht in deren gemeinsamer Interpretation der neutestamentlichen Schriften. Denn der Protestantismus ist von Anfang an von Spaltungen gezeichnet, deren Verursacher sich gleichermaßen auf dieselbe Schrift berufen. Ja, man darf feststellen: Die reformatorische Fiktion von der geistgewirkten Selbstauslegung der Schrift ist von der Geschichte so gründlich widerlegt worden, dass nur noch fundamentalistische Ideologen das Gegenteil behaupten. Die Frage lässt sich nicht mit Konsenserklärungen verdrängen: Wer scheidet zutreffende von irrigen Schriftinterpretationen? Synoden, die per Abstimmung ein Mehrheits- gegen ein Minderheitsvotum durchsetzen? Aber wie verbindlich ist ein Mehrheitsvotum, wenn es keine Instanz gibt, die dessen Schrifttreue garantiert? Bekanntlich gibt es eine ganze Reihe von protestantischen Theologen, die selbst Bekenntnisschriften wie die Confessio Augustana  für zwar nützlich, aber nicht verbindlich halten. 

Die Verfasser des ÖAK-Papiers „Gemeinsam am Tisch des Herrn“ erklären: „Die Treue zum apostolischen Ursprung wird in der Nachfolge Christi nicht von Menschen garantiert, sie ist vielmehr eine Gabe des Geistes Gottes.“  Als wenn es neben der Offenbarkeit durch Inkarnation noch eine zweite Offenbarkeit Gottes durch Inspiration gäbe. Nein! Jede neutestamentliche Aussage über das Wirken des Heiligen Geistes bestätigt das Gegenteil. Das Pfingstfest feiert die Vollendung des Osterfestes, nicht dessen Ergänzung oder gar Überbietung. 

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Amt und Charisma unterscheiden 

Die Geschichte des Christentums kennt eine Grundversuchung. Es ist die Versuchung aller Gnostiker und geistlichen Schwärmer. Sie berufen sich auf ihre persönliche Inspiration durch den Heiligen Geist; sie ersetzen den historischen Jesus durch den pneumatischen Christus und die apostolische Vermittlung der Wahrheit durch das angeblich unmittelbare Sprechen des Geistes. Und sie verwechseln das Amt der Apostelnachfolge mit einem Charisma. Aber ein Charisma wird nicht durch Handauflegung übertragen. Ein Charisma ist eine dem Einzelnen geschenkte Begabung. Selbstverständlich soll jeder, der in die apostolische Nachfolge gerufen wird und das Sakrament des Ordo empfängt, auch Charismen vorweisen; deshalb werden Weihekandidaten auf ihre Eignung geprüft. Aber die Gültigkeit der Ordination beruht nicht auf der persönlichen Begabung des Ordinierten, sondern einzig und allein auf der durch das Sakrament des Ordo übertragenen Vollmacht. 

Die Wahrheit, die Person (Jesus Christus) ist, wird nach dem Ereignis von Kreuz und Auferstehung nicht zuerst durch ein Buch, sondern durch Personen repräsentiert. Jesus wählt aus dem Jüngerkreis zwölf Männer aus, die in Analogie zu den zwölf Söhnen Jakobs das neue Israel, die Kirche, repräsentieren. Auf ihr Christuszeugnis ist der Christusglaube der Kirche aller Jahrhunderte wie auf ein Fundament gestellt. Einig sind sich alle Christen in der These, dass das Christuszeugnis der zwölf Apostel kristallin geworden ist in den Schriften des Neuen Testamentes. Einig sind sich alle Konfessionen auch in der Prämisse, dass das apostolische Christuszeugnis nicht ergänzt oder erweitert werden kann. Allerdings verstehen Protestanten das Theologumenon von der inhaltlichen Suffizienz der Schrift anders als katholische oder orthodoxe Christen. Für Protestanten genügt die Schrift allein, um Christus zutreffend und hinreichend zu verstehen. Diese Fiktion wird trotz der vielen Spaltungen des real existierenden Protestantismus aufrechterhalten, weil man das, was bis weit ins 20. Jahrhundert hinein Grund für wechselseitige Exkommunikationen war, nunmehr als Quelle wechselseitiger Bereicherungen rühmt. Der Preis für diesen Etikettenschwindel ist ein desinkarniertes (gnostisierendes) Verständnis der kirchlichen Einheit. Denn eine bloß gedachte Einheit ist keine wirkliche, keine inkarnierte Einheit. 

Verhältnis von Offenbarung und der Schrift 

Das Offenbarungsgeschehen ist nicht identisch mit der Heiligen Schrift. Sie ist, wie gesagt, das kristallin gewordene Christusbekenntnis der frühen Kirche. Sie spiegelt das Christuszeugnis der Apostel. Aber sie ist nicht die Offenbarung, sondern nur deren Medium. Erst wo die Schrift verstanden wird, gelangt die Offenbarung an ihr Ziel. Ohne das Verstehen ihrer Adressaten bleibt die Schrift  toter Buchstabe. Und nicht jedes Verstehen ist richtiges Verstehen. Richtig verstanden wird die Offenbarung nur unter der Voraussetzung, dass es eine Repräsentanz des gründenden, leitenden und richtenden ,Voraus‘ Christi vor seiner Kirche gibt. Gemeint sind die Apostelnachfolger bzw. Bischöfe. Auch von protestantischen Kirchenhistorikern wird nicht bestritten, dass sich das Amt des Apostelnachfolgers bzw. Bischofs bereits im zweiten Jahrhundert flächendeckend etabliert hat. Die Leiter der von den Aposteln gegründeten Gemeinden sind sich von Anfang an bewusst, dass sich an ihrem Christusbekenntnis entscheidet, ob die Kirche ihrem Ursprung treu bleibt oder nicht. Sie dürfen dem Zeugnis der Apostel nichts hinzufügen. Aber wenn es Streit über die richtige Auslegung des in den neutestamentlichen Schriften kanonisierten Christuszeugnisses gibt, dann entscheiden die Bischöfe, welche Interpretation wahr und welche falsch ist. Und wenn sich unter ihnen kein Konsens erzielen lässt, hat nicht die  Mehrheit das letzte Wort, sondern der Bischof, der die Gründung seines Bistums auf einen Urapostel zurückführt. Die ersten Synoden waren Versammlungen von Nachbarbischöfen, unter denen in der Regel einer mit dem Anspruch auf direkte Apostelnachfolge auftrat. 

Solange Protestanten die Treue zum apostolischen Ursprung von dem Institut der Apostelnachfolger (Bischofskollegium) trennen, kann es keine Einladung zur gemeinsamen Eucharistie geben. Denn in jeder Eucharistiefeier bekennen sich alle Teilnehmer zur Bekenntnisgemeinschaft mit dem namentlich genannten Ortsbischof und mit dem namentlich genannten Petrusnachfolger. Anders gesagt Die eucharistische Gemeinschaft mit Christus ist wesentlich gebunden an die Bekenntnisgemeinschaft mit den Apostelnachfolgern. 

Schon im zweiten Jahrhundert weist der einzelne Ortsbischof seine Bekenntnisgemeinschaft (Communio) mit den übrigen Ortskirchen dadurch aus, dass er mit möglichst vielen anderen Bischöfen kommuniziert. Der hl. Athanasius und der hl. Basilius umfassen mit der Nennung der Bischöfe, mit denen sie in Briefkontakt standen, das ganze römische Reich. Und sie bezeugen noch ein weiteres Kriterium der Communio ihrer Ortskirchen mit allen anderen Ortskirchen, nämlich das des Alters und besonders das der Gründung durch einen der Urapostel. 

Auf die personale Christusrepräsentation des Nachfolgers Petri verwiesen

Irenaeus stellt die rhetorische Frage: „Wenn über ein Problem, und mag es auch von mäßigem Gewicht sein, eine Diskussion entsteht, ist es da nicht das einzig Richtige, auf die ältesten Kirchen zurückzugreifen, in denen die Apostel gelebt haben, und sich von ihnen für die Lösung des aktuellen Problems Sicherheit und wirkliche Klarheit geben zu lassen?“  Aus dieser Frage lässt sich die Logik ablesen, die mit innerer Konsequenz zur Bezeichnung des römischen Bischofssitzes als Kriterium der Bekenntniseinheit auch mit allen anderen Bischöfen geführt hat. Ein neugeweihter Bischof musste sich nur noch der Communio mit dem Bischof vergewissern, der die Gräber der beiden Apostelfürsten Petrus und Paulus an seinem Sitz vereint; denn spätestens im 3. Jahrhundert konnte man davon ausgehen, dass in der Communio mit dem Petrusnachfolger die Communio mit allen anderen Bischöfen enthalten war. Aus diesem Befund ergibt sich wie von selbst das Verhältnis des Kollegiums aller Apostelnachfolger zum Primat des Petrusnachfolgers. Auch dann, wenn alle Bischöfe des Weltkreises auf einem ökumenischen Konzil mit Mehrheit beschließen, sind sie auf die personale Christusrepräsentation des Nachfolgers Petri verwiesen, weil sie ohne Communio mit ihm nicht das Kollegium der Apostelnachfolger sind. 

Die Väter haben den Primat nicht aus bestimmten Bibelstellen gefolgert. Im Gegenteil: Erst nachdem sich der Primat mit einer ähnlichen Konsequenz wie das Institut der apostolischen Sukzession aus dem Wesen der Kirche entfaltet hatte, wurden sich die Väter bewusst, in welchem Ausmaß der erste Leiter der Ortskirche von Rom schon in der Heiligen Schrift vor allen anderen Aposteln ausgezeichnet ist. Alle vier Jüngerlisten des NT (Mk 3,16-19; Mt 10,2-4; Lk 6,14-16; Apg 1,13) nennen Petrus als den Ersten. Seine Bezeichnung als Kephas bzw. Petrus (Mt 16,17-19) gründet nicht in persönlichen Qualitäten oder Charismen, sondern in einer ihm von außen gegebenen Vollmacht. Denn ausgerechnet er ist es doch, dessen Vermessenheit mit der Abweisung „Weiche von mir, Satan!“ gegeißelt, dessen Kleinglauben vorgeführt, dessen Großmäuligkeit gedemütigt und dessen dreimalige Verleugnung dem Gedächtnis der Kirche für immer eingeschrieben ist. 

Garant der Freiheit - nach innen und außen

Nach Oscar Cullmann (1902-1999)  hat auch Martin Hengel (1926-2009) in seinem bemerkenswerten Buch „Der unterschätzte Petrus“ eine Revision des protestantischen Petrusbildes gefordert. Er schreibt: Insgesamt „wird Petrus mit seinen verschiedenen Namensformen (Petros, Simon, Kephas) allein bei den Synoptikern 75mal und bei Johannes 35mal erwähnt. Insgesamt wird im Neuen Testament seine Person 181mal angesprochen; er übertrifft damit noch Paulus/Saulus/Saul mit 177 Erwähnungen“ . 

Es muss zu denken geben, dass zwei der größten Denker des 19. Jahrhunderts  – der eine aus dem anglikanischen Protestantismus, der andere aus der russisch-orthodoxen Kirche kommend – den Petrusdienst als Garant der Freiheit nach innen und nach außen beschreiben. Der inzwischen heiliggesprochene John Henry Newman (1801-1890) erkennt, dass die Kirche auf Dauer in Gruppen und Richtungen gespalten wird, wenn es nicht eine letzte Entscheidungsinstanz gibt, die ins Wort fasst, was die Kirche diachron und synchron als Wahrheit bekennt. Er weiß sehr genau um die Versuchung des römischen Lehramtes, voreilig zu urteilen und zu verurteilen. Aber er weiß auch, dass Dogmen und Normen das eigene Denken und Suchen nicht behindern müssen, sondern im Gegenteil entzünden können. Ähnlich urteilt Wladimir Solowjew (1853-1900). Detailliert beschreibt er die Geschichte der griechisch- und der russisch-orthodoxen Kirchen als eine Geschichte der Verdemütigung durch die Politik, als Geschichte korrumpierter Ideale. Einer Nationalkirche, so konstatiert er, fehlt die Möglichkeit, die kirchliche Wesenseigenschaft der Katholizität zu realisieren. Solowjew spricht von dem nationalen Egoismus, der das Opfer der Einbringung des Eigenen in das Ganze scheut und deshalb gegen die längst erkannte Wahrheit des eigenen Credo handelt. Solowjew weiß um das von allen Slawen verklärte Ideal einer Einheit, die auf der Freiheit basiert. Aber er weiß auch, dass es in der real existierenden Welt der Machtsphären und konkurrierenden Interessen einer Institution bedarf, die vor der Knechtschaft bewahrt. Und eben diese Institution – so erkennt er immer klarer – ist der Petrusdienst. 


Karl-Heinz Menke ist emeritierter Professor für Dogmatik und Theologische Propädeutik an der Universität Bonn. Seit 2014 gehört er der Internationalen Theologenkommission an.

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