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Zeit der Klarheit

Progressive Träume zerplatzen, die Welt wird grausamer. Christen aber müssen auch in Zeiten des Terrors am Ideal der Versöhnung festhalten.
Blick auf Gaza nach einem israelischen Luftangriff.
Foto: Adel Hana (AP) | Blick auf Gaza nach einem israelischen Luftangriff.

Auge um Auge, Zahn um Zahn. Wer die Videos der ekelhaften Verbrechen der Hamas gesehen, der wird die Reaktion verstehen, durch die nun Gaza in Schutt und Asche gelegt wird. Er wird dem israelischen Verteidigungsminister Jo‘aw Galant nachfühlen können, der gesagt hat „Wir kämpfen gegen Bestien“. Und ist das, was „den Alten“ gesagt ist – ist diese furchtbare Moral der Vergeltung psychologisch nicht irgendwie menschengemäßer als Jesu Wort von der anderen Wange? „Give ‘em hell, Enough is enough“, - „Gib ihnen die Hölle, genug ist genug“, riet etwa der einflussreiche kanadische Intellektuelle Jordan Peterson auf „X“ dem israelischen Premier Benjamin Netanyahu.

Jedenfalls wird in solchen Momenten deutlich, wie schwer es ist, sich dem (un-)heiligen Zorn zu entziehen, der vorerst viele Beobachter im Griff hat. In der berechtigten Wut, die sich nun auch in Deutschland über diejenigen Islamverbände ergießt, die den grauenhaften Hamas-Terror mehr oder weniger unverblümt als politischen Protest verharmlosen, steckt bei einigen wohl auch eine Art bittere Freude über die neue Klarheit. Tatsächlich sind in den letzten Tagen viele liebgewonnene politische Lebenslügen endgültig zerplatzt.

Nicht der erste Zusammenstoß mit der Realität

Und so will sich die Tagesschau-Kommentatorin Natalie Amiri nun mit den Islamisten in Deutschland „anlegen“ – ironischerweise nur wenige Wochen, nachdem Tagesschausprecher Constantin Schreiber angekündigt hat, gar nicht mehr über den Islam sprechen zu wollen. Die einen mag die Erkenntnis wirklich erst jetzt, die „propalästinensischen“ Demonstrationen vor Augen, die dieser Tage in vielen europäischen Städten stattfinden, ereilen: dass mit einer stark muslimisch geprägten Einwanderung nicht zwangsläufig nur bunt-harmonische Vielfalt, sondern auch jede Menge Judenhass verbunden ist. Die Anderen dürfen sich an die Brust heften, nun endlich offiziell im Recht zu sein.

Die Desillusionierung über weite Teile der muslimischen Community ist auch nicht der erste schmerzhafte Zusammenprall mit der Realität. Schon vom ewigen Frieden in Europa und der Freundschaft mit Russland mussten die Deutschen Abschied nehmen. Oder von der Trittin’schen Kugel Eis: genauso teuer sollte die Energiewende für jeden Bürger sein, versicherte der Grünenpolitiker 2004. Die verbreitete Überzeugung der letzten drei Jahrzehnte, dass die Welt zwar vielleicht etwas unübersichtlich sei, der Verwirklichung progressiver Idealvorstellungen aber nicht grundsätzlich im Weg stehe, ist endgültig zerbrochen – und die „Zeitenwende“ wird damit immer mehr auch zur Wende im politischen Bewusstsein, was sich, nebenbei bemerkt, auch an den Ergebnissen der jüngsten Landtagswahlen ablesen lässt.

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Eine Katastrophe, keine Katharsis

Doch was tun mit der neuen Klarheit, mit dem neuen Bewusstsein für Freund und Feind in der Welt? Zur Attacke übergehen? Tatsächlich gibt es, wenigstens im Fall des Nahostkonflikts, (Achtung, Phrasenalarm!) keine einfachen Lösungen. Die „unverbrüchliche“ (Scholz) Solidarität mit Israel ist zwar berechtigter Weise deutsche Staatsräson, und es wird zweifellos spannend werden, zu sehen, welche Konsequenzen die Regierung abseits der üblichen Lippenbekenntnisse innenpolitisch zu ziehen gewillt ist. Demonstrationen können verboten werden, dem Hass auf Israel wird so aber kaum beizukommen sein.

Aus christlicher Sicht falsch ist es jedenfalls auch, in den Chor jener einzustimmen, die jeden Hinweis auf palästinensische Zivilisten, die der israelischen Reaktion zum Opfer fallen, als Täter-Opfer-Umkehr bezeichnen. Dieser gerade erst beginnende Krieg ist schon jetzt ein Blutbad, eine Katastrophe, keine Katharsis. Und so mag es völlig hilflos klingen, wenn Kirchenvertreter im Heiligen Land und im Vatikan zu politischen Lösungen und einem Ende der Gewalt aufrufen. Klar, eine „gerechte“ Zwei-Staaten-Lösung war noch nie so unrealistisch wie heute. Dennoch müssen gerade Christen daran erinnern, dass Versöhnung das Ziel bleibt. Deeskalation lässt sich nicht verordnen. Aber immerhin ist es Jesus selbst, der sie mit dem Bild von der anderen Wange, die es hinzuhalten gilt, allen Menschen als Ideal verkündet.

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