Vor 30 Jahren beendete das Dayton-Abkommen den Krieg um Bosnien-Herzegowina. Doch das Land ist zerrissen, da der Friedensvertrag den Kompromiss mit dem serbischen Aggressor suchte. Während die Erben der Kriegsverbrecher weiter auf den Zerfall des Landes setzen, gilt das geistliche Oberhaupt der muslimischen Mehrheit im Land, Großmufti Husein Kavazovic, über seine Gemeinschaft hinaus als Versöhner und Vermittler. „Die Tagespost“ traf ihn in Sarajevo.
Der Islam in Bosnien-Herzegowina hat eine osmanische und eine habsburgische Vergangenheit. Wie stark wirkt die osmanische Tradition noch nach?
Der Islam in Bosnien-Herzegowina ist in Wechselwirkung mit der Kultur, den Traditionen und den Glaubensvorstellungen der altertümlichen und mittelalterlichen Bosniaken entstanden. Er hat sich später, durch die Bewahrung der religiösen, kulturellen und nationalen Identität in verschiedenen Imperien und Ordnungen, zu einer einzigartigen islamischen Tradition der Bosniaken entwickelt, auf die wir stolz sind. Es handelt sich dabei um eine islamisch-theologische Lehre, die sich in keiner Weise von der traditionellen sunnitischen Doktrin unterscheidet, insbesondere nicht von jener im osmanischen religiösen Kontext, jedoch zahlreiche kulturelle Besonderheiten aufweist, die durch Zeit und Raum geprägt wurden.
In der habsburgischen Epoche erfolgte die Modernisierung des Landes und die Reform der islamischen Gemeinschaft.
So ist es. In der Zeit der österreichisch-ungarischen Verwaltung verfolgten die Bosniaken Bestrebungen zur Erlangung der Autonomie im Erziehungs- und Bildungsbereich sowie über die eigenen Stiftungen, die die moderne Organisation der Islamischen Gemeinschaft in Bosnien-Herzegowina prägten. In Zusammenarbeit mit den österreichisch-ungarischen Behörden legten die Bosniaken unter der Patronage der Habsburger die Grundlagen ihrer religiösen Freiheit und Autonomie und etablierten religiöse Institutionen, die bis heute bestehen. Ich bin der Auffassung, dass Elemente dieses Erbes und dieser Erfahrung für Europa heute von Nutzen sein können, insbesondere angesichts der Herausforderungen bei der administrativen Regelung islamischer Religionsangelegenheiten neuer muslimischer Einwanderergemeinschaften in Europa sowie im Umgang mit Narrativen, die behaupten, der Islam gehöre nicht zu Europa.
Die meisten Länder Europas haben eine viel kürzere Erfahrung mit islamischer Präsenz als Südosteuropa. Was könnten diese Länder von der christlich-islamischen Koexistenz in Bosnien lernen?
„Ich denke, dass weitaus längere Perioden
der Interaktion zwischen Islam und Christentum
auf europäischem Boden bestehen als des Konflikts"
Geschichte kann interpretiert werden, indem man in die Vergangenheit blickt und nach Zeiten des Konflikts und des Bösen sucht, das Menschen einander zugefügt haben. Sie kann aber auch in ihrer Komplexität betrachtet werden, mit ihren dunklen Epochen, wie auch mit denen, in denen wir das Beste gezeigt haben, was uns zu Menschen macht. Das Gleiche gilt für die Beziehungen zwischen Muslimen und Christen: Ich denke, dass weitaus längere Perioden der Interaktion zwischen Islam und Christentum auf europäischem Boden bestehen als des Konflikts. Das lässt sich erkennen, wenn wir keine polarisierte Sicht auf die Vergangenheit und die Welt haben. In Europa wurde in innerchristlichen Konflikten zwischen den Konfessionen mehr Blut vergossen als in Konflikten mit muslimischen Imperien. Selten bestanden die Armeen, die im Namen von Königen und Imperien kämpften, selbst wenn sie nominell im Namen Allahs oder Christi auf das Schlachtfeld zogen, ausschließlich aus Soldaten desselben Glaubens: In „muslimischen Armeen“ gab es christliche Untertanen des Sultans und in den „Kreuzritterarmeen“ gab es Muslime. Eine Million Muslime kämpften im Ersten Weltkrieg in europäischen Armeen auf verschiedenen Seiten. Aber in einer Welt, die in Schwarz-Weiß gemalt ist, einer Welt von „wir“ gegen „sie“, gibt es keinen Platz für diese Komplexität. Wie Europa die Kraft fand, alle nationalen, religiösen und ideologischen Spaltungen zu überwinden, und ein Projekt der Einheit in Vielfalt und Frieden schaffen konnte, bin ich überzeugt, dass Europa die Beziehung zum Islam und zu diesem Teil seiner Geschichte befrieden kann. Aber dazu braucht es Entschlossenheit und die Suche nach gemeinsamen Werten und dem, was uns verbindet. Ich denke, dass in solch einem europäischen Projekt Bosnien-Herzegowina einen wesentlichen Beitrag leisten kann. Die Werte, die die Islamische Gemeinschaft in Bosnien-Herzegowina und die katholische Kirche leben, sind nahezu identisch. Das halte ich für einen Raum für Zusammenarbeit.

Sind die bosnischen Erfahrungen übertragbar auf andere Länder Europas, wo die wachsende muslimische Community mehrheitlich aus einem außereuropäischen Kulturkreis stammt?
Es gibt Besonderheiten, die nicht vernachlässigt werden dürfen, wenn wir über muslimische Einwanderer in Europa sprechen. Die Herausforderungen ihrer Integration lassen sich schwer durch die Perspektive der Erfahrungen autochthoner europäischer muslimischer Völker betrachten. Aber die Erfahrungen in der Verwaltung islamischer Angelegenheiten können nützlich sein. Ja, es gibt den Geist der Offenheit, der Interaktion sowie eine Kultur der Begegnung und Zusammenarbeit, die in der bosnischen Erfahrung des Islam verwurzelt ist und als europäisches Erbe gefördert werden kann. Obwohl wir in Europa Einwanderer haben, die keine Erfahrung mit religiösem Pluralismus besitzen, sollte man das nicht verallgemeinern. Wir wissen, dass die meisten muslimischen Gesellschaften hinsichtlich der religiösen Zugehörigkeit heterogen sind, und wir würden unsere eigene Erfahrung niemandem aufzwingen, auch nicht Europas neuen Bürgern muslimischer Herkunft. Aber wir sind bereit, mit unseren Nachbarn, Christen und Juden, unsere Erfahrungen zu teilen. Das schließt negative Erfahrungen ein, die uns zeigen, wohin Ausgrenzung, Hass und Entmenschlichung des Anderen führen können. Ebenso sind wir bereit, Muslimen unsere Erfahrung des Lebens mit dem Islam im europäischen Kontext zu zeigen, und dass man zugleich ein guter Muslim und ein guter Bürger des Landes sein kann, in dem man lebt, indem man die Herausforderungen und Hoffnungen mit seinen Nachbarn teilt, die nicht denselben Glauben haben.
Im Krieg von 1992 bis 1995 mischten viele ausländische Mächte mit. Hat das Nachwirkungen bis heute?
„Leider gibt es noch immer starke politische und
ideologische Kräfte in der Umgebung, die
Bosnien-Herzegowina weder als Staat noch
das Existenzrecht der Bosniaken anerkennen"
Leider, obwohl wir seit 30 Jahren in Frieden leben, gibt es noch immer starke politische und ideologische Kräfte in der Umgebung, die Bosnien-Herzegowina weder als Staat noch das Existenzrecht der Bosniaken anerkennen. Immer häufiger werden Bosniaken von höchsten Amtsträgern nur als „Muslime“ bezeichnet, um sie auf eine religiöse Gruppe zu reduzieren und ihnen ihre nationale Identität als souveränes europäisches Volk abzusprechen. Uns wird das Recht abgesprochen, in Europa zu existieren, nur weil wir Muslime sind, oder uns wird das Recht verweigert, ein Volk zu sein. Das war die Grundlage, die in den 1990er Jahren zum Völkermord führte. Solche Narrative gewinnen heute erneut an Stärke. Dass sich der Genozid an den Bosniaken im 20. Jahrhundert im Herzen Europas ereignen konnte, ist nichts, was nur uns beunruhigen sollte. Wir waren schockiert über die Äußerungen vieler Persönlichkeiten, die nach der russischen Aggression gegen die Ukraine behaupteten, dies sei der erste Krieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Das Leugnen dessen, was sich in den 1990er Jahren in Bosnien-Herzegowina ereignet hat, wird Europa nicht helfen, die Lektionen zu lernen, die es leider nicht einmal nach dem Holocaust und den Schrecken des Zweiten Weltkriegs gelernt hat.
Mit dem Dayton-Abkommen wurde 1995 zwar der Krieg beendet, aber keine stabile und gerechte Friedensordnung geschaffen. Was müsste geschehen, damit Bosnien-Herzegowina eine voll funktionsfähige Staatlichkeit entfalten kann?
In Bosnien-Herzegowina müssen die gleichen Werte gelten wie im restlichen Europa. Jeder Bürger muss sich, unabhängig davon, wo er lebt, gleichberechtigt und geschützt fühlen. Er muss die gleichen Rechte haben, und es müssen Mechanismen bestehen, die auf einer bestimmten Ebene auch die kollektiven Rechte der Völker schützen, die in Bosnien-Herzegowina leben. Das ist die Aufgabe der Politiker, doch solange sie keine Lösungen finden, dürfen sie die Beziehungen zwischen den Bürgern und den Religionsgemeinschaften nicht dadurch gefährden, dass sie ihre politischen Konflikte in Religionskriege oder Kulturkämpfe verwandeln.
Während des Krieges gewannen viele Mächte, auch die Türkei, Saudi-Arabien und der Iran, Einfluss in Ihrem Land.
Die Behörden von Bosnien-Herzegowina suchten während des Eroberungskriegs wie in den Jahren danach nach jeglicher Art von Hilfe. In diesem Land hatten alle großen Staaten der Welt, von Japan bis zu den USA, ihre Organisationen, und wir sind jedem dankbar, der Bosnien-Herzegowina in diesen schweren Zeiten unterstützt hat. Was wir während des Kriegs und danach erlebt haben, war der Versuch, hier Lehren des Islams zu verbreiten, die für diese Region fremd sind. Es traten Gruppen auf, die ideologische Interpretationen des Islams verbreiteten – und wir haben uns ihnen erfolgreich entgegengestellt. Für uns ist entscheidend, dass wir trotz aller Zerstörungen während der Aggression und der Angriffe auf unsere Lebensweise die Islamische Gemeinschaft als autonome religiöse Organisation bewahren konnten.
Es gibt die These, dass die Radikalisierung vieler Muslime heute weniger durch staatliche Akteure erfolge, sondern durch YouTube, TikTok oder Instagram, wo radikale „Influencer“ ihre Version des Islam predigen.
Ganz besonders sind wir daran interessiert, wie soziale Netzwerke und Online-Inhalte die Einstellungen junger Menschen prägen. Hier liegt noch viel Arbeit vor uns. Das würden wir gerne gemeinsam mit anderen Kirchen und Religionsgemeinschaften tun. Hier können wir Erfahrungen austauschen und nach Lösungen suchen. Es freut mich, dass wir in Bosnien-Herzegowina einen aktiven Interreligiösen Rat haben, der als Plattform und Partner für solche Projekte dienen kann. Ich freue mich auch, dass wir dieser Tage mit Unterstützung der EU-Kommission ein Projekt an unseren islamischen Gymnasien starten, das Medienkompetenz, kritisches Denken und den Einfluss von KI auf junge Menschen fördert. Wir brauchen keine Angst vor Veränderungen zu haben, aber wir müssen bereit sein, ihnen offen zu begegnen.
Sie engagieren sich für den interreligiösen Dialog – mit welchen Hoffnungen?
Der interreligiöse Dialog und die Arbeit mit Trägern anderer Überzeugungen, mit denen wir zusammenleben, sind eine notwendige Voraussetzung, um die gesellschaftliche Harmonie zu bewahren – und für Muslime ein spirituelles Bedürfnis. Der Islam lehrt, unseren Glauben durch das Tun des Guten und die Förderung des Guten zu zeigen sowie durch die Suche nach dem „gemeinsamen Wort“, das uns alle als Söhne Adams und Evas vereint.






