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Erdoğan lobt und benutzt den Papst

Gleichklang in der Palästinafrage und volle Gleichberechtigung für Christen in der Türkei? Was der türkische Präsident in Ankara auftischte, ist nur die halbe Wahrheit.
Außenpolitikkorrespondent Stephan Baier, Erdogan, Papst Leo
Foto: DT / IMAGO / Anadolu Agency | Ehre oder Inszenierung? Wahrscheinlich beides. Präsident Erdogan empfängt Papst Leo in Ankara.

Politiker, erfolgreiche zumal, sind gut geübt darin, Situationen in ihrem Sinn zu instrumentalisieren, Gesprächspartner in ihrem Interesse zu interpretieren und prominenten Begegnungen ihren Dreh zu geben. Warum sollte das bei Recep Tayyip Erdoğan anders sein? Der türkische Präsident hat im Laufe der vergangenen drei Jahrzehnte weit mehr Wahlen gewonnen als verloren und so manche innenpolitische Krise – oft mit robusten Mitteln – irgendwie überstanden. Ein alter Fuchs also, der die Klaviatur der Macht beherrscht.

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Was Erdoğan und Papst Leo im protzigen Präsidentenpalast so an Meinungen austauschten, ist nicht dokumentiert – allenfalls in jenen knappen Häppchen, die das Präsidialamt der staatlichen Nachrichtenagentur „Anadolu“ hinwarf. Beim öffentlichen Auftritt beider in der Nationalbibliothek von Ankara vor Vertretern von Regierung, Behörden, Diplomatie und Zivilgesellschaft roch Erdoğans Lob für den Papst dann aber doch stark nach Vereinnahmung: Da pries der Präsident die entschlossene Haltung des Papstes in der Palästinafrage als Beleg für seine eigene Kritik an Israel.

Gnadenakt statt Rechtsanspruch

Sprach Papst Leo von der „Einheit der Menschheitsfamilie“, so nahm Erdoğan diese Terminologie auf, um seine Sicht auf den Nahostkonflikt zu präsentieren: „Als Menschheitsfamilie schulden wir dem palästinensischen Volk Gerechtigkeit. Diese Schuld können wir begleichen, indem wir die Vision einer Zwei-Staaten-Lösung auf Grundlage der Grenzen von 1967 unverzüglich umsetzen.“ Gewiss, auch der Heilige Stuhl bekennt sich zur Zwei-Staaten-Lösung, zum Waffenstillstand im Gazastreifen, zur Sicherheit für Zivilisten und zur humanitären Hilfe. All das referierte Erdoğan und suggerierte damit einen Gleichklang zwischen ihm und dem Papst. Unerwähnt blieben dabei seine Tiraden gegen Israel und die Regierung Netanjahu, der er mehrfach einen Genozid an den Palästinensern vorwarf, oder Erdoğans Lob für die Terrorbande Hamas, die er als Befreiungsorganisation pries.

Nur die halbe Wahrheit präsentierte der türkische Präsident auch, als er die interreligiöse Toleranz seines Landes und sein Wohlwollen für die christlichen Kirchen lobte. Gewiss stehen „in vielen türkischen Städten Kirchen und Synagogen neben Moscheen“, und es ist auch wahr, dass seit seinem Wahltriumph 2002 „die Restaurierung von fast 100 Kirchen, Klöstern und Gebetsstätten abgeschlossen“ wurde. Doch während der türkische Staat emsig Moscheen baut und fördert, verfallen geschichtsträchtige Kirchen, ist jede Renovierungsgenehmigung für kirchliche Gebäude mit einem Spießrutenlauf bei den Behörden verbunden. Schlimmer noch: Selbst dort, wo Kirchen renoviert oder – wie die syrisch-orthodoxe Kirche in Istanbul – neu gebaut werden dürfen, ist das ein allerhöchster Gnadenakt, aber kein Rechtsanspruch.

Keine Verfolgung, aber Diskriminierung

Die traditionellen wie alle übrigen christlichen Kirchen in der Türkei brauchen Rechtssicherheit – und die wird ihnen in der Türkischen Republik seit deren Gründung verwehrt. Ja, unter den religionsfeindlichen Kemalisten war vieles noch viel schlimmer, aber auch unter Erdoğan und seiner AKP sind die Christen in der Türkei Bürger zweiter Klasse. Es gibt zwar weder eine politische noch eine juristische oder gesellschaftliche Christenverfolgung in der Türkei, aber eine vielfältige Diskriminierung und Marginalisierung.

In seiner Ansprache vor dem Papst und dem ebenfalls anwesenden Ökumenischen Patriarchen Bartholomaios sagte Erdoğan am Donnerstag in Ankara: „Wir betrachten kulturelle, religiöse und ethnische Unterschiede nicht als Quelle der Spaltung, sondern als Bereicherung. Jeder einzelne Bürger unseres Volkes, unabhängig von Sprache, Religion, Konfession oder ethnischer Herkunft, ist ein vollwertiger Bürger der Türkischen Republik. Wir werden nicht zulassen, dass auch nur ein einziger Bürger diskriminiert wird.“ Das wäre in der Tat eine wunderbare Vision für dieses traditionsreiche Kulturland an der Schnittstelle zwischen Europa und Asien! Angesichts der türkischen Wirklichkeit sind die Worte Erdoğans allerdings weniger als die halbe Wahrheit.

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