Sechs zu fünf. Derart scheinbar knapp lautete am Ende das Ergebnis der Öffentlichen Anhörung von elf Sachverständigen, die der Rechtsausschuss des Deutschen Bundestags am Montagabend in Berlin zum „Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs“ (Bundestagsdrucksache 20/13775) veranstaltet hatte. Sechs Sachverständige empfahlen dem Gesetzgeber den Gesetzesentwurf zur Zweiten und Dritten Lesung ins Plenum zurückzuüberweisen und dort zur Abstimmung zu stellen. Fünf Sachverständige empfahlen hingegen, den von 327 Abgeordneten in den Bundestag eingebrachten und in Erster Lesung beratenen Gesetzesentwurf wegen gravierender Mängel nicht weiter zu verfolgen.
In Wirklichkeit kann jedoch von einer hauchdünnen Entscheidung nur numerisch eine Rede sei. Denn wer die über mehr als drei Stunden dauernde Anhörung, die ab sofort auch in der Mediathek des Bundestags abgerufen werden kann, verfolgen konnte, wurde Zeuge eines wahrhaft seltenen Schauspiels. Kaum einmal zuvor haben die zahlenmäßig unterlegenen Sachverständige einen Gesetzesentwurf in einer Öffentlichen Anhörung derart vernichtend zerlegt, wie den von einer Gruppe um die Abgeordneten Carmen Wegge (SPD) und Ulle Schauws (Bündnis 90/Die Grünen) initiierten Gesetzesentwurf zu Beginn dieser Woche.
Wie eine öffentliche Anhörung funktioniert
Dass dies so gelingen konnte, lag außer an dem „corpus delicti“, das treffend auch schon als „Wünsch-Dir-was-Jura“ verspottet worden war, vor allem an vier Experten, die sich offensichtlich nicht nur eingehend mit dem Gesetzesentwurf selbst, sondern geradezu akribisch auch mit sämtlichen Quellen, auf die sich dessen Verfasser und Verfechter berufen, beschäftigt hatten und die mit Ausnahme der Kölner Strafrechtlerin Frauke Rostalski, die von der FDP-Fraktion geladen worden war, allesamt von der Unionsfraktion als Sachverständige bestellt worden waren.
Aber der Reihe nach. Üblicherweise erhalten alle Sachverständigen in alphabetischer Reihenfolge zu Beginn einer Öffentlichen Anhörung Gelegenheit zu einem Eingangsstatement. Daran schließen sich eine oder mehrere Fragenrunden an, bei denen die Ausschussmitglieder der im Bundestag vertretenen Fraktionen in aller Regel nur die von ihnen selbst geladenen Sachverständigen befragen, um diesen so die Möglichkeit zu geben, die von ihnen vertretene Position weiter zu erläutern und zu vertiefen. Weil die Abgeordneten bei solchen Anhörungen nur wenig dem Zufall überlassen, kennen die Sachverständigen die Fragen oft vorher, was für Beobachter immer dann augenscheinlich wird, wenn diese Ihre Antworten vom Blatt oder aus dem mitgebrachten Laptop ablesen, wie das auch Montag häufiger der Fall war. Richtig verstanden wird das erst von dem, der weiß, dass bei solchen Anhörungen ein überaus strenges Zeitmanagement gepflegt wird, über dessen Einhaltung der oder die Ausschussvorsitzende meist unnachgiebig wacht. So auch am Montag. Für die Eingangsstatements standen den Sachverständigen jeweils vier Minuten zur Verfügung, für die Beantwortung einer Frage nur zwei. Statt Spontanität ist also Präzision gefragt.
Das Fundament von Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie
Den Anfang bei den Eingangsstatements machte der von der AfD geladene Sachverständige Kristijan Aufiero, Geschäftsführer der 1000plus-Profemina gGmbH, die Aufiero zufolge „in den vergangenen Jahrzehnten“ mehr als „700.000 Frauen“ beraten habe. Eine „selbstbestimmte und freie Entscheidung“ ermöglichten ihnen „ehrliche, lebensbejahende Beratung und ganz konkrete direkte Hilfen“ und „nicht die Legalisierung der Abtreibung oder die Kostenübernahme durch eine Krankenkasse“. Zudem sei „die uneingeschränkte Achtung vor jedem menschlichen Leben, egal in welchem Stadium seiner Existenz, das Fundament unserer freiheitlichen Demokratie, unseres Rechtsstaats und unseres Sozialstaats“. All das baue „auf der Überzeugung und der Einsicht auf, dass jeder Mensch über die gleiche unveräußerliche Würde verfügt und dass das Leben jedes Menschen kostbar und unantastbar“ sei. Erklärten wir „die Zerstörung eines Menschenlebens zu Recht“, zerstörten wir zugleich „das Fundament, auf dem Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie aufgebaut“ seien. Die Folgen wären „verheerend“. „Nicht nur für die Kinder, die nicht zur Welt“ kämen, sondern auch „für unsere Gesellschaft als Ganzes, insbesondere für jene, die schwach und wehrlos sind“, warnte Aufiero.
Alicia Baier, die den Verein „Doctor s pro Choice Germany e.V.“ vertrat, der ihren Angaben zufolge „fast 300 Mitglieder“ zähle, von denen die meisten Abtreibungen durchführten, beklagte in ihrem Statement, dass der „Schwangerschaftsabbruch“, also die vorgeburtliche Tötung eines Kindes, „als einziger medizinischer Eingriff“ im „Strafgesetzbuch geregelt“ sei, was ihn „von sonstigen ärztlichen Eingriffen“ abgrenze. Baier: „Selbst wenn die Schwangere alle rechtlichen Vorgaben erfüllt hat, begehen wir eine rechtswidrige Tat.“ Dadurch erfahre „unsere Tätigkeit eine staatlich geförderte Herabwürdigung“, wo diese, so Baier weiter, „doch angesichts des Versorgungsmangels viel eher einer gesellschaftlichen Wertschätzung“ bedürfe. Zudem sei „vielfach wissenschaftlich belegt, dass die Legalisierung von Abbrüchen und der Verzicht auf Hürden wie Pflichtberatung und Wartefrist die Gesundheit der Betroffenen“ verbesserten und „Abbrüche hierdurch nicht häufiger“, sondern lediglich „früher“ stattfänden.
Mit keiner anderen ärztlichen Handlung vergleichbar
Eine Überraschung und eines der Highlights war der Auftritt des von der Union als Sachverständiger geladenen Charité-Gynäkologen Matthias David. Der Professor, der auch Koordinator für die aktuelle Leitlinie der „Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe“ (DGGG) zum Schwangerschaftsabbruch ist, begann sein Statement mit den Worten: „Ich führe Schwangerschaftsabbrüche durch. Ich wirke an Schwangerschaftsabbrüchen mit. Und ich bilde junge Kolleginnen und Kollegen im Schwangerschaftsabbruch aus. Darauf bin ich nicht stolz. Aber der Wunsch der Schwangeren ist zu akzeptieren und umzusetzen.“ Gleichwohl handele es sich beim „Schwangerschaftsabbruch“ nicht „um irgendeine Maßnahme“, sondern um eine „Operation, die mit keiner anderen ärztlichen Handlung vergleichbar“ sei. Denn „mit dem auf Wunsch ungewollt Schwangerer, medikamentös oder operativ durchgeführten Schwangerschaftsabbruch“ würden „in den allermeisten Fällen gesunde Frauen behandelt und gesunde Embryos beseitigt“.
Entschieden widersprach David dem auch in der Anhörung mehrfach bemühten Narrativ, in Deutschland verschlechtere sich die „Versorgungssituation“ abtreibungswilliger Schwangerer: „Es gibt eine bedarfsgerechte, flächendeckende, gut erreichbare, sichere medizinische Versorgung in Deutschland. Wir haben zahlreiche Untersuchungen im Bereich der Versorgungsforschung durchgeführt und keine Hinweise auf eine Verschlechterung oder Veränderungen in der Arzt- oder Ärztinnenanzahl festgestellt.“ Stattdessen sei das Gegenteil sei der Fall. „In letzten zehn Jahren“ habe es „im Bereich der niedergelassenen Frauenärztinnen und Frauenärzte eine Zunahme von neun Prozent“ gegeben. Auch nähme „die Häufigkeit medikamentös durchgeführter Schwangerschaftsabbrüche zu“, was dazu führe, dass „die Notwendigkeit von stationär durchgeführten oder gar operativ durchgeführten“ Abtreibungen zurückgehe. Auch in der „Aus- und Weiterbildung“ gäbe es „keine Lücke zu verzeichnen“.
„Es hat sich weder empirisch noch normativ irgendetwas geändert“
Die Potsdamer Staatsrechtlerin Frauke Brosius-Gersdorf, Mitglied der von der Ampelregierung berufenen Kommission für reproduktive Gesundheit und Fortpflanzungsmedizin, verteidigte den Gesetzesentwurf als „grundrechtskonform“. Obwohl es „gute Gründe“ dafür gäbe, dass die „Menschenwürdegarantie erst ab Geburt“ gelte, würde diese bei einer Abtreibung ohnehin „regelhaft nicht verletzt“, weil „das Embryo“ nicht „zum Objekt staatlichen Handelns herabgewürdigt“ werde, was hier der Maßstab sei. Auch käme in der Abwägung der Grundrechte der Schwangeren mit dem pränatalen Lebensrecht des Embryos Ersterem „ein starkes Gewicht“ zu. Das kehre sich erst im weiteren Verlauf der Schwangerschaft um.
Dem hielt jedoch der Augsburger Strafrechtler Michael Kubiciel entgegen, der Entwurf basiere „auf einer unzutreffenden Tatsachengrundlage“ und einer „teils unzutreffenden Darstellung der Rechtslage“. Er widerspräche der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und sei auch mit dem verfassungsrechtlich gebotenen „vorgeburtlichen Grundrechtschutzes nicht vereinbar.“
Der Bonner Arbeitsrechtler Gregor Thüsing, der auch Mitglied des Deutschen Ethikrats ist, nannte den Gesetzesentwurf „juristisch radikal“ und dazu angetan, eine „Brandmauer des Lebensschutzes“ einzureißen. Anders als das Bundesverfassungsgericht, demzufolge auch schon dem Embryo Menschenwürde zukomme, hielten die Verfasser des Gesetzesentwurfs dies für fraglich. „Falsch“ sei auch deren Behauptung, die geltende Gesetzeslage widerspräche „internationalen Vorgaben“. Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) oder Ausschüssen der Vereinten Nationen, auf die der Gesetzesentwurf verweise, hätten „keine Verbindlichkeit für das nationale Recht“.
Die Kölner Strafrechtlerin und Rechtsphilosophin Frauke Rostalski sagte, es gäbe gar „keine Veranlassung an der geltenden Rechtlage zu rütteln“. Weder der Gesetzesentwurf noch der ihm zugrunde liegende Kommissionsbericht „lassen uns etwas Neues wissen, was die Wertungen zum Schwangerschaftsabbruch angeht. Es hat sich weder empirisch noch normativ irgendetwas geändert, das nicht bereits ausführlich durch das Bundesverfassungsgericht in dessen Entscheidungen einbezogen wurde“. Und weiter: „Ein vermeintlicher breiter gesellschaftlicher Wertewandel ist empirisch, wie so vieles, was im Entwurf behauptet wird, nicht nachgewiesen.“ Zudem sage „das Bundesverfassungsgericht selbst, dass es verfassungsrechtlich unbeachtlich wäre, sollten sich Anschauungen über die Schutzbedürftigkeit werdenden Lebens einmal ändern“. Ferner habe das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich betont, dass bei „der Abwägung von Selbstbestimmung und Lebensschutz, der Lebensschutz Vorrang“ genieße und „dem Ungeborenen auch gegenüber der Schwangeren rechtlicher Schutz“ gebühre.
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