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Versöhnung zwischen Russland und der Ukraine

Eine zukünftige Versöhnung zwischen Russland und der Ukraine setzt Frieden, Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit voraus. Die russische Orthodoxie bedarf einer inneren Erneuerung.
Zerstörtes Haus mit ukrainischer Flagge im Kiewer Vorortes Irpin,
Foto: Jesco Denzel (Bundesregierung) | Zerstörtes Haus mit ukrainischer Flagge im Kiewer Vorortes Irpin, der durch russische Angriffe stark zerstört wurde.

Seit 24. Februar tobt der Krieg in der Ukraine. Wenn man die Nachrichten verfolgt und die Situation vor Ort kennt, gewinnt man den Eindruck, dass der Krieg immer noch schlimmer und brutaler wird. Das bestätigt sich, wenn ich als Ukrainer mit meinen Verwandten, Freunden und Kollegen spreche. Unsere Städte werden bombardiert, den Menschen wird viel Leid zugefügt. Viele müssen ihre Heimatorte verlassen und in sichere Regionen fliehen, wobei man derzeit nirgendwo in der Ukraine wirklich sicher ist, weil überall Städte und Infrastruktur bombardiert werden. Manchmal fallen bis zu 50 Bomben pro Tag. Seit Beginn des Krieges wurden aus Russland, Belarus oder von der Seite des Schwarzen Meeres mehr als 3.000 schwere Bomben mit großer Zerstörungskraft auf die Ukraine abgeworfen.

In dieser Situation das Wort Versöhnung in den Mund zu nehmen, scheint nicht angebracht. Kann man denn von Versöhnung reden, solange der Krieg tobt, sich die Kämpfe zuspitzen und sich die Spirale der Gewalt immer weiterdreht? Ist Versöhnung möglich - schon jetzt, mitten im Krieg, wenn die Waffen den Ton angeben?

Wer von Versöhnung spricht, begibt sich auf dünnes Eis

Versöhnung ist ein komplexes Thema, das wissen wir aus der Geschichte, insbesondere aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Wer heute über eine Versöhnung zwischen Russland und der Ukraine spricht, begibt sich auf dünnes Eis. Es geht darum, das Undenkbare zu denken. Wir hoffen und beten, dass der Krieg bald vorbei ist. Irgendwann wird man über Versöhnung reflektieren müssen, denn sie ist eine zentrale Kategorie der christlichen Identität. Sie gehört als wichtiges Ideal und Tugend zum Christentum. Versöhnung und Verzeihen sind für die christliche Identität unverzichtbar. Versuchen wir, uns Gedanken darüber zu machen, wie und unter welchen Voraussetzungen ein Prozess der Versöhnung zwischen Russland und der Ukraine denkbar ist.

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Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ist hierfür eine wertvolle Erfahrung. Viele europäische Staaten lagen 1945 in Trümmern. Jeder wusste, wer diese Tragödie verursacht hat. Man fand aber den Mut, aufeinander zuzugehen. Es wurden Voraussetzungen dafür geschaffen, diesen Schritt überhaupt zu wagen. Die Versöhnung zwischen Deutschland und Frankreich, ebenso zwischen Deutschland und Polen waren Meilensteine auf dem Weg zu einem versöhnten Europa. Vielleicht kann man sich trotz aller ernüchternder Realität davon inspirieren lassen.

Das Morden muss aufhören

Bei den Versöhnungsprozessen nach dem Zweiten Weltkrieg spielten die Kirchen eine wichtige Rolle. Sie waren der Motor, der diese Prozesse vorantrieb. Welche Rolle können die ukrainischen Kirchen für eine mögliche Versöhnung zwischen Russland und der Ukraine spielen? Unsere kirchliche Landschaft ist komplex. Es gibt eine große Vielfalt der Kirchen und eine konfessionell plurale Landschaft in der Ukraine. Ich denke, dass die Kirchen nach diesem Krieg im Prozess der Versöhnung mit einer gemeinsamen Stimme auftreten sollten. Sie müssen als Einheit in Vielfalt diese Prozesse reifen lassen. Gemeinsam sollten sie darüber nachdenken, was sie zur Versöhnung beitragen können.

Das setzt voraus, dass die notwendigen Bedingungen für Versöhnung geschaffen werden. Die erste lautet: Das Morden muss aufhören! Der Krieg muss beendet werden. Gerechtigkeit muss wiederhergestellt werden. Auch werden wir an der Frage der Schuld nicht vorbeikommen: Jene, die Gräueltaten begangen haben, müssen sich zu ihrer Schuld bekennen und auch bestraft werden. Täter und Opfer müssen klar benannt werden. Es ist nicht möglich, nach einer "goldenen Mitte" zu suchen. Es geht darum, die Wahrheit zu suchen und zu finden. Das sind wesentliche Voraussetzungen eines Versöhnungsprozesses. Es geht um einen gerechten Frieden, um Gerechtigkeit und Wahrheit.

Kyrill spricht die Sprache des Kremls

Wer kann auf der russischen Seite zur treibenden Kraft einer Annäherung an die Ukraine und in einem Versöhnungsprozess werden? Logischerweise wirft das die Frage auf, ob die russisch-orthodoxe Kirche - als dominierende Kirche ihres Landes - zu einer solchen Kraft werden könnte. Die russische Orthodoxie ist die größte Kirche in Russland und die größte orthodoxe Kirche in der Welt. Von einer so großen Kirche, die eine wichtige Rolle in der russischen Identität wie in der russischen Gesellschaft spielt, erhofft man, dass sie eine solche Rolle übernehmen würde. Das Problem ist jedoch, dass die Kirche dem Staat zu nahe ist. Oft sieht man in russischen Nachrichten Patriarch Kyrill an der Seite von Präsident Putin. Wenn man Berichte über Kirche und Staat in Russland liest, kann man die allzu große Harmonie zwischen beiden beobachten. Die Kirche ist nicht nur abhängig vom Staat, sie spricht mit ihm eine gemeinsame Sprache. Sie unterstützt das russische Vorgehen in der Ukraine und die Osteuropa-Politik des Kreml.

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Die russische Orthodoxie trägt die Sicht des russischen Staates in Bezug auf Europa mit. Kirchliche und politische Interessen überschneiden sich: Die russische Kirche ist überhaupt noch nicht fähig, eine selbstständige Stimme in diesem Krieg zu haben. Wenn sich die Kirche nicht vom Staat lösen kann und zu einem Gegenüber für den Staat wird, wenn sie nicht den Mut hat, die christliche Botschaft an die erste Stelle zu setzen, dann ist nicht zu erwarten, dass eine solche Kirche - die ihre Reputation weltweit verloren hat - in diesem Zustand fähig sein kann, an einem Versöhnungsprozess mitzuwirken.

Es braucht neue Geistliche

Derzeit sieht es nicht danach aus, dass die russische Orthodoxie eine versöhnende Rolle übernehmen kann. Es müsste nach dem Krieg ein großer Erneuerungsprozess in der russisch-orthodoxen Kirche starten. Diese Kirche muss ihr Verhältnis zum russischen Staat völlig neu konzipieren und sich vom Staat und dessen zerstörerischer Ideologie befreien. Es geht um die Glaubwürdigkeit der russisch-orthodoxen Kirche als möglicher Partner einer künftigen Versöhnung. Im heutigen Zustand kann sie diese Rolle gewiss nicht einnehmen. Es bedürfte eines wohl sehr schmerzhaften Prozesses in der russischen Orthodoxie nach dem Krieg. Dafür müssten sich die Eliten ändern: Es bräuchte neue Geistliche, vor allem neue Bischöfe, die ein anderes Denken und eine vom Staat befreite Orthodoxie repräsentieren. Erst dann kann die russische Orthodoxie neue Ideen vorstellen.

Nur eine solche erneuerte, selbstkritische Kirche, die ihre eigene Rolle im Krieg kritisch hinterfragt, könnte als Partner für einen Versöhnungsprozess mit der Ukraine angesehen werden. Es ist wichtig, dass diese Kirche sich von ihren imperialistischen Ansprüchen frei macht, denn es ist schwierig mit einer Kirche zu verhandeln, die fast den gesamten post-sowjetischen Raum für ihr kanonisches Territorium hält. Es ist schwer, mit einer Kirche über Versöhnung zu reden, die auf ihren Ansprüchen in diesem Raum besteht. Solange sich diese Kirche nicht damit abfinden kann, dass die ukrainische Orthodoxie ihren eigenen Weg gehen und ihr eigenes Modell des christlichen Daseins entwickeln will, ist an Versöhnung nicht zu denken.

Wir haben viele Probleme auf der Ebene der Wahrnehmung der Geschichte   der gemeinsamen, komplizierten Geschichte Russlands und der Ukraine. Wir haben ungelöste Fragen der nationalen Identitäten und der geopolitischen Gegebenheiten. Es gibt viele offene Fragen, darum ist es heute utopisch und unrealistisch über Formen und Wege der Versöhnung zu sprechen. Dennoch ist es gut, das Undenkbare zu denken. Irgendwann wird die Heilung der Erinnerungen anstehen. Das war in Südafrika einst ein wichtiger Beitrag zur Aussöhnung. Es geht dabei um die Aufarbeitung und Bewältigung der komplizierten Vergangenheit mit einem seelsorglich-therapeutischen Verfahren in der Täter-Opfer-Arbeit. Die Heilung der Erinnerungen ist auch zu einem Begriff in der Aussöhnung der Religionsgemeinschaften und Volksgruppen geworden, die ihre jeweilige Sicht und ihr Leid schildern. Dieser Prozess soll nicht nur Wunden heilen, sondern den Blick weiten. Er kann für uns erst beginnen, wenn der Krieg beendet ist.


Der Autor ist Dozent für Kirchengeschichte und Priester der ukrainischen griechisch-katholischen Kirche.

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