Handelt es sich bei dem am Donnerstag von 236 Abgeordneten aus den Reihen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der Linken eingebrachten „Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs“ (Bundestagsdrucksache 20/13775), mit dem diese den 1995 mühsam gefundenen Abtreibungs-Kompromiss auf den letzten Metern der kolossal gescheiterten Ampelkoalition zu Fall bringen wollen, nun um eine ernste Gefahr für Leib und Leben ungeborener Menschen oder bloß um einen Sturm im Wasserglas?
Die Antwort lautet: Das kommt ganz darauf an. Worauf? Dazu gleich mehr. Zunächst: Mit ihrem Manöver offenbaren die 236 Parlamentarier – unter ihnen auch Bundekanzler Olaf Scholz sowie die Bundesminister Annalena Baerbock, Robert Habeck und Lisa Paus – vor allem eines: Schlechten Stil sowie ihre Prioritäten. Bis zu den angekündigten Neuwahlen am 23. Februar verbleiben dem Bundestag noch maximal sechs Sitzungswochen, um bereits laufende Gesetzesverfahren zum Abschluss zu bringen oder länger geplante doch noch unter Dach und Fach zu bringen.
„Recht auf Abtreibung“ soll begründet werden
Während die deutsche Wirtschaft am Boden liegt, die Inflation vielen Unternehmen und Bürger vor existentielle Sorgen bereitet, die Bundeswehr weiter um ihre Einsatzfähigkeit ringt und ein Bundeshaushalt beschlossen werden muss, haben 236 Abgeordnete offenbar nichts Wichtigeres zu tun, als den Versuch zu unternehmen, das Töten unschuldiger und wehrloser Menschen mehrheitlich für rechtens zu erklären. Denn genau darum geht es: Der 29 Seiten umfassende Gesetzesentwurf nebst Anhang (17 Seiten) will die Tötung unschuldiger und wehrloser Kinder im Mutterleib nicht – wie bislang – unter bestimmten Bedingungen für die in Auftrag gebende Schwangere und den diesen Auftrag ausführenden Arzt bloß „straffrei“, sondern erstmals „rechtmäßig“ stellen.
Aus einer „rechtswidrigen“ Tat, die die staatliche Ordnung missbilligt, von deren Strafverfolgung sie jedoch unter bestimmten Bedingungen absieht, würde damit eine „rechtmäßige“. Anders formuliert: Obwohl das Grundgesetz in Artikel 2 Absatz 2 „das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“ eines jeden anerkennt und obgleich, laut der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit „jeder“, auch der ungeborene Mensch gemeint ist, würde die Annahme von 20/13775 auf dem Territorium der Bundesrepublik Deutschland erstmals ein „Recht auf Abtreibung“ begründen.
Der Weg in den Unrechtsstaat ist eine reale Gefahr
Wie realistisch ist das? Fest steht: Die offenbar zu allem entschlossenen 236 Bundestagsabgeordneten können zumindest die Erste Lesung ihres Gesetzesentwurf erzwingen. Laut der Geschäftsordnung des Bundestags haben alle Antragsteller ein Anrecht darauf, das ihr Antrag binnen drei Sitzungswochen auf die Tagesordnung gesetzt und im Parlament behandelt wird. Zwar müssten die beratenden Ausschüsse zwischen der Ersten und der Zweiten und Dritten Lesung noch eine Öffentliche Anhörung von Sachverständigen durchführen. Doch wie die Vergangenheit gezeigt hat, lassen sich Anhörung und Zweite und Dritte Lesung bei entsprechender Planung auch in derselben Sitzungswoche bewerkstelligen. Käme es tatsächlich zur finalen Lesung, müsste nach den Gepflogenheiten des Bundestags, die Abstimmung freigegeben werden. Bei aktuell 733 Abgeordneten würden 367 Ja-Stimmen benötigt, um den Antrag durchzubekommen. Bleiben der Abstimmung Abgeordnete fern, sinkt die Zahl der benötigten Ja-Stimmen entsprechend. Die Gefahr, dass die Bundesrepublik Deutschland von einem auf den anderen Tag von einem Rechts- zu einem Unrechtsstaat mausert, ist also durchaus real.
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