„Krieg“, schrieb der preußische Generalmajor und Militärstratege Carl von Clausewitz (1780–1831) in seiner berühmt gewordenen Schrift „Vom Kriege“, sei die „bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“. Mit anderen Worten: Nicht jeder, der nicht mehr weiterweiß, gründet deshalb einen Arbeitskreis.
Logiker wissen, dass die Umkehrung eines wahren Satzes nicht auch schon dessen Kehrsatz zu einem solchen macht. Angenommen Clausewitz läge richtig und Krieg wäre tatsächlich die „bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“, gilt es, den Gesetzen der Logik folgend, keineswegs als gesichert, dass Politik ihrerseits „die bloße Fortsetzung“ des Krieges „mit anderen Mitteln“ wäre. Und doch scheint es sich genau so zu verhalten. Jedenfalls, sobald die Biopolitik in den Blick gerät. Woran das liegen könnte, dazu später mehr.
Mehrere heiße Schlachten
Zunächst: Aus biopolitischer Perspektive war 2025 ein ziemlich ereignisreiches Jahr. Auch in Deutschland, wo sich Abtreibungsbefürworter und -gegner gleich mehrere heiße Schlachten lieferten. Die für die ungeborenen Kinder gefährlichste konnte dabei glücklicherweise verhütet werden. Unter normalen Umständen wäre das kaum möglich gewesen. Eine Gruppe von Parlamentariern um die Abgeordneten Carmen Wegge (SPD) und Ulle Schauws (Bündnis 90/Die Grünen) hatte den „Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs“ (Bundestagsdrucksache 20/13775) in den Bundestag eingebracht. Der hätte aus „rechtswidrigen“, aber „straffreien“ Abtreibungen „rechtmäßige“ gemacht und die Kosten dafür auch noch gleich der Solidargemeinschaft der Krankenversicherten aufgebürdet.
Das Diabolische daran: Das Drama einer der Rechtsordnung widerstreitenden vorgeburtlichen Tötung eines unschuldigen und wehrlosen Menschen sollte zu einer mit der Rechtsordnung vereinbaren, abrechenbaren Heilbehandlung der ungewollt Schwangeren umetikettiert werden. Mehr noch: Zwar sollte die Pflicht zur Beratung erhalten bleiben. Allerdings sollte sie sich nicht länger von dem Bemühen leiten lassen, die Schwangere zur Fortsetzung der Schwangerschaft zu ermutigen und ihr Perspektiven für ein Leben mit dem Kind aufzuzeigen. Entfallen sollte auch die dreitägige Bedenkzeit, die nach geltendem Recht zwischen der vorgeburtlichen Kindstötung und der erfolgten Beratung liegen muss, um übereilte Entscheidungen nach Möglichkeit zu verhindern. Eine parlamentarische Mehrheit für den nach geltender Rechtsprechung zweifelslos verfassungswidrigen Gesetzesentwurf schien zwar nicht sicher, aber in erreichbarer Nähe zu liegen.
Laut den Initiatoren war es ihnen gelungen, nach der Ersten Lesung Anfang Dezember 2024 ganze 328 der 733 Abgeordneten des 20. Deutschen Bundestages hinter dem angestrebten Paradigmenwechsel zu versammeln. Das waren vier mehr, als SPD und Bündnis 90/Die Grünen Mandate besaßen. Für eine Mehrheit fehlten den Initiatoren noch 39 Stimmen. Mit den Stimmen der Linken (28) und dem BSW (10) allein wäre diese nicht erreichbar gewesen. Die Hoffnung der Initiatoren richtete sich daher auf die FDP. Die war aber anders als bei der Streichung des Werbeverbots für Abtreibung (Paragraf 219a Strafgesetzbuch) in Gestalt des Bundesjustizministers von der Verfassungswidrigkeit des Gesetzentwurfs überzeugt und nach dem Rauswurf ihres Parteichefs Christian Lindner aus dem Kabinett und seiner Entlassung als Bundesminister der Finanzen ohnehin wenig geneigt, SPD und Bündnisgrünen bei ihrem Lieblingsprojekt zum Erfolg zu verhelfen. Wollte die FDP im nächsten Bundestag wieder vertreten sein, war sie ohnehin auf Zweitstimmen von Unionswählern angewiesen, der man daher hübsche Augen zu machen begann.
Auch in der Causa Frauke Brosius-Gersdorf ging es um Biopolitik
Spekulationen darüber, ob sich nicht dennoch genügend FDP-Abgeordnete gefunden hätten, die in Namentlicher Abstimmung nach einer Zweiten und Dritten Lesung des Gruppenantrags für diesen gestimmt hätten, sind müßig. Da sich der Ältestenrat nach dem Aus der Ampelregierung auf die Streichung ganzer Sitzungswochen verständigt hatte, lief den Initiatoren des Entwurfs die Zeit für ein geordnetes Gesetzgebungsverfahren davon. Zwar konnten die Initiatoren vor der letzten Sitzung des 20. Deutschen Bundestags noch eine Öffentliche Expertenanhörung durchsetzen, bei der die von der Union geladenen Sachverständigen den Gesetzesentwurf nach Strich und Faden zerpflückten. Am Ende hätte der Rechtsausschuss des Bundestags eine Sondersitzung einberufen müssen, um das Gesetzgebungsverfahren zum Abschluss zu bringen. Dem verweigerten sich jedoch die Ausschussmitglieder von Union und FDP und sorgten so dafür, dass der Gesetzesentwurf der Diskontinuität verfiel und dort landete, wo er in jedem Staat, der seine Bürgerinnen und Bürger für die Folgen ihres Intimverhaltens verantwortlich wähnt, ohnehin hingehört: auf dem Müllhaufen der Parlamentsgeschichte.
Der Grimm, mit welchem die nächste Schlacht ausgetragen wurde, hängt mit dieser nicht ausgefochtenen eng zusammen. Dass dies nicht auf Anhieb für jeden ersichtlich war, lässt sich jedoch verstehen. Wer vermutet auch schon hinter der Wahl von Richtern zum Bundesverfassungsgericht ausgerechnet einen Streit um Biopolitik? Doch in der Causa Frauke Brosius-Gersdorf ging es – auch wenn der Fall durchaus noch einige Weiterungen aufwies – im Kern genau darum. Die Potsdamer Verfassungsrechtlerin war nämlich zuvor Stellvertretende Koordinatorin der Arbeitsgruppe 1 der von der Ampel eingesetzten „Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin“ in Erscheinung getreten. Und die wiederum hatte der Ampelregierung in ihrem Abschlussbericht so ziemlich genau das empfohlen, was der Gruppenantrag der Parlamentarier um Wegge und Schauws später in Gesetzesform gießen sollte. Anders formuliert: Mit der Nominierung von Frauke Brosius-Gersdorf wollte die SPD auch die Chancen erhöhen, dass der von ihr angestrebte Paradigmenwechsel beim Paragrafen 218 Strafgesetzbuch in Karlsruhe nicht gleich wieder durchfiel. Für wen die Potsdamer Verfassungsrechtlerin dennoch ein unbeschriebenes Blatt war, der hatte entweder ein Jahr Biopolitik in Deutschland komplett verschlafen oder aber einen ausgedehnten Urlaub auf dem Mond zugebracht.
Wenig Gegenliebe bei vielen Unionsabgeordneten
Für gut informierte Lebensrechtler war die Juraprofessorin dagegen so etwas wie eine alte Bekannte. Ihnen war weder entgangen, dass Frauke Brosius-Gersdorf als eine von drei Prozessbevollmächtigten bei der Verfassungsbeschwerde der Gießener Abtreibungsärztin Kristina Hänel firmierte, die sich durch das Werbeverbot für vorgeburtliche Kindstötungen in ihren Grundrechten beeinträchtigt wähnte, noch dass sie, ebenso wie ihr Doktorvater Horst Dreier, in ihrem juristischen Schrifttum das Modell eines gestuften Lebensschutzes vertrat und es folglich keineswegs für ausgemacht hielt, dass die Menschenwürde mit dem Menschsein gegeben sei. Eine Position, zu der sich Brosius-Gersdorf auch in der bereits erwähnten Expertenanhörung des Rechtsausschusses erneut bekannt und in der sie befand: „Es gibt gute Gründe dafür, dass die Menschenwürdegarantie erst ab der Geburt gilt.“
Wer all das wusste, der hätte auch wissen können, dass dies bei vielen Unionsabgeordneten auf wenig Gegenliebe stoßen würde. Der Unionsfraktionsvorsitzende Jens Spahn (CDU) und der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Alexander Herrmann (CSU) wussten all dies offenbar nicht. Falls doch, maßen sie diesem Wissen jedenfalls keine sonderliche Bedeutung zu und schienen davon auszugehen, dass die Unionsabgeordneten sich dem Wunsch des Koalitionspartners SPD fügen würden. Das kann man verstehen. Die Zeiten, in denen die Union, nicht völlig zu Unrecht, als Kanzlerwahlverein verspottet wurde, lagen da noch nicht allzu weit zurück.
Und dennoch hatten nüchterne politische Beobachter jeden Grund, sich über die Instinktlosigkeit der Fraktionsführung zu wundern. Dass die AfD die Union zu zerstören trachtet, war in den sozialen Netzwerken – auch aus berufenem Munde – derart häufig verkündet worden, dass es die Spatzen längst von den Dächern pfiffen. Und wie begegnet ein direkt gewählter Abgeordneter einem solchen „Move“ wohl? Er beginnt schon rein instinktiv, alles zu schützen, was seine Wähler zum Markenkern seiner Partei zählen. Wenn nicht aus persönlicher Überzeugung, dann zumindest aus Gründen des Selbstschutzes. So auch hier.
Beatrix von Storch lockte Friedrich Merz in die Falle
Denn für die allermeisten Stammwähler, die der Union verblieben sind, steht der Schutz des Lebens ungeborener Menschen nun einmal ganz oben, wenn es um das Proprium der C-Parteien geht. Und weil die AfD-Abgeordnete Beatrix von Storch genau das verstanden hatte, lockte sie Friedrich Merz am 9. Juli bei der Regierungsbefragung in die Falle („Ich frage Sie, ob Sie es mit Ihrem Gewissen vereinbaren können, Frau Brosius-Gersdorf zu wählen, für die die Würde eines Menschen nicht gilt, wenn er nicht geboren ist?“) Und weil Merz das nicht verstanden hatte, tappte er prompt hinein („Über die Tragweite und die Reichweite von Artikel 1, Satz 1 unseres Grundgesetzes, Frau von Storch, würde ich bei anderer Gelegenheit dann gerade mit Ihnen gerne mal diskutieren. Aber auf Ihre hier gestellte Frage ist meine ganz einfache Antwort: Ja“).
Nicht nur manch führenden C-Politikern, auch vielen bloßen Taufscheinchristen und erst recht Atheisten fällt es schwer zu verstehen, warum eigentlich viele der ihren Glauben praktizierenden Christen beim Thema Abtreibung keine Ruhe geben. Die bisher tiefreichendste Erklärung dafür hat der US-amerikanische Philosoph Peter Kreeft gegeben, der bis zu seiner Emeritierung viele Jahre an dem von Jesuiten gegründeten Boston College lehrte. Sie lautet: „Abtreibung ist eine dämonische Parodie auf die Eucharistie.“
Warum ist das so? Das ist deshalb so, weil Jesus Christus bei der Einsetzung der Eucharistie Brot nahm, es segnete und sprach: „Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird.“ Bei der Abtreibung wiederholt die Kultur des Todes dieselben Anfangsworte –„Dies ist mein Leib“ –, jedoch mit der blasphemischen Wendung: „Meine Entscheidung“ („My body, my choice“). Planned Parenthood und unzählige andere Abtreibungsanbieter, die diese Parole gebetsmühlenartig wiederholen, mögen subjektiv der Ansicht sein, sie verteidigten damit die vorgeburtliche Kindstötung als Akt persönlicher Freiheit und Rebellion gegen die Biologie.
In Wahrheit wiederholen sie die Worte Christi
In Wahrheit wiederholen sie, ob bewusst oder unbewusst, die Worte Christi – diesmal jedoch befreit von der mit ihnen zum Ausdruck gebrachten aufopfernden Liebe und stattdessen reduziert auf ihre eigene Selbstbezogenheit. Auf diese Weise wird aus dem Akt einer vollkommenen (Selbsthin-)Gabe ein Akt der Zerstörung. Und weil das so ist, geht es bei der Abtreibung nicht einfach nur um ein politisches Thema unter vielen anderen oder um einen medizinischen Eingriff. Es geht um einen geistlichen, ja, letztlich um einen kosmischen Kampf, um ein Sakrament des Teufels, welches das Selbst über alles stellen und wie Gott verehrt sehen will.
Letztlich ist das der Grund, warum Biopolitik stets wie Krieg daherkommt, die Fronten so erbittert und letztlich unversöhnlich aufeinanderprallen. Luzifer, der gefallene Erzengel, würde Gott, seinen Schöpfer, am liebsten auf der Stelle töten, aber weil er das nicht vermag, müht er sich stattdessen, seinen Ebenbildern das größtmögliche Leid zuzufügen, zu dem er fähig ist. Manche Christen müssen vermutlich erst noch besser verstehen, dass es zwar durchaus gilt, Planned Parenthood und anderen Einhalt zu gebieten, dass sie aber dennoch nicht ihre Feinde, sondern lediglich Opfer des Teufels sind. Schachfiguren in einem kosmischen Battle, die der Höllenfürst gegen Gott selbst in Stellung bringt.
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