Ist es seriös, Wahlentscheidungshilfen primär auf Wahlprogrammen aufzubauen? Nach Elon Musks heftig umstrittenem Gastbeitrag in der „Welt“, der sich in seiner pro-AfD-Empfehlung maßgeblich auf die offizielle Programmatik der Partei zu stützen scheint, dafür aber Einschätzungen etwa des Verfassungsschutzes ignoriert, mag dieses Vorgehen bei Teilen der politisch Interessierten als diskreditiert gelten. Nichtsdestotrotz dürfen Wahlprogramme weiterhin als bester, weil nun mal offiziell verabschiedeter Hinweis darauf gelten, was die Herzen der Parteifunktionäre für kommende Regierungstätigkeiten ersehnen. Dies gilt auch für den vom Vorstand beschlossenen Programmentwurf der SPD, den die Partei voraussichtlich auf ihrem Parteitag am 11. Januar ohne allzu große Änderungen bestätigen wird.
Was also haben die Sozialdemokraten für christliche Wähler im Angebot? Im Vergleich zum Unionsprogramm ist der direkte Bezug auf Kirche und Christentum erwartungsgemäß dürftig. Das Wort „christlich“ kommt auf den 66 Seiten mit dem Titel „Mehr für dich. Besser für Deutschland.“ gar nicht vor. „Kirche“ kommt zweimal vor. Unter dem Kapitel „Wir kämpfen für Zusammenhalt und gegen die Feinde der Demokratie“ – ein Satz, dem sich die Hierarchie der großen Kirchen in ihrem eigenen politischen Engagement bekanntlich vollumfänglich wiederfinden dürfte – steht die folgende knappe Würdigung: „Kirchen und Religionsgemeinschaften leisten einen wertvollen Beitrag für unser Zusammenleben. Wir fördern den interreligiösen Dialog und schützen die Religionsfreiheit, um die Vielfalt unserer Gesellschaft als Chance für ein weltoffenes Miteinander zu stärken.“
Für Familienzusammenführung, gegen Zurückweisungen
Zu Religionsunterricht und Ablösung der Staatsleistungen findet sich im Programm kein Eintrag. Eine zweite knappe Erwähnung finden die Kirchen nur noch beim Thema Entwicklungshilfe: hier würden kirchliche Partner wichtige Arbeit leisten. Die SPD schlägt bei diesem Thema darüber hinaus vor, die internationale Finanzarchitektur „gerechter“ zu machen, und die Schulden hochverschuldeter Länder gegen Verpflichtungen zu sozialer und ökologischer Transformation zu tauschen, was jeweils zumindest ansatzweise in eine ähnliche Richtung wie die Ideen des Papstes zum Verhältnis von Industrie- und Entwicklungsländern geht.
Überschneidungen mit politischen Empfehlungen von Papst und Deutscher Bischofskonferenz (DBK) gibt es augenscheinlich auch beim Thema Flucht und Asyl. So soll es nach dem Willen der SPD, anders als etwa von Unionspolitikern gefordert, keine „Pushbacks“, also Zurückweisungen von Migranten an Grenzen, geben. Auch gegen eine Durchführung von Asylverfahren in Drittstaaten positioniert sich die SPD, es müsse faire und rechtsstaatliche Verfahren in der EU geben, was etwa auch der Flüchtlingsbeauftragte der DBK, Bischof Stefan Heße, immer wieder betont. In seinem Sinne dürfte auch die Forderung sein, die Familienzusammenführung für subsidiär Schutzbedürftige weiterhin zu ermöglichen.
Mehr Betreuung, mehr Elternzeit
Die übrigen familienpolitischen Vorschläge der Partei, die seit 2013 durchgehend an der Bundesregierung beteiligt ist, folgen (wie auch ein Großteil der übrigen Vorschläge) konsequent dem titelgebenden Motto „Mehr“ (staatliche Leistungen). Eine zweiwöchige Familienstartzeit bei voller Lohnfortzahlung direkt nach der Geburt findet sich hier ebenso wie Mutterschutz für Selbstständige und ein gestaffelter Mutterschutz bei Fehlgeburten, falls dieser nicht sowieso noch vor der Wahl beschlossen wird. Auch soll der Elterngeldbezug auf 18 Monate ausgeweitet werden, davon allerdings je sechs Monate nicht übertragbar für Mutter und Vater. Ein sozialdemokratischer Klassiker ist die Forderung nach „mehr Kita-Plätzen, Ganztagsunterricht im Grundschulalter, und einem generellen Ausbau von Betreuungszeiten“, die die SPD jeweils durch mehr Fachkräfte im Bildungssystem erreichen will. Den Rechtsanspruch zur Ganztagsbetreuung im Grundschulalter ab 2026 hatte die SPD sowie so schon zusammen mit der Union 2021 beschlossen, im Wahlprogramm verspricht sie nun, ihn auch zuverlässig einzulösen.
Für etwas Stirnrunzeln hatte bei Beobachtern lediglich die Familiendefinition geführt, die das Kapitel Familienpolitik einleitet: Die Ausdrücke Vater, Mutter oder Kind werden vermieden, Familie sei schlicht „dort, wo Menschen aufeinander achtgeben und füreinander einstehen wollen“. Dafür bekennt sich die SPD gewissermaßen zum Konzept der Familie als Keimzelle der (demokratischen) Gesellschaft, wenn sie schreibt, eine Gesellschaft werde davon geprägt, wie gut es den Familien gehe. Und: „Auch unsere Demokratie ist in der Familie angelegt, denn im Familienrat werden alle gehört, alle haben eine Stimme“.
Gleichstellung in Politik und Familie
Doch nicht nur innerhalb der Familie, auch in der Arbeitswelt soll es egalitär zugehen: „Damit Frauen und Männer gleichermaßen am Erwerbsleben, an der Care-Arbeit und an Führungspositionen teilhaben können, bekämpfen wir strukturelle Benachteiligungen“, schreibt die SPD. Und weiter: „Die gerechte Aufteilung von Sorgearbeit muss selbstverständlich sein.“ Das „Gender Mainstreaming“ solle darüber hinaus „auch künftig“ Leitprinzip aller Regierungsressorts sein; Kanzler Olaf Scholz hatte das Paritätsprinzip bei den Ministerämtern zwischenzeitlich aufgegeben, als er Christine Lambrecht als Verteidigungsministerin gegen Boris Pistorius hatte austauschen müssen. Im Namen der Gleichheit will die SPD aber offenbar auch die Grundsätze repräsentativer Demokratie überdenken – jedenfalls schlägt das Programm ein Gesetz vor, das die „paritätische Vertretung von Frauen und Männern im Deutschen Bundestag bei Listen- und Direktmandaten sicherstellt“.
Weitere emanzipatorische Vorhaben umfassen vollständige die Gleichstellung „queerer“ Familien im Familien- und Abstammungsrecht sowie die Aufnahme von sexueller Orientierung und geschlechtlicher Identität als Gegenstand verbotener Benachteiligung ins Grundgesetz. Letzteres hatte auch das Zentralkomitee deutscher Katholiken (ZdK) Ende November gefordert.
Kampf gegen Anti-Feminismus
Den einmal errungenen gesellschaftlichen „Fortschritt“ will die SPD robust verteidigen – manch liberal gesinntem Geist dürften sich die Zehennägel kräuseln, und auch konservative Katholiken könnten sich mangels eindeutiger Definitionen die Frage stellen, ob hier nicht auch herkömmliche christliche Vorstellungen unter staatlichen Beschuss kommen könnten: So will die SPD „Antifeminismus und Anti-Gender-Bewegungen entgegentreten, denn diese „bedrohen unser freiheitliches Zusammenleben“.
Wer sich darunter nichts vorstellen kann, findet etwa auf der Seite des staatlichen Programms „Demokratie leben!“ sachdienliche Hinweise. Während Anti-Feminismus bedeute, so ist hier zu lesen, „feministische Anliegen und Positionen pauschal, aktiv und oft organisiert zu bekämpfen oder zurückzuweisen, sei es als Individuum in Internet-Diskussionen, sei es in Parteien oder anderen Gruppierungen“, richte sich Anti-Gender-Mobilisierung, „nicht nur gegen Feminismus und Gleichstellung, sondern auch dagegen, die Vielfalt sexueller, geschlechtlicher, amouröser und familiärer Lebensweisen und Identitäten als gleichwertig zu akzeptieren.“ Es braucht nicht viel Fantasie, sich die katholische Kirche angesichts ihrer bisherigen Morallehre als antifeministische Gruppierung vorzustellen, die etwa die Gleichwertigkeit unterschiedlicher amouröser Lebensweisen bestreitet.
Es soll „kein Gefühl von staatlicher Zensur aufkommen“
Damit läge sie also wenigstens in der Theorie über Kreuz mit einer SPD, die diesbezüglich „jegliche Formen von Diskriminierungen bekämpfen und gegen Herabwürdigungen und Hassreden“ vorgehen will. Unnötig zu erwähnen, dass die SPD auch „systemische Risiken“ auf digitalen Plattformen angehen will, Stichwort „Desinformation und Fake News“. Neben der konsequenten Durchsetzung der sowieso immer restriktiveren europäischen Vorschriften wie etwa dem „Digital Services Act“ schwebt den Sozialdemokraten in diesem Kontext eine stärkere „Zusammenarbeit“ mit Berufsverbänden und „Gremien der Selbstverwaltung, beispielsweise dem Presserat“ vor. Der Staat könne Moderation von Plattformen einfordern und „unabhängige Medien fördern, die unter anderem auch Faktenchecks durchführen“. Die staatliche Aufsicht selbst müsse sich freilich „zurückhalten, um kein Gefühl von staatlicher Zensur aufkommen zu lassen“ – eine doch bemerkenswerte Formulierung.
Möglicherweise wichtigstes Einzelthema für Katholiken dürfte jedoch die Abtreibungsfrage sein, und auch hier positioniert sich die SPD wenig überraschend entgegen katholischer Überzeugungen. Schwangerschaftsabbrüche wollen die Sozialdemokraten, die ja auch in den letzten Zügen der laufenden Legislaturperiode einen diesbezüglichen Gruppenantrag unterstützen, „entkriminalisieren und außerhalb des Strafrechts regeln“; Schwangerschaftsabbrüche sollen zu einem Teil der „medizinischen Grundversorgung“ werden.
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