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Abtreibung ist keine medizinische Heilbehandlung

Einer Liberalisierung des § 218 StGB hätte „die CDU niemals zugestimmt“, meint die Sprecherin für Bildung und Familie der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Anne König.
Anne König
Foto: Tobias Koch | Verlangt der Koalitionsvertrag, wie Frauke Brosius-Gersdorf meint, eine Legalisierung der Abtreibung in den ersten 12 Wochen? Nein, ist sich die CDU-Bundestagsabgeordnete Anne König sicher.

Frau König, der Streit um die Richterwahl hat einen um die Interpretation des Koalitionsvertrags generiert. In der Erklärung, mit der Frau Brosius-Gersdorf ihren Kandidaturverzicht begründet, behauptet sie, die „ablehnende Haltung von Teilen der CDU/CSU-Fraktion“ wegen ihrer Position zur Abtreibung stünde „im Widerspruch zum Koalitionsvertrag.“ Da der von der Kostenübernahme „durch die gesetzliche Krankenversicherung“ spreche, bezöge sich die vereinbarte Erweiterung nicht auf eine Verbesserung der Leistungen für sozial bedürftige Frauen. Eine Erweiterung der Kostenübernahme durch die gesetzliche Krankenversicherung setze aber voraus, dass der Schwangerschaftsabbruch in der Frühphase der Schwangerschaft rechtmäßig ist. Der Koalitionsvertrag gehe also von einer Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs in den ersten Wochen der Schwangerschaft aus. Hat Frau Brosius-Gersdorf da einen Punkt?

Nein. Wenn das so wäre, hätte die CDU dieser Formulierung natürlich niemals zugestimmt. Diese Folgerung ist auch weder verfassungsrechtlich noch rechtssystematisch geboten. Der Koalitionsvertrag ist ein politisches Arbeitsprogramm und beschreibt lediglich gesetzgeberische Ziele, und die beziehen sich hier nur auf die Übernahme von Kosten. Inwieweit der Staat Abtreibungskosten übernimmt und diese Übernahme zum Beispiel durch die Krankenkassen durchführen lässt, ist aber allein eine Frage des Sozialrechts. Unsere Fraktion hat hierzu ein Gutachten bei dem renommierten Bonner Sozialrechtler Professor Gregor Thüsing in Auftrag gegeben, das bestätigt, dass eine erweiterte Kostenübernahme bestimmter Fallgruppen keinerlei Änderungen im strafrechtlichen Schutz für das ungeborene Leben voraussetzt. Die geltende Regelung, die unter klar definierten Voraussetzungen einen Schwangerschaftsabbruch in den ersten zwölf Wochen trotz grundsätzlicher Rechtswidrigkeit straffrei stellt, wurde nach der Wiedervereinigung in einem breiten Konsens beschlossen, der einen jahrzehntelangen gesellschaftlichen Konflikt befriedet hat. Hieran halten wir als CDU/CSU fest. Eine Abtreibung kann und muss anders behandelt werden als eine medizinische Heilbehandlung, die Leben erhält.

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In Ihrem sehr lesenswerten Essay für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ) haben Sie die geltende Rechtslage als „nicht perfekt, aber grundlegend und praxisgerecht“ bezeichnet und darauf hingewiesen, das Schutzkonzept rund um den § 218 StGB sei „kein Relikt des vermeintlich frauenfeindlichen frömmelnden Katholizismus“, sondern „Ausdruck einer tief durchdachten, verfassungsrechtlich gefestigten Balance zwischen dem Lebensrecht des ungeborenen Kindes und dem Selbstbestimmungsrecht der Frau.“ Nun entscheiden sich in Deutschland aber jährlich mehr als 100.000 Frauen gegen das Lebensrecht des Kindes. Müsste das die Politik nicht unruhiger machen?

Natürlich bekümmert uns das sehr, und es muss uns sensibel machen für die persönliche Gewissensnot, in der – viel zu oft – Frauen Entscheidungen gegen ein Kind treffen. Für die Politik folgt daraus die Frage, wie wir Rahmenbedingungen für junge Familien und insbesondere Mütter weiter verbessern können, damit die Entscheidung für Kinder leichter fällt. Handlungsbedarf für das Strafrecht sehe ich nicht. Hilfestellungen für Schwangere finden sich ja nicht in erster Linie dort. Das Strafrecht sichert aber vor allem das zentrale Schutzinstrument ab, das der Staat dem ungeborenen Kind auch in den ersten Schwangerschaftswochen schuldet: nämlich das Beratungsgespräch. Und lassen Sie mich klarstellen: Der oft wiederholte Vorwurf, § 218 StGB kriminalisiere Frauen oder Ärzte, hält einer Überprüfung nicht stand. Die Zahl strafrechtlicher Verfahren gegen Schwangere tendiert gegen null. Im Jahr 2022 gab es bundesweit fünf Verfahren, sämtlich gegen Männer, die durch Gewalt versuchten, eine Schwangerschaft gegen den Willen der Frau zu beenden. Unter den Voraussetzungen von Beratung, dreitägiger Bedenkzeit und Durchführung innerhalb von zwölf Wochen ist der Tatbestand des § 218 StGB ausdrücklich nicht verwirklicht. Der Gesetzgeber respektiert damit die eigenverantwortliche Entscheidung der schwangeren Frau in einem klar definierten Rahmen und erfüllt zugleich die vom Bundesverfassungsgericht geforderte Schutzpflicht. Wer diesen Ausgleich verändern will, muss bedenken, dass er in eine seit Jahrzehnten gefestigte verfassungsrechtliche Architektur eingreift, die nicht nur das ungeborene Leben schützt, sondern auch vor der gesellschaftlichen Polarisierung bewahrt, die wir in anderen Ländern beobachten.

Sie sind selbst Mutter zweier Kinder, wissen also um die Schwierigkeiten, Familie und Beruf zu vereinen. Oft lehnen ungewollt Schwangere Kinder ja nicht prinzipiell ab, sondern können sich nur nicht vorstellen, sie in ihrer aktuellen Lage großzuziehen. Tut der Staat hier genug, um ihnen ihre Bedenken zu nehmen?

Der Staat bietet Schwangeren heute viele Hilfen, von kostenfreier Beratung über Mutterschutz und Elterngeld bis hin zu unbürokratischer finanzieller Unterstützung. Aber ich will auch nichts beschönigen. Besonders alleinstehende Frauen oder solche, die vom Partner keinen Rückhalt bekommen, sind es, die über einen Abbruch nachdenken. Genau diesen Frauen müssen wir eine bessere Perspektive geben: mit finanzieller Sicherheit, verlässlicher Kinderbetreuung und einer Arbeitswelt, die Familie und Beruf vereinbar macht, dafür setze ich mich auch als Sprecherin für Bildung und Familie der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ein.

In Ihrem FAZ-Essay schreiben Sie, ein Schwangerschaftsabbruch sei „keine harmlose Gesundheitsleistung“ wie die „Entfernung eines Abszesses“. Bis zu Ihrem Einzug in den Deutschen Bundestag waren Sie Lehrerin. Haben Sie den Eindruck, dass dies jungen Menschen in den Schulen hinreichend vermittelt wird? Im Netz kursieren ja zum Beispiel Videos, in denen Abtreibungen gefeiert werden.

Ich halte nichts davon, jede Verantwortung an die Schulen abzugeben. Auch wenn es selbstverständlich dazu gehört, im Sexualkundeunterricht offen zu benennen, wie schwerwiegend ein Schwangerschaftsabbruch für die Frau ist. Wichtig dabei ist aber, immer auch an die Verantwortung der Väter zu appellieren, und da kann mancher männlicher Schüler nicht früh genug sensibilisiert werden. Soweit Sie auf solche Perversionen in Social Media hinweisen, ist das nur schwer erträglich. Auch hier haben wir einen verfassungsrechtlichen Schutzauftrag. Deshalb setze ich mich im Bundestag mit Nachdruck für eine verbindliche Altersverifikation ein, die Kinder und Jugendliche von solchen Inhalten fernhält. Insgesamt sehe ich aber unsere Jugend und ihre Einstellung zur Elternschaft sehr positiv: Als ich kürzlich das Jahrbuch einer Abiturientin in der Hand hielt, war ich erfreut, dass sich viele Absolventen ihre Zukunft mit Kindern und Familie vorstellen. Das stimmt mich hoffnungsvoll.

Sie sind Katholikin. Die katholische Kirche hält die vorgeburtliche Tötung eines Kindes für moralisch inakzeptabel. Einzige Ausnahme: Wenn das Leben der Mutter durch die Fortsetzung der Schwangerschaft auf dem Spiel steht, existiert auch für die Kirche keine moralische Pflicht der Mutter, ihr eigenes Leben zugunsten des Kindes zu opfern. Finden Sie, die Kirche in Deutschland macht ihre Ablehnung der Abtreibung deutlich genug?

Die katholische Kirche hat ihre Stimme für den Schutz des ungeborenen Lebens unmissverständlich deutlich gemacht, während sich andere zu oft weggeduckt haben. Umso mehr muss sie ihre Haltung mit konkreten Hilfsangeboten und Schutzräumen verbinden. Sie soll nicht moralisieren, sondern praktisch unterstützen. Der schwangeren Frau darf nie der erhobene Zeigefinger gezeigt werden, sondern immer die helfende, ausgestreckte Hand. Ich persönlich finde die Gesetzgebung einschließlich der Paragraphen § 218 und § 218a angesichts des schwierigen Konflikts zwischen dem Lebensrecht des Kindes und dem Selbstbestimmungsrecht der Mutter richtig austariert, und auch meine Kirche sollte sich darin wiederfinden können.

Das Vorschlagsrecht für die Kandidatin Brosius-Gersdorf lag bei der SPD. Sie wird sich jetzt Gedanken zu einem neuen Kandidaten oder einer neuen Kandidatin machen müssen. Was sollten die Sozialdemokraten Ihrer Meinung nach beachten, damit sich so etwas nicht wiederholt?

Soweit der Bundestag Richter für das Bundesverfassungsgericht wählt, ist eine Zweidrittelmehrheit der Abgeordneten erforderlich. Daher ist es gute Tradition, dass diejenigen, denen das Vorschlagsrecht zusteht, überparteilich konsensfähige Kandidaten vorschlagen. Nach dem bekannten Satz des Katholiken und klugen Juristen Ernst-Wolfgang Böckenförde, der übrigens 1983 auf Vorschlag der SPD zum Bundesverfassungsrichter gewählt wurde, lebt unser Staat von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Und dazu gehört eben auch, dass Parteien für unser höchstes Gericht Kandidaten vorschlagen, die in breiten Teilen unserer Gesellschaft zustimmungsfähig sind, weil sie nicht polarisieren, sondern die Grundlagen unserer Demokratie stärken. In einer Zeit, in der sich unsere Gesellschaft mehr und mehr spaltet, ist es unsere gemeinsame Verantwortung, eine Persönlichkeit zu finden, die diese Grundlagen mit Urteilskraft, Maß und auf dem Boden des Grundgesetztextes wahrt.

Anne König, geboren 1984 in Borken, trat mit 16 Jahren in die CDU ein. Bis zu ihrer Wahl in den Deutschen Bundestag 2021 unterrichtete die Mutter zweier Söhne die Fächer Mathematik, Geschichte und Katholische Religion und war Teil des Schulleitungsteams einer Gesamtschule in Borken. Bei der Bundestagswahl 2021 gewann sie das Direktmandat im Wahlkreis Borken II mit 43,7 Prozent. Bei ihrer Wiederwahl 2025 waren es gar 47,9 Prozent. Die 40-Jährige ist Mitglied der Katholischen Frauengemeinschaft Deutschlands (KfD) und Präsidentin der Frauenschützen Münsterland.

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