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Europa sollte auf russische Touristen verzichten

Ein EU-weiter Visa-Stopp wäre eine nicht-militärische Waffe, die die bisherigen Profiteure des „Systems Putin“ träfe.
Debatte um Visavergabe an russische Staatsbürger
Foto: IMAGO/Kirill Kukhmar (www.imago-images.de) | Sanktionen – und ebenso Einreisebeschränkungen für russische Bürger – sind eine nicht-militärische Waffe in diesem Krieg, in dem Schuldige wie Unschuldige zu Schaden kommen.

„Europa zu besuchen ist ein Privileg, kein Menschenrecht“, begründete Estlands Regierungschefin Kaja Kallas ihre Entscheidung, für Staatsbürger der Russischen Föderation keine Touristenvisa mehr auszustellen. Ähnlich optieren Finnland, Litauen und Lettland. Aber auch Belgien, Dänemark, die Niederlande und Malta setzen restriktivere Regeln für russische Bürger in Kraft. Spätestens jetzt, da sich Politiker von CDU und CSU für ein Aussetzen von Touristenvisa an Russen aussprechen, ist die Debatte unausweichlich.

Haarrisse in einem zementierten Machtkonstrukt

Die Gegenargumente sind rasch auf dem Tisch: Man dürfe die Russen nicht kollektiv für Putins Krieg bestrafen, würde russische Ressentiments gegen Europa nur weiter steigern – und außerdem habe eine solche Maßnahme keinen Einfluss auf den Fortgang des Kriegs in der Ukraine. Mit denselben Argumenten ließe sich gegen viele Russland-Sanktionen der EU polemisieren.

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Jedoch, es herrscht Krieg in Europa – ein brutaler, blutiger Eroberungs- und Vernichtungskrieg, den Russlands Präsident Wladimir Putin begonnen hat und immer weiter intensiviert. Die Europäische Union ist in diesem Krieg nicht neutral, sondern steht politisch und (durch Waffenkäufe und Waffenlieferungen) militärisch an der Seite der Ukraine. Die Sanktionen – und ebenso Einreisebeschränkungen für russische Bürger – sind eine nicht-militärische Waffe in diesem Krieg, in dem Schuldige wie Unschuldige zu Schaden kommen.

Klagen vor dem Internationalen Strafgerichtshof, das Einfrieren oder die Beschlagnahme von Vermögenswerten sollen tatsächlich die „Schuldigen“, also Akteure und Kollaborateure des „Systems Putin“ treffen. Das Aussetzen von Touristenvisa dagegen soll jene zehn Prozent der russischen Gesellschaft treffen, deren Ärger und Missmut für dieses System nicht völlig irrelevant ist. Das mag Putins Amoklauf in der Ukraine nicht stoppen, könnte aber die Haarrisse in seinem zementierten Machtkonstrukt verbreitern. Die schmale russische Oberschicht, die von Putins tyrannischer Herrschaft bisher profitierte und sich zugleich einen Luxus jenseits der russischen Grenzen leisten konnte, muss jetzt spüren, dass Putins Krieg in der Ukraine ihre Privilegien und ihren Luxus ins Wanken bringt.

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Stephan Baier CDU CSU Russlands Krieg gegen die Ukraine Ukraine-Krieg Vernichtungskriege Wladimir Wladimirowitsch Putin

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