Wieder einmal hat der russische Autokrat Wladimir Putin genau das Gegenteil dessen erreicht, was er nach eigener Aussage wollte: Er weitete am 24. Februar seinen 2014 begonnenen, blutigen Krieg gegen die Ukraine aus, um eine Erweiterung der NATO zu verhindern, obwohl ein Beitritt der Ukraine (wie auch Georgiens) zur NATO gar nicht auf deren Tagesordnung stand. Putins Krieg jedoch bewirkt, dass jetzt sowohl Finnland als auch Schweden möglichst rasch der NATO beitreten wollen. Besonders eilig haben es die Finnen mit ihrer 1.300 Kilometer langen Grenze zu Russland. Sie wollen im Laufe des Mai ihren Antrag auf Aufnahme ins nordatlantische Verteidigungsbündnis stellen, um noch vor Jahresende tatsächlich aufgenommen zu werden.
Jedes Vertrauen in den Kreml verloren
Da können Putins Sprachrohre - Ex-Präsident Dmitri Medwedew, Außenminister Sergej Lawrow und Kremlsprecher Dmitri Peskow - noch so sehr wettern und drohen: Russlands Nachbarn haben jedes Vertrauen in den Kreml verloren und suchen nun Schutz im stärksten Militärbündnis der Welt. Gerade in Finnland, das sich erst 1917 von Russland losriss und während des Kalten Kriegs erzwungenermaßen bündnisfrei blieb, war ein NATO-Beitritt vor dem 24. Februar völlig tabu; nun aber ist eine deutliche Mehrheit der Bürger wie der Parlamentsparteien klar dafür. Auf russische Einschüchterungsversuche und Cyber-Attacken ist man hier gefasst. Zuletzt legten russische Hacker vor wenigen Tagen die Websites mehrerer finnischer Ministerien lahm als der ukrainische Präsident Selenskyj per Videozuschaltung im Parlament zu Helsinki sprach.
Während die Premierministerinnen Finnlands und Schwedens, Sanna Marin und Magdalena Andersson, ihre Länder in die NATO und so in Sicherheit zu führen trachten, drängt eine andere starke Frau des Nordens, die estnische Regierungschefin Kaja Kallas, beharrlich auf mehr militärische NATO-Präsenz in den Ländern nahe der Grenzen Russlands. Für die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen, die vom Hitler-Stalin-Pakt 1939 bis zur Implosion der Sowjetunion 1991 unter Fremdherrschaft und brutaler Russifizierung litten, waren die Beitritte zu NATO wie zur Europäischen Union stets mehr eine Frage der Sicherheit als des Wohlstands.
Sicherheitsgarantien schützten die Ukraine bisher nicht
In der ukrainischen Verfassung ist das Staatsziel eines NATO-Beitritts fest verankert. Präsident Wolodymyr Selenskyj deutete zuletzt einen möglichen Verzicht darauf und eine von umfassenden Sicherheitsgarantien gestärkte Neutralität der Ukraine für den Fall eines raschen Friedensschlusses an. Er stellte jedoch stets klar, dass darüber sowohl das ukrainische Parlament als auch die Bevölkerung in einem Referendum final entscheiden müsse. Sicherheitsgarantien haben die Ukraine jedenfalls weder 2014 noch 2022 vor einem Überfall Russlands geschützt.
In dieser Woche überreichte der Präsident der Ukraine offiziell den EU-Beitrittsantrag an den Botschafter der Europäischen Union in Kiew, den estnischen Diplomaten Matti Maasikas. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen hatte der Ukraine bei ihrem medienwirksamen Besuch in Kiew am 8. April ein beschleunigtes Prozedere zugesagt und Selenskyj den amtlichen Fragebogen für den Start der EU-Beitrittsverhandlungen übergeben. Tatsächlich handelt es sich bei EU-Beitrittsverhandlungen um einen jahrelangen, in einigen Fällen sogar Jahrzehnte währenden, peniblen und aufwändigen Prozess. Dies würde für die Ukraine auch dann gelten, wenn die 27 EU-Mitgliedstaaten tatsächlich zeitnah und einmütig grünes Licht für eine rasche Aufnahme von Beitrittsverhandlungen geben sollten.
Wenig bekannt ist, dass nicht nur der NATO-Beitritt, sondern auch die EU-Mitgliedschaft eine militärische Beistandsklausel beinhaltet. So heißt es in Artikel 42, Absatz 7 des EU-Vertrags von Lissabon wörtlich: "Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung".
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