Wenn die Weltläufe immer chaotischer erscheinen, wächst die Sehnsucht nach Kategorien, die das politische Leben ordnen. So eine Kategorie ist das Staatsbürgerschaftsrecht. Insofern ist es verwunderlich, dass angesichts der "Zeitenwende", die eher eine Sehnsucht nach Stabilität aufkommen lässt, ein Streit um die Reform dieses zentralen Elementes des deutschen Staatswesens ausbricht. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hat angekündigt, einen entsprechenden Gesetzesentwurf demnächst vorzulegen. Er sei fast fertig. Unter anderem sollen die Fristen für eine Einbürgerung verkürzt werden. Bisher lag sie bei acht Jahren, künftig soll sie drei Jahre betragen.
Der zweite Punkt der Agenda: Es soll die Möglichkeit zur Mehrfachstaatsangehörigkeit ausgedehnt werden. Diese Punkte waren auch bereits schon im Koalitionsvertrag der Ampel angeführt worden. Von Bundeskanzler Olaf Scholz gab es ebenfalls schon Rückendeckung.
Chance, die Stammanhänger zu mobilisieren
So weit, so gewöhnlich: Business as usual. Aber in Deutschland hat die Debatte um die Staatsangehörigkeit immer noch eine zweite Ebene: Es geht nämlich um Identitätsfragen. Und zwar in doppelter Weise. Einmal natürlich: Wer gehört zum deutschen Volk? Aber auch, und das ist sogar der dominierende Aspekt: die Identitätsfragen der Parteien. Der Streit um die Staatsbürgerschaft erlaubt ihnen, in einer Zeit, in der die weltanschaulichen Unterschiede immer mehr verschwimmen, genau auf diesem Gebiet Profil zu zeigen und ihre Stammanhängerschaft zu mobilisieren. So ist zu deuten, wenn SPD-Chefin Saskia Esken nun intoniert, endlich werde "der konservative Muff" von diesem Land abgeschüttelt. Und der CSU-Landesgruppenvorsitzende Alexander Dobrindt via "Bild" zurückholzt, die Ampel "verramsche" das Staatsbürgerschaftsrecht.
Die Staatsbürger bilden das Volk, dem die Minister und der Bundeskanzler dienen sollen, so schwören sie es in ihrem Amtseid. Wenn genau diese Regierung nun aber den Kreis der bisherigen Staatsbürger erweitern will, dann heißt das letztlich: Der zentrale Bezugspunkt der deutschen Politik, nämlich das Staatsvolk, wird umdefiniert. Dass ein Eingriff von solcher Tragweite für Aufregung sorgt, wäre in jeder europäischen Demokratie so. In Deutschland spielt aber immer noch die Geschichte mit hinein.
Ausdruck der guten Gesinnung
Es mag viele Sachgründe geben, das Staatsbürgerschaftsrecht einer gewandelten Zeit anzupassen, aber für die deutsche Linke - die SPD ist hier zwar im Moment die Wortführerin, doch die Grünen denken nahezu deckungsgleich - geht es bei der Staatsbürgerschaft immer um mehr. Für vereinfachte und insgesamt mehr Einbürgerungen zu sein, ist für sie Ausdruck der guten Gesinnung. Ein Beleg dafür, aus der Vergangenheit gelernt zu haben. Und sie bietet die Möglichkeit, dem politischen Gegner vorzuhalten, auf der falschen Seite der Geschichte zu stehen. Die Aussage von Saskia Esken, nun werde der "konservative Muff" beseitigt, steht pars pro toto für diesen Ansatz. Und es hilft auch die Erinnerung an die erste rot-grüne Bundesregierung. Damals nutzten auch Gerhard Schröder und Joschka Fischer ihre Vorschläge für eine doppelte Staatsbürgerschaft, um ihre vermeintliche Modernität in Szene zu setzen.
Damals ergriff allerdings auch die Union ihre Chance. Roland Koch etwa eroberte 1999 mit einem Wahlkampf gegen die doppelte Staatsbürgerschaft Hessen. Das Thema sorgt also auch für Mobilisierung auf der anderen Seite des politischen Spektrums. Die Union, die als Oppositionspartei langsam lernt, die softe Sprache aus den Merkel-Jahren abzulegen, könnte die Chance nutzen. Und dann gibt es noch die FDP: Nachdem die Liberalen beim Bürgergeld sich eher zurückgehalten haben, haben sie jetzt in der Staatsbürgerschaftsfrage Nachbesserungsbedarf angemeldet. Ob das reicht, ihr bürgerliches Stammklientel zu beruhigen? Vielleicht für die Liberalen tatsächlich eine Frage der Identität.
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