Michel Sabbah ist eine prononcierte und bedeutende christliche Stimme aus dem Heiligen Land. 1933 in Nazareth geboren, war er von 1987 bis zu seinem Rücktritt 2008 der erste – und bisher einzige – Palästinenser auf dem Stuhl des Lateinischen Patriarchen von Jerusalem. Papst Johannes Paul II. spendete ihm 1988 persönlich in Rom die Bischofsweihe. Fast ein Jahrzehnt lang war der katholische Palästinenser auch Vorsitzender von Pax Christi International. Patriarch Sabbah hat sich immer wieder zum deutlich vernehmbaren Anwalt seines leidgeprüften Volkes, der Palästinenser, gemacht und tut dies auch in dem hier vorliegenden Text. Wo er Leid, Gewalt und Ungerechtigkeiten deutlich anprangert, geschieht das stets in der Hoffnung auf Versöhnung und Frieden.
Nach einem Jahr ständigen Krieges, in dem der Kreislauf des Todes unvermindert anhält, empfinden wir als Christen und Bürger das Bedürfnis, jener Hoffnung nachzuspüren, die aus unserem Glauben stammt. Zunächst müssen wir zugeben, dass wir erschöpft sind, gelähmt von Trauer und Angst. Wir starren in die Dunkelheit. Die gesamte Region wird von einem Blutvergießen heimgesucht, das immer weiter eskaliert und niemanden verschont. Vor unseren Augen werden unser geliebtes Heiliges Land und die gesamte Region in Trümmer gelegt.
Täglich trauern wir um Zehntausende von Männern, Frauen und Kindern, die getötet oder verwundet wurden, vor allem im Gazastreifen, aber auch im Westjordanland, in Israel, im Libanon und darüber hinaus in Syrien, im Jemen, im Irak und im Iran. Wir sind empört über die Verwüstungen, die in dem Gebiet angerichtet wurden. In Gaza sind Häuser, Schulen, Krankenhäuser und ganze Stadtteile nur noch ein Haufen Schutt. Krankheiten, Hunger und Hoffnungslosigkeit herrschen vor. Ist dies das Vorbild für das, was aus unserer Region werden soll?
Um uns herum liegt die Wirtschaft in Trümmern, der Zugang zu Arbeit ist versperrt und Familien haben Schwierigkeiten, Essen auf den Tisch zu schaffen. In Israel trauern zu viele, zu viele leben in Angst und Schrecken. Es muss einen anderen Weg geben!
Sollten wir auswandern?
Unsere Katastrophe begann nicht am 7. Oktober 2023. Die nicht enden wollenden Wellen der Gewalt begannen 1917, erreichten 1948 und 1967 ihren Höhepunkt und setzen sich seitdem bis heute fort. Hat der zionistische Traum von einer sicheren Heimat für Juden in einem jüdischen Staat namens Israel den Juden heute Sicherheit gebracht? Und den Palästinenser? Sie sind schon zu lange in der Realität des Todes, des Exils und der Verlassenheit gefangen. Sie warten und fordern beharrlich das Recht, in ihrem Land, in ihren Städten und Dörfern zu bleiben.
Schockierend ist, dass die internationale Gemeinschaft fast teilnahmslos zusieht. Es werden immer wieder Aufrufe zur Waffenruhe und zur Beendigung der Verheerungen laut, ohne dass ein ernsthafter Versuch unternommen wird, die Verursacher zu bändigen. Massenvernichtungswaffen und Mittel, mit denen sich Verbrechen gegen die Menschlichkeit begehen lassen, strömen in die Region.
Während all dies weitergeht, tauchen immer wieder die Fragen auf: Wann wird dies alles enden? Wie lange können wir so überleben? Was sieht die Zukunft unserer Kinder aus? Sollten wir auswandern?
Dies ist kein Religionskrieg
Als Christen sind wir auch mit anderen Dilemmata konfrontiert: Ist dies ein Krieg, bei dem wir nur passive Zuschauer sind? Wo stehen wir in diesem Konflikt, der allzu oft als Kampf zwischen Juden und Muslimen dargestellt wird, zwischen Israel auf der einen Seite und der vom Iran unterstützten Hamas und Hisbollah auf der anderen Seite? Ist dies ein Religionskrieg? Sollten wir uns in der prekären Sicherheit unserer christlichen Gemeinden isolieren und uns von dem, was um uns herum geschieht, abscheiden? Sollen wir einfach am Rande zusehen und beten und hoffen, dass dieser Krieg irgendwann vorübergeht?
Die Antwort ist ein klares Nein. Dies ist kein Religionskrieg. Wir müssen aktiv Partei ergreifen, für Gerechtigkeit und Frieden, Freiheit und Gleichheit. Wir müssen uns an die Seite all derer stellen, Muslime, Juden und Christen, die dem Tod und der Zerstörung ein Ende setzen wollen.
Wir tun dies aufgrund unseres Glaubens an einen lebendigen Gott und in der Überzeugung, dass wir gemeinsam eine Zukunft aufbauen müssen. Auch wenn unsere christliche Gemeinschaft klein ist, erinnert uns Jesus daran, dass unsere Gegenwart mächtig ist. Im Vertrauen auf seine Auferstehung sind wir berufen, wie die Hefe im Teig der Gesellschaft zu sein. Mit unseren Gebeten, unserer Solidarität, unserem Dienst und unserer lebendigen Hoffnung müssen wir alle Menschen um uns herum, ob gläubig oder nicht, ermutigen, die Kraft zu finden, uns aus unserer kollektiven Erschöpfung zu erheben und einen Weg nach vorn zu finden.
„Steh auf und geh!“
Aber niemand von uns kann dies allein tun. Wir wenden uns an unsere christlichen Religionsführer, unsere Bischöfe und Priester, die uns mit Rat und Tat zur Seite stehen. Wir brauchen unsere Hirten, die uns helfen, die Stärke zu erkennen, die wir haben, wenn wir zusammen sind. Alleine ist jeder von uns isoliert und zum Schweigen verurteilt. Nur gemeinsam können wir die Ressourcen finden, um die Herausforderungen zu meistern.
Erinnern wir uns in unserer Erschöpfung und Verzweiflung an den Gelähmten (Markus 2,1–12), der nicht aufstehen konnte. Erst als seine Freunde ihn trugen, als sie mit viel Phantasie ein Loch in das Dach gruben und ihn auf seine Matte hinunterließen, konnte er Jesus erreichen, der zu ihm sagte: „Steh auf und geh!“
Dasselbe gilt für uns. Wir müssen uns gegenseitig tragen, wenn wir vorankommen wollen. Wir müssen unsere in Christus verwurzelte Vorstellungskraft nutzen, um Lösungen zu finden, wo es scheinbar keine gibt. Wenn wir die Grenzen unserer Hoffnung erreicht haben, tragen wir uns gegenseitig, während wir uns an Gott wenden und ihn um Hilfe bitten.
Nicht in die Falle des Hasses tappen
Wir brauchen diese Hilfe, um nicht zu verzweifeln, um nicht in die Falle des Hasses zu tappen. Unser Glaube an die Auferstehung lehrt uns, dass alle Menschen geliebt werden müssen, dass sie gleich sind, dass sie nach dem Bild Gottes geschaffen wurden, dass sie Kinder Gottes sind und dass sie Brüder und Schwestern füreinander sind. Unser Glaube an die Würde eines jeden Menschen zeigt sich in unserem Dienst an der Allgemeinheit. Unsere Schulen, Krankenhäuser und Sozialdienste sind Orte, an denen wir uns unterschiedslos um alle Bedürftigen kümmern.
Es ist auch unser Glaube, der uns motiviert, die Wahrheit zu sagen und uns gegen Ungerechtigkeit zu wehren. Wir glauben an einen Frieden, den Jesus uns geschenkt hat und der nicht weggenommen werden kann. „Er ist unser Friede“ (Epheser 2,14). Wir dürfen uns nicht scheuen, uns gegen jede Form von Gewalt, Tötung und Entmenschlichung auszusprechen. Unser Glaube macht uns zu Sprechern für ein Land ohne Mauern, ohne Diskriminierung, zu Sprechern für ein Land der Gleichheit und Freiheit für alle, für eine Zukunft, in der wir gemeinsam leben.
Frieden ist möglich
Wir werden erst dann Frieden haben, wenn die Tragödie des palästinensischen Volkes ein Ende hat. Erst dann werden die Israelis Sicherheit genießen. Wir brauchen ein endgültiges Friedensabkommen zwischen diesen beiden Partnern und keine vorübergehenden Waffenstillstände oder Zwischenlösungen. Israels massive Militärmacht kann zerstören und Tod bringen, sie kann politische und militärische Führer auslöschen und jeden, der es wagt, aufzustehen und sich der Besatzung und Diskriminierung zu widersetzen. Aber sie kann nicht die Sicherheit bringen, die die Israelis brauchen. Die internationale Gemeinschaft muss uns helfen, indem sie anerkennt, dass die eigentliche Ursache dieses Krieges die Missachtung des Rechts des palästinensischen Volkes ist, frei und gleichberechtigt in seinem Land zu leben.
Eine friedliche Zukunft hängt von einem Zusammengehörigkeitsgefühl ab, das über unsere eigene Gemeinschaft hinausgeht. Wir sind ein Volk, Christen und Muslime. Gemeinsam müssen wir den Weg aus dem Kreislauf der Gewalt suchen. Gemeinsam mit ihnen müssen wir uns mit den jüdischen Israelis zusammentun, die ebenfalls der Rhetorik, der Lügen und der Ideologien von Tod und Zerstörung überdrüssig sind.
Lasst uns aufbrechen und uns gegenseitig tragen. Halten wir die Hoffnung wach, weil wir wissen, dass Frieden möglich ist. Es wird schwierig sein, aber wir erinnern uns daran, dass wir einst als Muslime, Juden und Christen gemeinsam in diesem Land gelebt haben. Es wird viele Momente geben, in denen der Weg versperrt zu sein scheint. Aber gemeinsam werden wir uns einen Weg nach vorne bahnen, verwurzelt in Gottes Hoffnung, und „die Hoffnung enttäuscht uns nicht.“(Römer 5,5). Unsere Hoffnung liegt in Gott, in uns selbst und in jedem Menschen, dem Gott etwas von Seiner Güte schenkt.
Übersetzt aus dem Englischen: von Sebastian Ostritsch.
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