Abt Nikodemus, was bekommen Sie von den Christen in Gaza mit?
Die Situation ist äußerst prekär. Seit zwei Jahren leben unsere Glaubensgeschwister dort im Angesicht des Todes, harren aus im Gebet und versuchen, Inseln der Hoffnung in einem Ozean von Leid zu sein. Alle Christen leben in Gaza-Stadt, und zwar im Stadtteil Zaytun. Das ist wie eine „christliche Insel“, mit der griechisch-orthodoxen Sankt-Porphyrios-Pfarrei und der rö-misch-katholischen Pfarrei zur Heiligen Familie. Es gibt dort das Al-Ahli-Krankenhaus der Anglikaner, eine Schule der Rosenkranzschwestern, die Behinderteneinrichtung der Missionarinnen der Nächstenliebe und ein Büro der Caritas. Alles ist ganz nah beieinander; wie eine letzte verbliebene, intakte Gebäudeoase inmitten von Trümmern. Die Wohnhäuser der Christen sind mittlerweile fast alle zerstört, es gibt sie nicht mehr, darum wohnen sie jetzt auf dem Gebiet der Pfarreien: 700 Menschen auf allerengstem Raum!
Was wünschen die Christen sich?
„In Gaza gibt es Menschen, die nun schon zum siebten Mal
auf der Flucht sind. Sie sind komplett entwurzelt"
In Gaza gibt es Menschen, die nun schon zum siebten Mal auf der Flucht sind. Sie sind komplett entwurzelt. Mit Herbst 2023 ist die Schule eingebrochen; jetzt startet das dritte Schuljahr ohne Unterricht. Das heißt, wir haben eine ganze Generation ohne Schulbildung. Dazu die Traumata. Der Prozess der Versöhnung wird lange dauern. Was die Christen vor Ort sich wünschen, ist allen voran das Schweigen der Waffen, kein Blutvergießen mehr, Wege zu Frieden und Versöhnung. Dass sie nicht täglich um ihr Leben und das Leben ihrer Lieben zittern müssen, ob die vertrieben werden oder bleiben dürfen. Sie wünschen sich auch eine Befreiung der israelischen Geiseln und wahren und echten Frieden mit all ihren Nachbarn. Kurzum: ein menschenwürdiges Leben für alle!
Haben Sie Kontakt nach Gaza?
Ja, ich stehe im regelmäßigen Austausch mit den Priestern dort. Nachdem dem Lateinischen Patriarchen und dem Ge-schäftsträger der Apostolischen Delegatur in Jerusalem nach der Attacke der israelischen Armee auf die römisch-ka- tholische Kirche in Gaza mit Toten und Verletzten Zugang zu ihren Glaubensgeschwistern in Gaza von der israelischen Armee gewährt wurde, konnte ich mit beiden danach sehr ausführlich sprechen. Der Diplomat des Heiligen Stuhls war besonders von den Begegnungen mit den Kindern dort tief beeindruckt: Da ist kein Hass, kein Zorn, keine Vergeltung, sondern Hoffnung! Sie beten für den Frieden, für die Juden, für die Muslime und für die Christen. Viele von ihnen wollen Priester und Ordensfrauen werden. Denn das Glaubwürdigste, was sie gerade erleben, sind die Schwestern und die Priester. Viele Menschen dort wachsen gerade über sich hinaus und werden zu beeindruckenden Zeugen der christlichen Botschaft, gerade auch sehr viele der einfachen Menschen dort!
Ordensgemeinschaften und Priester möchten in Gaza bleiben. Wie präsent ist das Bewusstsein für das Martyrium im Heiligen Land?
„Ich glaube nicht, dass jemand das Martyrium sucht.
Es geht nicht um den spirituellen Adrenalinkick, dass man denkt,
ein Martyrium, das würde die Sache noch rund machen"
Ich glaube nicht, dass jemand das Martyrium sucht. Es geht nicht um den spirituellen Adrenalinkick, dass man denkt, ein Martyrium, das würde die Sache noch rund machen. Sondern es geht darum – das kann ich auch von mir sagen –, dass wir Gelübde abgelegt haben. Um ein Ernstnehmen der Berufung. Ich habe vor Gott versprochen, in Treue in Jerusalem und Tabgha zu bleiben, denn ich bin kein Schönwetter-Mönch. Die Ordensgemeinschaften bleiben da, weil sie die ihnen Anvertrauten nicht im Stich lassen wollen. Da sind allein 50 schwerbehinderte Kinder, da sind zusätzlich noch viele Alte und Kranke, darunter auch bettlägerige Menschen. Sollen sie die mit den Rollstühlen und ihren Betten auf die Straße schieben?
Wie gefährdet sind die Benediktiner der Dormitio-Abtei?
Wir werden vielleicht mal von national-religiösen jüdischen Extremisten angespuckt oder angerempelt, oder bekommen ein Hassgraffiti auf unsere Kirchenmauer gesprüht. Wir mussten auch schon Brandanschläge erleben. Wir sind dennoch sehr privilegiert im Vergleich zu unseren Glaubensgeschwistern in Gaza: Wir haben Luftschutzbunker; die Dormitio und Tabgha sind sehr stabil gebaut.
Sind derzeit Pilger in der Dormitio-Abtei?
Ja, Einzelpilger. Außerdem geben sich aktuell einige Politiker bei uns die Klinke in die Hand. Für diese neueste Entwicklung bin ich dankbar, so machen sie sich ein authentisches Bild von vor Ort. Ich kann nur dazu ermutigen, zu kommen, das ist nicht leichtsinnig. Nach Gaza selbst kommt man ja gar nicht, keine Chance. Jerusalem, der See Gennesaret mit Tabgha, Nazaret, Betlehem – das sind Orte, die man wirklich angstfrei besuchen kann.
Wir haben Zimmer in der Dormitio-Abtei und in unserem Priorat in Tabgha. Jetzt ist die Gelegenheit, das Heilige Land geistlich und spirituell zu erleben, ohne Massentourismus. Und es ist ein Zeichen der Solidarität mit den Christen hier, jetzt zu kommen. Denn niemand hängt so vom Tourismus ab wie die Christen! Die meisten sind Busunternehmer, Hoteliers, Restaurantbesitzer, Reisebegleiter oder Krippenschnitzer.
Wie geht die Abtei mit der Krise um und wie kommt sie über die Runden?
Geistlich sind wir stabil: Wir harren aus im Gebet und in der Gastfreundschaft. Jeder meiner Mitbrüder hat klar gesagt, er möchte bleiben, denn das habe er Gott versprochen. Es ist wie ein Neueintritt eines jeden. Ich hatte gesagt, hier zieht kein Gehorsam, jeder entscheidet das selbst. Wir haben sogar einen Eintritt und es gibt einige Interessenten – und das im Krieg. Bitter wird es, wenn ich auf mein Konto schaue. Im Plus waren wir zuletzt 2019. Wir leben von der Substanz und – das ist berührend – von den Spenden. In guten Zeiten kamen 5.000 Pilger pro Tag. Gestern haben wir in der Cafeteria drei Cappuccino verkauft. Die Dormitio und Tabgha waren und sind durchgehend geöffnet: die Kirchen, die Cafeteria, die Läden. Von unseren 24 lokalen Mitarbeitern haben wir keinen entlassen. Denn die würde ich sonst samt ihren Familien zu Bettlern machen oder in die Auswanderung treiben. Seit dem Krieg bin ich gefühlt hauptberuflich Fundraiser, um unser Überleben – und vor allem das der uns Anvertrauten – hier zu sichern. Wir gehen an unsere Altersvorsorge, an die harten Reserven. Denn ich bin überzeugt, wenn ich eines Tages vor Gott stehe, dann wird er mich nicht fragen, ob ich immer an unsere Altersvorsorge gedacht habe. Er könnte aber sehr wohl fragen: „Wie bist du in den Krisenzeiten mit denen umgegangen, die ich dir anvertraut habe?“
Welche Position vertreten die Christen im Heiligen Land?
„Der Wind wird für uns rauer.
Wir spüren jetzt, was es bedeutet, eine kleine Minderheit
von nur etwas mehr als einem Prozent zu sein."
„Die Christen“ gibt es dort nicht, das ist wichtig. Sie sind eine bunte Gruppe; über 50 verschiedene Konfessionen. Die überwältigende Mehrheit sind Palästinenser. Manche leben in der Westbank, andere in Nazaret, andere in Ostjerusalem, andere in Gaza. Dann gibt es die kleine Zahl der hebräischsprachigen Christen in Israel und die überwältigende Zahl der über 100.000 Arbeitsmigranten und Asylsuchenden aus den Philippinen, Indien und Sri Lanka. Schließlich gibt es noch allein 1.000 katholische Ordensfrauen und 600 katholische Ordensmänner aus aller Herren Länder hier. Die Position von uns Christen ist sehr klar: Wir sind weder pro Israel noch pro Palästina. Wir sind pro Mensch. Der Wind wird für uns rauer. Wir spüren jetzt, was es bedeutet, eine kleine Minderheit von nur etwas mehr als einem Prozent zu sein.
Welchen Einfluss hat Papst Leo XIV. im Heiligen Land?
Papst Leo erlebe ich als die Stimme, die den Stimmlosen eine Stimme gibt. Auch im Säkularen. Er steht konsequent und authentisch für den Frieden, formuliert ethische Standards und ist so etwas wie das Gewissen der Welt. In dem Sinne hat er keine innerweltliche Macht, aber dafür die Freiheit, nicht geopolitisch denken zu müssen, sondern immer von der menschlichen Würde auszugehen. Man sollte den Papst nicht unterschätzen!
Haben Sie Hoffnung, dass es irgendwann wieder Frieden im Heiligen Land geben wird?
Ich bin ein Mensch der Hoffnung, Pilger der Hoffnung. Wenn nicht, dann müsste ich hier schon längst die Koffer gepackt haben. Wenn Jesus Christus am Ostertag Tod und Sünde ein für alle Mal besiegt hat, dann kann er auch diesen Krieg und diesen Zynismus überwinden helfen. Mit Hoffnung meine ich nicht „alles wird gut“. Hoffnung bedeutet, dass das letzte Wort über unser Leben eben nicht die Menschen haben, die da diesen machtpolitischen, zynischen Tanz aufführen. Sondern Jesus Christus. Das ist meine ganz große Hoffnung. Die Welt ist nicht den Mächtigen dieser Welt ausgeliefert, auch wenn Menschen die von Gott geschenkte Freiheit immer missbrauchen können. Die Politiker, diese Mächtigen, die in der Welt wichtigtun und zynisch mit Menschenleben umgehen, die ihnen anvertraut sind, die es wie Wegwerfware behandeln: Das sind sterbliche Menschen. Denen wird im Himmel sicher nicht der rote Teppich ausgerollt. Sie werden sich vor dem Richter verantworten müssen.
Ich wohne an dem Ort von Ostern. „Friede sei mit euch“, das ist die Botschaft des Auferstandenen. Da, wo wir Menschen nur eine Mauer sehen, Tod, Vernichtung, Schluss, Ende, da kann Gott neues Leben schaffen! Versöhnung! Frieden!
Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.