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„Das russisch-orthodoxe Patriarchat schützt an erster Stelle sich selbst“

Das Moskauer Patriarchat ist zum Erfüllungsgehilfen Putins geworden, meint IGFM-Vorstandssprecher Lessenthin im Interview. Für Menschenrechtsverletzungen sei die russisch-orthodoxe Kirche mitverantwortlich.
Wladimir Putin und Metropolit Hilarion
Foto: Sergei Karpukhin via www.imago-images.de (www.imago-images.de) | Kooperation von "Altar und Thron"? Russlands Präsident Wladimir Putin zusammen mit dem orthodoxen Metropolit Hilarion, Leiter des Außenamtes des Moskauer Patriarchats.

Herr Lessenthin, der russische Präsident Wladimir Putin zeigt sich betont religiös. Und die Kirche selbst präsentiert sich in harmonischer Zweisamkeit mit dem Staat. Die vermittelte Grundstimmung: Putin hat Gottes Segen. Ist das Moskauer Patriarchat zum Erfüllungsgehilfen des Kreml geworden?

Ja, leider dient die Führung der russisch-orthodoxen Kirche (ROK) übereifrig seit langer Zeit der politischen Führung unter Wladimir Putin. Der Langzeitherrscher im Kreml kann sich auf den Schulterschluss mit dem Patriarchat verlassen, zumindest aber auf das Schweigen der Kirchenführung, wenn es um Annexion wie im Falle Krim oder um kriegerische Gewalt etwa gegenüber Georgien und aktuell gegenüber der Ukraine geht. Während fast alle Kirchenführungen zu Gewaltverzicht und Frieden aufrufen, schweigt ausgerechnet die von der drohenden Gewalt am stärksten betroffene russisch-orthodoxe Kirche zu der von Putin angeordneten Invasion. 

"Während fast alle Kirchenführungen zu Gewaltverzicht
und Frieden aufrufen, schweigt ausgerechnet die von
der drohenden Gewalt am stärksten betroffene
russisch-orthodoxe Kirche zu der von Putin angeordneten Invasion"

Die Brisanz der aktuellen Entwicklung im Konflikt mit Russland beschäftigt derzeit die Politik weltweit und auf allen Ebenen. Trägt die russisch-orthodoxe Kirche (ROK) eine Mitverantwortung für die Menschenrechtsverletzungen Russlands in der Ukraine?

Leider trägt sie schwer an dieser Mitverantwortung. Auch außerhalb der Russischen Föderation. So assistiert die ROK Putins aktiver Unterstützung für den belarussischen Diktator Lukaschenko, indem sie auf die Kirchenmitglieder, Priester und Bischöfe einwirkt, sich nicht für die Demokratiebewegung einzusetzen. Sogar Bischöfe, die Kritik an Lukaschenkos Verbrechen üben, werden von der ROK ihres Amtes enthoben. Die Versetzung in den Ruhestand des belarussischen Erzbischofs von Grodno und Wolkowysk, Artemij Kishchenko, angeblich aus „gesundheitlichen Gründen“, verdeutlicht den Umgang der ROK mit kritischen Stimmen, die sich für Menschenrechte einsetzen. 

Worin zeigt sich exemplarisch die Symbiose der russisch-orthodoxen Kirche mit der Macht? 

Der Fall des russischen Erzpriesters der sibirischen Provinz Khabarowsk, Andrei Vinarsky, ist sinnbildlich für den regimetreuen Kurs der ROK. Vinarsky hatte sich wiederholt an Solidaritätsaktionen für die inhaftierten Oppositionspolitiker Oleg Senzow und Alexej Nawalny beteiligt und an Demonstrationen teilgenommen. Dafür wurde er von Sicherheitskräften verhaftet und für 25 Tage in Haft festgehalten. Nach seiner Entlassung wurde vom Kirchendienst suspendiert, bis er „öffentlich Reue zeige und sein Fehlverhalten eingestehe“.  Der Einsatz für Menschenrechte und gegen Diskriminierung ist aus Sicht der russisch-orthodoxen Kirche somit ein Fehlverhalten, das sanktioniert werden muss. Sie stellt sich damit auf die Seite derjenigen, die Meinungsfreiheit unterdrücken, Minderheitenrechte und politisch Andersdenkende verfolgen und verantwortlich für zahlreiche Menschenrechtsverletzungen sind.

Warum wird der expansionistische Kurs der Putin-Regierung meist von der russisch-orthodoxen Kirche unkritisch unterstützt? 

Das russisch-orthodoxe Patriarchat schützt an erster Stelle sich selbst und seine Rolle als nationale und Identität schaffende Kraft Russlands. Es meint offenbar auch, dass sein Reich automatisch mitwächst, wenn Wladimir Putins Reich wächst. Die jüngste Erfahrung nach der Annexion der Krim bestätigt dies. In den Augen der russisch-orthodoxen Kirche sind sowohl die ukrainische als auch die georgische Autokephalie Teil der vom Moskauer Patriarchat beanspruchten Einflusszone der „russischen Welt“ (Russky Mir), innerhalb der alle orthodoxen Gläubigen Teil einer – selbstredend von Moskau geführten – Kirche und einer „orthodoxen Nation“ sind. Die „russische Welt“ schließt an die Kiewer Rus, von der ROK als „Heilige Rus“ bezeichnet, an. Dieses mittelalterliche großrussische Reich mit der Hauptstadt Kiew umfasste die Territorien der Ukraine, Russlands sowie von Belarus und gilt als deren Vorläuferstaat. Die Kiewer Rus wird mit der Christianisierung Russlands und Osteuropas verbunden und spielt somit sowohl für den neo-imperialistischen Kurs Putins wie auch den Führungsanspruch der ROK innerhalb der Orthodoxie eine wesentliche Rolle.

"Die ROK hat kein Problem mit der „Eurasischen Ideologie“,
die heute in Moskau die „legitime“ Führung eines Weltreiches
angesiedelt sieht, dass die Geschicke des russischen Volkes bestimmt"

Kreml und Kirche sehen sich demnach als legitime staatliche wie kirchliche Nachfolger der Kiewer Rus? 

Genau, folglich umfasst der Machtanspruch alle Gebiete der historischen Rus: Neben Russland auch die Ukraine sowie Belarus. Die ROK hat deswegen auch kein Problem mit der „Eurasischen Ideologie“, die heute in Moskau die „legitime“ Führung eines Weltreiches angesiedelt sieht, dass die Geschicke des russischen Volkes und der von ihm „angeleiteten“ Völker bestimmt.

Martin Lessenthin, Vorstandssprecher der IGFM
Foto: Maxlessmunich / Wikimedia (CC-BY-SA-4.0)

Sogenannte „traditionelle Werte“, wie sie die russisch-orthodoxe Kirche predigt, sind zu einer Art Ideologie des russischen Staates geworden – als Gegenmodell zum „Westen“. Werden so auch Menschenrechtsverletzungen sowie Kriegsverbrechen geduldet, verteidigt, geleugnet oder ignoriert?

Menschenrechtsverletzungen gehören zum System Putin, dass sich von der kurzen Zeit des demokratischen Aufbruchs unter Jelzin unterscheidet. Die ROK nutzt ihren gewonnenen Einfluss wiederum, um ihre Positionen zu gesellschafts- und familienpolitischen Fragen durchzusetzen, was sich vor allem im Umgang mit religiösen, ethnischen und sexuellen Minderheiten, aber auch politisch Andersdenkenden erweist. Das Verhältnis lässt sich daher am treffendsten mit einer „Kooperation von Altar und Thron“ beschreiben, die gleichwohl nicht frei von Differenzen und Meinungsverschiedenheiten ist.


Martin Lessenthin ist Vorstandssprecher der in Frankfurt ansässigen Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM)

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