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Alabama und Frankreich: Zwei Seiten des Rechts

Frankreich geht den falschen Weg, die Richter in Alabama haben erkannt: Ein Embryo ist ein Mensch. Ein Recht auf Abtreibung kann es nicht geben.
Knoten
Foto: Adobe Stock | Die Richter in Alabama hatten den Mut den Gordischer Knoten durchzuschlagen.

Der Gegensatz könnte nicht größer sein. Da erkennen die Höchstrichter des US-amerikanischen Bundesstaates Alabama erstmals die Personenrechte im Labor erzeugter Embryonen an. Und keine drei Wochen später hebt in Europa eine Versammlung von Parlamentariern das vermeintliche "Recht auf Abtreibung" in die französische Verfassung. Man braucht nicht sonderlich erleuchtet zu sein, um eines mit Sicherheit zu wissen: Es ist unmöglich, dass beide Gewalten recht haben.

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Mehr noch: Entweder haben acht der neun Höchstrichter (88,9 Prozent) des im Süden der USA gelegenen Staates nicht mehr alle Latten am Zaun. Oder aber 780 der 825 Parlamentarier (94,5 Prozent), die dafür stimmten, die "Freiheit, einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen", in die Verfassung der Grand Nation aufzunehmen, sind freilaufende Vollpfosten.

Für ein Recht eintreten 

Wer daran zweifelt, dass ein Plus von 5,6 Prozent ausnahmslos anzugeben vermag, was richtig ist, kommt nicht umhin, die Sachlage näher zu betrachten. Dabei fällt zunächst vor allem eines auf: Alle 780 Parlamentarier, die für die Aufnahme der "Freiheit, einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen", in die französische Verfassung stimmten, konnten dies nur, weil ihre Mütter von dieser "Freiheit" keinen Gebrauch machten.

Häufig wird hiergegen eingewandt, dass von etwas keinen Gebrauch gemacht zu haben, noch kein hinreichender Beleg dafür sei, dass andere es einem gleich tun müssten. Und so, nämlich isoliert, gesehen, stimmt das natürlich auch. Wer noch nie Alkohol getrunken hat, mag dafür gute Gründe haben. Nur eben keine, die ein prinzipielles Konsumverbot von Alkohol für jeden rechtfertigen könnten.

Übersehen wird dabei allerdings: Was hier scheinbar analog geltend gemacht wird, vollzieht sich in Wirklichkeit auf völlig verschiedenen Ebenen. Während etwa Abstinenzler für die Prohibition eintreten können, gilt das für die Abtreibung nicht. Abgetriebene können kein "Recht auf Abtreibung" fordern. Das können nur Geborene. Als Geborener für ein "Recht auf Abtreibung" einzutreten, ist daher in etwa so überzeugend, wie wenn sich ein praktizierender Alkoholiker für das Verbot von Alkohol in die Brust würfe.

Diskriminierung

Damit nicht genug: Das Nichtzugestehen von Rechten, die man selbst in Anspruch nimmt, gilt heute gemeinhin als "Diskriminierung". Das war nicht immer so. Ursprünglich meinte "discriminare" lediglich zu unterscheiden. Man schied etwa Äpfel von Birnen, ohne damit in Abrede zu stellen, dass es sich bei beidem um Obst handelt und ohne das eine oder andere zu verteufeln. Ob der heutige Gebrauch des Begriffs ein Fortschritt ist, kann hier dahingestellt bleiben. Jedenfalls diskriminieren demnach Geborene Ungeborene, wenn sie ihnen das Recht auf Leben vorenthalten zu können meinen, das sie selbst genießen und das sie ihnen nur deshalb absprechen können, weil es ihnen selbst niemand streitig gemacht hat.

Mehr noch: In Wirklichkeit ist das "Recht auf Leben" gar keines, das staatliche Gewalten gewähren oder absprechen könnten. Wäre es anders, müssten Staaten Bürgern auch das Recht absprechen können, von ihrer Fähigkeit, Nachkommen zu zeugen, Gebrauch zu machen. Tatsächlich schien dieser Gedanke nicht immer so absurd, wie er sich heute ausnimmt. Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts war er sogar weit verbreitet. So verabschiedete etwa im Jahre 1896 der US-amerikanische Bundesstaat Connecticut ein Heiratsverbot für "Epileptiker, Schwachsinnige und Geistesschwache" und verknüpfte dieses in einem nächsten Schritt mit einem Programm zur Zwangssterilisation, in dessen Rahmen der Staat mehr als 100.000 Menschen die Möglichkeit nahm, sich fortzupflanzen.

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Bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs im Jahre 1914 sollten 15 weitere US-Bundesstaaten diesem Beispiel folgen. Ein Jahr zuvor hatte der ehemalige US-Präsident Theodore Roosevelt in einem Brief an den Chicagoer Biologen und Eugeniker Charles Davenport erklärt: "Eines Tages werden wir realisieren, dass es die erste Pflicht, die unumgängliche Pflicht des guten Bürgers von der richtigen Sorte ist, sein oder ihr Blut in der Welt zu hinterlassen; und dass es unsere Sache nicht sein kann, den Weiterbestand der falschen Sorte Bürger zu erlauben".

Geistesschwache weggesperrt

In Großbritannien trat am 1. April 1914 der "Mental Deficiency Act" in Kraft. Vorbereitet worden war er von der "Königlichen Kommission zum Schutz und Kontrolle der Schwachsinnigen", welcher der spätere britische Premierminister Winston Churchill vorstand. Sie empfahl dem britischen Parlament, die "Geistesschwachen" wegzusperren und zwangszusterilisieren. Und obgleich das Parlament vor der Zwangssterilisation zurückschreckte, fanden sich aufgrund dieses Gesetzes zeitweise bis zu 65.000 Briten hinter Schloss und Riegel wieder.

Sind wir heute klüger? Zumindest könnten wir es sein. So beginnt die Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 mit den Worten: "Die Anerkennung der inhärenten Würde", d.h. der mit dem Menschsein gegebenen Würde, "und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Menschheitsfamilie ist die Grundlage für Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt."

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Ganz offensichtlich waren seine Verfasser zu der Erkenntnis gelangt, dass die "gleichen und unveräußerlichen Rechte" nicht nur "allen Mitgliedern der Menschheitsfamilie" zukommen, sondern auch, dass sie, wie die dem Menschen innewohnende Würde, nicht verliehen, sondern lediglich anerkannt werden können. Denn was verliehen werden kann, lässt sich auch vorenthalten. Mehr noch: Was verleihbar ist, kann von dem mit ihm Bedachten abgelehnt, weitergereicht oder gar veräußert werden. Weil sie offenbar eine solche Lesart unter allen Umständen ausschließen wollten, haben die Verfasser der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte die dort niedergelegten Rechte denn auch als "unveräußerlich" bezeichnet.

Aspekte des Rechts 

Weil Menschenrechte nach diesem Verständnis Menschen qua ihres Menschseins zukommen und eben nicht von Staaten verliehen werden können, spricht man häufig auch von "vorstaatlichen Rechten". Nun kann ein Staat unter Bezugnahme auf die ihm eigene Souveränität sich weigern, bestimmte oder gar alle vorstaatlichen (Menschen-)Rechte anzuerkennen. Und unter Berufung auf die ihm eigene Souveränität kann er sogar Rechte gewähren, die diesen entgegenstehen. So kann beispielsweise ein Staat das vorstaatliche Recht auf Religionsfreiheit nicht anerkennen und stattdessen die Religion seiner Führer zur Staatsreligion erklären. Was ein Staat aber selbst unter Berufung auf seine Souveränität nicht kann, ist die Natur des Rechts außer Kraft zu setzen.

Ein Recht hat von Natur aus immer zwei Seiten. Auf der einen Seite eröffnet ein Recht entweder ein Privileg (so etwa den Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz). Oder es gestattet den mit ihm Bedachten die Durchführung von Handlungen, die sich offenbar nicht von selbst verstehen (etwa den Verkauf von Waren an verkaufsoffenen Sonntagen). Auf der anderen Seite müssen die gewährten Privilegien und erlaubten Handlungen von jedem in Anspruch genommen oder durchgeführt werden können, der mit ihnen bedacht wurde. Das können entweder alle oder aber auch nur bestimmte Gruppen sein, die über gemeinsame Merkmale verfügen. Mehr noch: Ein solches Recht muss theoretisch auch von jedem wahrgenommen werden können, den es betrifft.

Es ist ein Mensch 

Nun reicht es aus, sich auszumalen, was geschähe, wenn sämtliche Schwangere, denen Frankreich die verfassungsrechtlich verbürgte "Freiheit" eingeräumt hat, "einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen", auch tatsächlich von dieser "Freiheit" Gebrauch machten. Der Staat würde notwendig zugrunde gehen. Wenn es aber in der Natur des Rechts liegt, dass von ihm alle, die es betrifft, auch Gebrauch machen können, wie kann dann ein Staat dieses Recht oder Freiheit verleihen? Die Antwort lautet, er kann es gar nicht. In Wirklichkeit verleiht das Frankreich Macrons gar kein "Recht" auf Abtreibung, es verhökert vielmehr dessen Fiktion; mutmaßend, dass nicht alle Schwangere gleichzeitig davon Gebrauch machen.

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Ganz anders die Höchstrichter in Alabama. Sie ziehen aus der Tatsache, dass das Leben aller Menschen einmal als befruchtete Eizelle begann, die richtigen Schlussfolgerungen. Denn wenn alle Menschen ihre Existenz als befruchtete Eizellen beginnen, dann muss eine befruchtete menschliche Eizelle ein Mensch im frühesten Stadium seiner Entwicklung sein. Anders wäre es nur dann, wenn sich zeigen ließe, dass es in der Entwicklung eine qualitative Veränderung gibt. Eine Zäsur, die es rechtfertigen würde, zwischen Noch-Nicht-Menschen und Menschen zu trennen. Fakt ist jedoch: Eine solche gibt es nicht.

Daher konnten Alabamas Höchstrichter entscheiden, wenn Eltern in dem im Süden der USA gelegenen Staat das Recht haben, für Kinder, die "widerrechtlich" getötet wurden, Schadensersatzansprüche geltend zu machen, dann kommt ihnen dieses Recht auch dann zu, wenn die Kinder im Labor erzeugt wurden und noch gar nicht in den Uterus ihrer Mutter transferiert wurden. Weil Alabamas Politiker aber nicht auf die Reproduktionsmedizin, deren Anbieter nach dem Urteil verständlicherweise ihre Arbeit einstellten, verzichten wollten, verliehen sie in einem parlamentarischen Eilverfahren nun jedem eine straf- und zivilrechtliche Immunität, der Dienstleistungen auf dem Gebiet der Reproduktionsmedizin erbringt und dabei menschliche Embryonen tötet oder beschädigt.

Gordischer Knoten durchtrennt

"Es genügt nicht, die Wahrheit zu kennen, man muss sie auch wollen", schrieb einmal der verstorbene, ehemalige Chefkorrespondent dieser Zeitung, Jürgen Liminski. Die Höchstrichter in Alabama wollten die Wahrheit. Deswegen konnten sie den gordischen Knoten durchtrennen. Frankreichs und Alabamas Politiker wollten die Wahrheit nicht. Aus den Resten des zerschlagenen gordischen Knotens haben sie einen Galgen geknüpft.

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