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Wo war Gott nach dem Mord an einem Mädchen?

Ein Mord reißt ein junges Mädchen und deren Freund aus dem Leben. Freunde, Nachbarn, Politiker und die Kirche versuchen der Familie zu helfen. Und doch haben alle mehr Fragen als Antworten.
Andacht für die Opfer des Messerangriffs in Brokstedt
Foto: Axel Heimken (dpa) | Teilnehmer der Andacht der Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinde Brokstedt für die Opfer des Messerangriffs stellen nach dem Gottesdienst Kerzen vor der Kirche auf.

"Ich war bis heute nicht wieder in Brokstedt am Bahnhof. Ich könnte es nicht ertragen." Michael Kyrath ist ein kräftiger Mann Ende 40, der als selbstständiger Zahntechniker mit eigenem Dentallabor mitten im Leben steht. Doch das Schicksal trifft ihn und seine Frau Birgit hart und unvermittelt, als am 25. Januar nachmittags gegen 15 Uhr im Regionalzug zwischen Hamburg und Kiel in Höhe der schleswig-holsteinischen Gemeinde Brokstedt seine Tochter ermordet wird. Mit der 17-jährigen Ann-Marie Kyrath wird ihr 19-jähriger Freund Danny P. Opfer einer Messerattacke des staatenlosen Palästinensers Ibrahim A. (33), des "mutmaßlichen Täters". 

Der "mutmaßliche Tathergang": Auf das Mädchen sticht er 26 Mal ein, durchtrennt dabei eine Oberschenkelarterie. Ihren Freund treffen zwölf Messerstiche, einer davon tödlich ins Herz. Drei weitere unter den 120 mitreisenden Passagieren wurden schwer, zwei Personen leicht verletzt. Die beiden Ermordeten waren frisch verliebt, Ann-Marie hatte erst eine Woche zuvor mit Danny ihren Geburtstag gefeiert. Sie saßen nebeneinander im Zug, als der Täter wohl ohne Vorwarnung zustach. "Mein einziger Trost", sagt ihr Vater unter Tränen, "ihren letzten Weg ging sie nicht allein." Der Leiter der zuständigen Polizeidirektion Itzehoe, Frank Matthiesen, bezeichnete die Lage am Bahnhof Brokstedt nach der Tat als "extrem chaotisch". Eine der drei Schwerverletzten war eine 54 Jahre alte Frau, die dem Täter im Zug gegenübersaß. Man musste sie in ein künstliches Koma versetzen, um sie zu retten. Im vergangenen Monat nahm sie sich dann selbst das Leben.

Gewaltkriminelle Vorgeschichte von Ibrahim A.

Gibt man im Internet den Namen "Ann-Marie Kyrath" ein, findet man eher wenige Einträge. Beim Suchwort "Brokstedt" sind die Darstellungen der Tat hingegen umfangreich. Sehr detailliert wird man dann auch zur gewaltkriminellen Vorgeschichte von Ibrahim A. fündig, die Liste seiner Messerangriffe und Körperverletzungen ist lang. Im deutschen Rechtsstaat muss er dennoch bis zu seiner Verurteilung für diesen Doppelmord als "mutmaßlicher Täter" bezeichnet werden. Ebenso lang ist die Liste des Versagens der deutschen Behörden in mehreren Bundesländern, die einer solchen tickenden menschlichen Zeitbombe nicht Herr wurden.

Sein Asylantrag war im Jahr 2015 abgelehnt worden, obwohl er nach eigenen Angaben aus dem Gazastreifen stamme und von der Hamas verfolgt werde. So wird ihm sogenannter "subsidiärer Schutz" zugesagt, nachdem er bereits zweimal wegen Diebstahls zu Geldstrafen verurteilt worden war und schon ein Verfahren wegen Körperverletzung gegen ihn lief. "Subsidiärer Schutz" wird laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) immer dann gewährt, wenn Menschen - so wörtlich - "stichhaltige Gründe" dafür vorbringen können, "dass ihnen in ihrem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht". 

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Zwischen September 2015 bis Januar 2021 waren 24 Ermittlungs- und Strafverfahren gegen den Palästinenser anhängig: Diebstahl, Betrug, gefährliche Körperverletzung, Drogen, sexuelle Belästigung, Sachbeschädigung, Kindesmissbrauch, Vergewaltigung Widerstandsunfähiger, Schwarzfahren und Hausfriedensbruch. Die meisten Verfahren wurden allerdings eingestellt. Und so war es Ibrahim A. möglich, sich frei durch Deutschland zu bewegen, um sich im Jahr 2021 in Kiel anzumelden - an drei verschiedenen Adressen. Er wird aufgrund seiner Drogensucht mit Methadon versorgt und psychiatrisch betreut. Seine Behördengänge geraten regelmäßig zu Gewaltexzessen und Bedrohungsszenarien. 

In den zuständigen schleswig-holsteinischen Behörden weiß man angeblich nichts von der Vorgeschichte des Mannes. Die Hamburger Polizei will dorthin aber eine E-Mail gesendet haben. Die kann man in Kiel nicht finden. Die Rekonstruktion des Behördenversagens ergibt, dass insgesamt vier E-Mails unberücksichtigt geblieben sind, die zur Kenntnis des BAMF hätten gelangen müssen. Die Hamburger Justizbehörde informiert das Bundesamt nach eigener Aussage nicht, weil "der im Januar 2022 in den Akten befindliche Auszug aus dem Ausländerzentralregister keine Auskunft über einen ausländerrechtlichen Status des Beschuldigten ergab, aufgrund dessen das notwendig gewesen wäre". Ibrahim A. war erst sechs Tage vor den Morden im Nahverkehrszug aus Hamburger Untersuchungshaft entlassen worden. Dort saß er ein, weil er einen Obdachlosen mit einem Messer schwer verletzt hatte. Sein Verteidiger war in Berufung gegangen und das Berufungsverfahren hatte sich so lange verzögert, dass er die zu erwartende Länge einer Haftstrafe bereits abgesessen hatte.

Vielleicht klingelt sie ja doch noch?

Eigentlich hätte Ann-Marie am Nachmittag des 25. Januar um Viertel nach drei zuhause sein sollen. Um vier Uhr beginnen ihre Eltern, sich ernsthaft Sorgen zu machen. Ab fünf Uhr telefonieren sie Ann-Maries Freunde ab. Sie hören von einem Polizei- und Feuerwehreinsatz am Bahnhof Brokstedt, doch die Polizei erteilt telefonisch keine Auskunft. So setzt sich Michael Kyrath ins Auto und fährt dorthin. Danach verschwindet alles für ihn wie in einem großen Nebel. Der Abend des Tattages war das letzte Mal, dass er dort war, der Bahnhof war hell erleuchtet, daran erinnert er sich. Der Zug stand noch da. Aus der Bahnhofsgaststätte war ein Lagezentrum gemacht worden. Dort setzte man ihn ins Bild. Inzwischen steht an diesem Ort ein Gedenkkreuz. "Du verstehst zwar, was passiert ist, du willst es aber nicht wirklich wahrhaben. Du kuckst immer zur Tür und denkst, vielleicht klingelt sie ja doch noch. Ist das alles nur ein böser Traum? Wache ich gleich auf und dann ist alles vorbei?" Der Nebel fängt irgendwann an, sich zu lichten. "Es ist so hart zu begreifen, dass das Leben aus jetziger Sicht endlich ist." 

Ann-Marie Kyrath
Foto: privat | Ann-Marie Kyrath wurde 17 Jahre alt.

Die Hinterbliebenen von Ann-Marie Kyrath stützen sich gegenseitig und erfahren auch viel Hilfe durch Freunde und Nachbarn. In den ersten Tagen nach der Tat wechseln sie sich alle ab mit Kochen, Einkaufen und Zuspruch. Es gibt eine selbstorganisierte Rundumbetreuung von morgens um sechs bis nachts um zwölf Uhr. Bis zu 40 dieser Helfer sind zuweilen gleichzeitig im Haus. "Wir haben zusammen geweint, gelacht, getrauert", sagt der Zahntechniker. Gebetet? "Naja, unser Freundeskreis setzt sich aus Menschen vieler verschiedener Glaubensrichtungen und Hautfarben zusammen, da ist gemeinsames Beten schwierig. Aber in der Familie haben wir schon viel gebetet." Birgit Kyrath, die Mutter, nimmt seitdem ärztliche Hilfe in Anspruch. Michael Kyraths eigene Mutter lebt mit ihnen im Haus, hilft und leidet mit, aber zeigt es nicht: "Eine andere Generation, die nicht gelernt hat, Trauer und Schwäche zu zeigen", erklärt er. 

Für sich selbst wählt er einen ganz eigenen Weg, den in die Öffentlichkeit. In seiner Trauerpredigt hatte Pfarrer Heiko Kiehn aufgefordert "Geht raus und erzählt den Menschen von Ann-Marie!" Das tut ihr Vater nun, unablässig spricht er mit den Medien, nimmt auch Einladungen zu Fernsehtalkshows an - seine Art der Verarbeitung. Er will das Verdrängen verdrängen und will auch etwas bewegen. "Ich habe mehr Bilder im Kopf, als ich möchte", sagt er, "die möchte ich anderen Eltern gerne ersparen". Im "Spiegel" lässt er sich zitieren: "Es muss eine Aufarbeitung geben, meine Tochter ist nicht nur ein bedauerlicher Einzelfall." 

"Da läuft etwas grundsätzlich schief bei uns im Land"

"Da läuft etwas grundsätzlich schief bei uns im Land", stellt Michael Kyrath fest. Mehr als 150 Eltern haben sich inzwischen bei ihm gemeldet, die ein ähnliches Schicksal erleiden mussten wie die Kyraths. Verzweifelte Eltern, die ihre Kinder verloren durch ein ähnliches Täterprofil mit ähnlichen Tatmotiven, bei einem ähnlichen Tathergang, mit einem ähnlichen Tatwerkzeug. Eltern wie die von Ece Sarigül. Das türkischstämmige Mädchen war am 5. Dezember 2022 auf dem Schulweg in Oberkirchberg, einem Ortsteil der Gemeinde Illerkirchberg bei Ulm, von einem 27-jährigen Asylsuchenden aus Eritrea ebenfalls mit einem Messer angegriffen und ermordet worden. Ein weiteres 13-jähriges Mädchen überlebte schwer verletzt. Sarigül ist Türkisch und bedeutet "gelbe Rose". Gelbe Rosen waren die Lieblingsblumen von Ann-Marie. 

Michael Kyrath
Foto: privat | Vater Michael Kyrath und seine Frau fanden Mut und Kraft in ihrem Freundeskreis.

Die Eltern tauschen sich inzwischen regelmäßig untereinander aus, es gibt einen engen Kontakt unter allen Betroffenen, die sich gemeldet haben. Die Dunkelziffer liegt wohl um ein Vielfaches höher. Häufig würden ähnliche Taten durch staatliche Stellen nicht veröffentlicht, heißt es aus diesem Elternkreis. Die Ermittlungsbehörden wollen nicht, dass die Taten und die Herkunft der Täter in einen Zusammenhang gebracht werden, sagen diese Mütter und Väter. Sie alle wollen aber doch mindestens den Opfern, ihren toten Kindern, ein Gesicht, einen Namen, eine Geschichte geben. Sie alle bleiben unfreiwillige Darsteller in einem Horrorfilm und wünschen sich nichts sehnlicher, als dass ihre Kinder und die Taten, die zu deren Tod geführt haben, nicht in Vergessenheit geraten. Doch das öffentliche Interesse droht dereinst wieder zu verschwinden. Mitleid für die Opfer und deren Hinterbliebenen hält sich in Grenzen, häufig stehen die Täter und deren Erklärungsversuche für ihre Taten im Mittelpunkt. 

Diese Gefahr besteht im Falle von Ann-Marie Kyrath zunächst nicht, zum einen, weil ihr Vater in der Öffentlichkeitsarbeit aktiv bleibt, zum anderen, weil in diesem Monat vor dem Landgericht Itzehoe der Prozess gegen Ibrahim A. begonnen hat. Es geht um zweifachen Mord und vierfach versuchten Mord aus niedrigen Beweggründen und Heimtücke. Vor Gericht gibt der Angeklagte das Bild eines psychisch gestörten Menschen ab und äußert sich mit den Worten: "Ich möchte nur so viel sagen, dass ich unschuldig bin." Mindestens 38 Prozesstage sind geplant, mit einem Urteil ist vor Dezember nicht zu rechnen.

Die Kyraths gehören zu acht Nebenklägern, werden aber in Itzehoe durch einen Anwalt vertreten und nicht selbst bei dem Prozess anwesend sein. Das Medieninteresse ist groß und daher ist es Michael Kyrath wichtig zu betonen, dass es in diesem Zusammenhang keine Verallgemeinerungen geben dürfe. "Meine Frau und ich haben Ann-Marie immer vorgelebt und beigebracht, dass es keine Rolle spielt, woher jemand kommt, welche Hautfarbe er hat, welchen Glauben. Es gibt nur zwei Arten von Menschen, die guten und die bösen." Er erzählt von Ann-Maries bester Freundin Joud, die 2017 mit ihrer Familie aus Syrien nach Deutschland geflohen war. "Die beiden waren ein Herz und eine Seele." Er wünscht sich eine klare Differenzierung: "Straftäter bleiben Straftäter, egal welcher Herkunft."

Der Glaube sagt mir, dass Gott da war

Eine gutbürgerliche Bungalowsiedlung in Elmshorn. Gegenüber der Tennisclub. Pfarrer Kiehn sitzt auf dem Sofa im Wohnzimmer der Kyraths, ein ruhiger, bedächtiger Mensch. Michael Kyrath bezeichnet ihn als wesentliche Stütze nach dem Tod von Ann-Marie: "Er und seine Berufung waren es, durch den wir unseren Glauben nicht verloren haben." Heiko Kiehn ist verantwortlich für immerhin 18.000 Katholiken im schleswig-holsteinischen Kreis Pinneberg. Als er vor fünf Jahren anfing, waren es noch 20.000. In seiner Pfarrei gibt es einen Pfarrer und zwei Pastoren, das macht drei Priester für sechs Gemeinden. Katholische Diaspora in Norddeutschland. Und doch hält er das Gemeindeleben seiner Pfarrei "Heiliger Martin" lebendig. "Ohne Floskeln und fromme Bibelsprüche hat er uns den Mut zu glauben erhalten", bescheinigt ihm Vater Kyrath. "Bei jedem anderen wäre das Thema Kirche für mich erledigt gewesen." 

Der zuständige Erzbischof Stefan Heße aus Hamburg kommt bei ihm hingegen nicht so gut weg. "Er hat eine sehr einfühlsame Predigt bei einem Abendgottesdienst gehalten", versucht sich Michael Kyrath in Diplomatie zu retten. Doch man merkt ihm schnell an, dass der Bischof ihn nicht erreicht hat, obwohl auch er an einem Samstag Anfang Mai in Elmshorn im Wohnzimmer auf dem Sofa gesessen hat. Vielleicht liegt es daran, dass Bischof Heße seit 2016 Vorsitzender der Migrationskommission der Deutschen Bischofskonferenz ist. Das Täterprofil dürfte ein Rückschlag gewesen sein in seinem Bemühen, bei Menschen wie Familie Kyrath Verständnis für die Belange der Migranten in Deutschland zu wecken. Die öffentlichen Äußerungen des Päpstlichen Ehrenprälaten aus Köln, der von Hamburg-St. Georg aus unter Norddeutschen für Nächstenliebe auch gegenüber Flüchtlingen wirbt, passen nicht ganz zusammen mit dem Schmerz, den Familien und Angehörige von Messerattacken wie die Kyraths und die Sarigüls und viele andere erleiden. Mit der "Tagespost" mochte Erzbischof Heße über Ann-Marie Kyrath nicht sprechen: "Er möchte sich zu seinen seelsorglichen Bemühungen in diesem Kontext nicht medial äußern", lässt er durch seinen Pressesprecher Manfred Nielen ausrichten. Immer wieder beklagt er hingegen medienwirksam "rassistische und fremdenfeindliche Stimmen" in der katholischen Kirche, zuletzt beim im Juni in Dresden verliehenen "Katholischen Preis gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus".

Familie Kyrath führt ein katholisches Leben, wie man es in Schleswig-Holstein eher selten findet. Vater Michael bezeichnet sich zwar als "U-Boot-Christen", der eigentlich nur zu den Feiertagen in der Kirche auftaucht. Ann-Marie hingegen war wie ihre Mutter sehr gläubig und auch Messdienerin in Elmshorn, in der 1952 geweihten Kirche "Mariä Himmelfahrt". Als sie noch klein war, besuchte sie den katholischen Kindergarten in der Stadt. Groß ist die Anteilnahme in der Gemeinde bei den Trauerfeierlichkeiten. "Das ist doch unsere Samstagsministrantin, die immer so hübsch ist", heißt es mit großer Betroffenheit. "Nach einem solchen Ereignis kehrt die Gemeinde nicht so schnell wieder zum Alltag zurück", erklärt Pfarrer Kiehn. Das Gotteshaus im hier typischen Rotklinker soll im ansonsten protestantischen Norden eine "Wegkirche sein, die zum Licht führt". 

Die Kirche hat sich als sehr menschlich gezeigt

Der Friedhof, auf dem Ann-Marie in einem weißen Sarg am 9. Februar zu Grabe getragen wurde, befindet sich nur wenige Straßen vom Wohnort der Kyraths entfernt. Ihr Freund Danny P. wurde in Brokstedt beigesetzt. Eine gelbe Rose ziert das Grabmal von Ann-Marie, ihre Lieblingsblume und der Nachname der ermordeten Ece aus Illerkirchberg. Jeder Gang dorthin ist schwer für Michael Kyrath: "Ein Besuch an ihrem Grab führt dir immer wieder brutal vor Augen, dass Ann-Marie nicht irgendwann zur Tür ins Haus hineinkommt." Bei der ökumenischen Beisetzungsfeier mit 500 Teilnehmern gemeinsam mit der evangelischen Pastorin Britta Stender in der evangelischen Stadtkirche St. Nikolai habe Heiko Kiehn die richtigen Worte gefunden: "Ohne ihn wäre ich nach der Tat aus der Kirche ausgetreten." Der von SPD und CDU ins Amt getragene parteilose Elmshorner Bürgermeister Volker Hatje blieb fern und fand auch sonst keine persönlichen Worte für die Kyraths. Die Kirche hatte sich allerdings den Hinterbliebenen und Freunden als sehr menschlich gezeigt, dies hat die Familie besonders beeindruckt. 

Trauergottesdienst für Opfer des Messerangriffs in Regionalzug
Foto: Marcus Brandt (dpa-Pool) | Bundeskanzler Olaf Scholz, Peter Tschentscher, Erster Bürgermeister von Hamburg, und Daniel Günther, Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, bei der Trauerfeier für die Verstorbenen.

Wo war Gott zum Zeitpunkt der Tat? "Ich stelle mir die Frage auch immer wieder", ist Pfarrer Kiehns Antwort. "Der Glaube sagt mir, dass er da war. Ich lebe mit meiner Ohnmacht, dass ich es aushalten muss, dass er nicht immer so eingreift, wie ich es mir wünsche. Mancher Ruf nach ihm bleibt scheinbar unerhört. Ich glaube, dass Gott wirkt, aber er wirkt über meine Perspektive hinaus. Ich glaube, dass Ann-Marie und Danny bei Gott aufgehoben sind. Gottes Wirklichkeit ist eine andere als meine und dass sie deswegen nicht tot sind, sondern bei Gott ist alles lebendig. Das ist mein Glaube, aber ganz menschlich stehe ich eben auch vor solch einer Tat und frage mich wo, warum, wozu. Als Mensch ist sie für mich absolut sinnlos, aber Gott kann aus allem einen Sinn machen." Michael Kyrath ergänzt die Gottesfrage mit einer Perspektive der Hoffnung: "Vielleicht hat Gott die beiden, Ann-Marie und Danny, ja auch zusammengeführt, damit sie im Moment dieser schrecklichen Tat nicht allein sind." Ebenso ratlos und zum Teil schwer traumatisiert zurück bleiben die Mitschüler, Lehrer, Sportfreunde oder die anderen Messdiener.

Mehr als 7.000 Trauerkarten sind inzwischen in Elmshorn eingetroffen, darunter viele von Menschen, die die Kyraths gar nicht kennen. Auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier schickt ein persönlich verfasstes Schreiben. Verschiedene namhafte Politiker aus Berlin und Kiel finden den Weg in ihr Wohnzimmer, nicht nur der Erzbischof. Michael Kyrath nennt die Namen, bedeutende Bundespolitiker darunter, aber er verrät keine Inhalte aus den zuweilen stundenlangen Gesprächen. "Wenn sich nach dieser Tat etwas ändern soll, brauchst du den Willen zur Unterstützung seitens der Politik", erklärt er. Den schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Daniel Günther (CDU) sowie dessen Innenministerin und Parteifreundin Sabine Sütterlin-Waack hebt er dabei besonders hervor. Auch Günther ist praktizierender Katholik, für einen Norddeutschen nicht gerade eine Selbstverständlichkeit. Bei diesen beiden Landespolitikern ist Kyrath auf Verständnis gestoßen. Die vor wenigen Wochen beschlossene Einigung der EU-Innenminister auf eine Verschärfung des Asylrechts führt er unter anderem auf Sütterlin-Waacks intensive Bemühungen zurück, in die sie die Messermorde von Brokstedt habe einfließen lassen.

Bischof Heße sah in dieser Einigung hingegen Anlass zu Kritik und warnte in diesem Zusammenhang vor "Rückschritten beim Flüchtlingsschutz". Bei diesem Thema können zwei Katholiken nicht weiter in ihren Positionen voneinander entfernt sein, wie Stefan Heße, der katholische Flüchtlingsbischof, und Michael Kyrath, der Vater einer ermordeten 17-jährigen Tochter, es sind.

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