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Augustin Cochin: Wie die Volksherrschaft entstand

Man agierte im Verborgenen: Der französische Archivar Augustin Cochin deckte die verdeckte Maschinerie der Revolution auf.
Demonstrantin als Jakobinerin verkleidet
Foto: IMAGO / Hans Lucas | Die grausamen Ideen der Jakobiner geistern noch heute durch Paris. Augustin Cochin hat Ihren Entstehungen und Verbreitungen nachgespürt.

Ein ungemein erhellendes Buch zum Wurzelgrund der Französischen Revolution hat der Wiener Karolinger Verlag vorgelegt: Zum ersten Mal auf Deutsch – in der glänzenden Übersetzung von Peter Weiß – liegen die gesammelten Aufsätze von Augustin Cochin (1876–1916) vor, der, beeinflusst vom faktenbasierten Ansatz des Soziologen Emile Durkheim, ausgedehnte Archivstudien zur Frühgeschichte der Revolution betrieben hatte. Dabei fiel ihm etwas auf: Seit 1788 kam es in allen Regionen Frankreichs zu ähnlichen Vorgängen, die Cochin, gelernter Archivar, in den Akten dingfest machen konnte.

Verdächtige Synchronität

Plötzlich traten in allen Provinzen Vertreter des Volkes auf: „Man sieht Wortführer, niemals aber anerkannte Anführer. (Das Volk) versammelt sich, ohne einberufen zu sein, unterschreibt Beschwerden, ohne dass man wüsste, woher sie kamen, es ernennt Deputierte, ohne deren Einverständnis eingeholt zu haben, es erhebt sich, ohne jemandem zu folgen.“ Cochin bemerkte erstaunt: „Man sieht die gleichen Vorgänge gleichzeitig in Provinzen, die durch Sitten, Interessen, Regimes, ja Dialekte getrennt sind, ohne noch von Zollschranken oder schlechten Straßen zu sprechen“. Zum Teil bis aufs Wort gleichen sich die Eingaben, die auf diesem Weg Paris erreichen und Reformen anmahnen. Der Dritte Stand, also alle, die nicht zu Klerus und Adel gehörten, meldete sich so machtvoll zu Wort.

Doch woher kam die Synchronizität des Vorgehens? Cochin nahm Dijon als pars pro toto, er hat aber die Vorgänge auch für andere Regionen des Landes untersucht: „(1788) macht in der Stadt Dijon eine Gruppe von rund 20 Personen durch ihre große Sorge um die Interessen des Dritten Standes auf sich aufmerksam... Sie hat keinen Namen und lässt uns weder an ihren Versammlungen noch an ihren Plänen teilhaben, sie setzt sich niemals an die Spitze und riskiert nie eine öffentliche Demarche... Aber da sie sehr aktiv ist, da ohne sie tatsächlich nichts geschieht, da alle Ideen von ihr kommen und, man weiß nicht wie, letztlich umgesetzt werden, und da sie mit vielen anderen Gruppen der gleichen Art in den Städten der Provinz in Verbindung steht, können wir ihre Spur ohne große Mühe verfolgen.“

„Es ist letztlich nicht verwunderlich, dass uns Heutigen vieles im Vorgehen bekannt vorkommt:
Die unerträgliche Gleichsetzung des Guten und Wahren mit der Position der Revolution“

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Es sind Mitglieder des Bürgertums, die hier agieren, nicht die Arbeiter oder Ungelernten, für die sie aber zu sprechen vorgeben. Juristen vor allem, aber auch Ärzte, städtische Beamte, die vorformulierte Petitionen den Bürgermeistern und ständischen Vertretungs-Körperschaften zuleiten, und dann Druck aufbauen. Spannend wie ein Krimi liest sich, was Cochin über das konzertierte Vorgehen herausgefunden hat: Wie widerstrebende Notabeln mit organisierten Wut-Kundgebungen vor ihrem Haus gefügig gemacht werden, wenn sie nicht bereits dem Hinweis, dass in der Nachbargemeinde, ja in der ganzen Provinz dieselben Forderungen erhoben würden, zu folgen bereit waren. In dieser Frühphase der Erhebung sind es in ganz Frankreich die gleichen vier Forderungen, die politische Aufwertung des Dritten Standes betreffend, die auf diese Weise nach Paris gelangen.

Cochin trachtete danach, Motive und Hintergründe dieses wie eine Maschine ablaufenden Geschehens ausfindig zu machen. Sein Befund ist klar, hebt der wichtigste zeitgenössische französische Historiker der Revolution, François Furet, hervor: „Cochins Hauptthese ist folgende: Der Jakobinismus ist die vollendete Form von politischer und gesellschaftlicher Organisation, die sich in Frankreich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verbreitete und die er sociétes de pensée (Denkgesellschaften) nennt. Literarische Gesellschaften, Freimaurerlogen, Akademien, patriotische oder kulturelle Klubs sind deren Manifestationen.“ Ziel eines solchen Klubs sei es, „Meinungen zu äußern sowie ihren Mitgliedern und der Diskussion eine gemeinsame Meinung, einen Konsens zu entlocken.“ Das war die Grundlage für die identischen Beschwerdeschriften und für das immer gleiche, gegen Adel und Klerus gerichtete Vorgehen. Der Übergang zur eigentlichen Revolution und zu offener Gewalt war dann der Initiative einiger zu allem entschlossener Männer geschuldet, die in dieser ersten Phase, siehe Robespierre, Saint-Just und Danton, vor allem dem Advokaten-Stand entstammten, mitnichten aber Vertreter der kleinen Leute waren.

Unangenehme Erkenntnisse 

Überzeugend an Cochins Forschungen ist, dass er keineswegs Verschwörungstheorien anhängt, sondern in akribischer Forschungsarbeit das Material für seine Thesen fand. Er bemerkt, aber überschätzt nicht den Einfluss der Freimaurer. Sein früher Soldaten-Tod im Ersten Weltkrieg hat verhindert, dass er diese Arbeit fortführen und in einem großen Werk systematisieren konnte. So hat er nur wenige Aufsätze hinterlassen, die erst nach seinem Tod erscheinen konnten, freilich seinen Ruf unter den Kennern der Fakten begründet haben. Wenn Furet schreiben konnte, dass die frühe Geschichtsschreibung der Revolution zwischen geistiger Trägheit und respektvollem Kult eingezwängt gewesen sei, fand diese bequeme Haltung mit Cochins für viele unangenehmen Erkenntnissen ein Ende. Dem jungen Archivar gelang es, eine Phänomenologie der revolutionären Phänomene auszuarbeiten, wie der Historiker und Furet-Schüler Patrice Gueniffey im Vorwort zum Wiener Band formuliert. Welche Schlüsse daraus zu ziehen sind, bleibt dem Leser überlassen.

Hat ein großangelegter Plan hinter allem existiert? In den Köpfen einiger sicher, als Matrix für das Geschehen nicht. Cochins Verdienst ist es, zu irritieren. Er glaubte nicht „an diese spontanen Erhebungen und diesen einstimmigen Enthusiasmus“ (Gueniffey). Es ist letztlich nicht verwunderlich, dass uns Heutigen vieles im Vorgehen bekannt vorkommt: Die unerträgliche Gleichsetzung des Guten und Wahren mit der Position der Revolution. Es kann „das Verbrechen dort nicht existieren, wo sich die Liebe zur Republik findet“, jubelt ein zeitgenössischer Autor. Cochin urteilt nüchtern: „Die tatsächliche Tyrannei im Dienste der prinzipiellen Freiheit, das ist die ganze Revolution.“

Anders denkende Gegner wurden von „den Reinen“ umgebracht 

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Das „richterliche Mördertum“, wie Cochin es nennt, schuf dann die Fakten, als es darum ging, sich der Gegner zu entledigen. „Marat fordert 170 000 Köpfe, Collot zwischen zwölf und 15 Millionen, Guffroy findet, dass für Frankreich fünf Millionen Einwohner genügten“ – die Herrschaft der Reinen genügt sich selbst, alle anderen springen über die Klinge. Pol Pot, Student in Paris, nahm die Anregung auf. Man kann dem Autor vorwerfen, dass er vom Standpunkt eines katholischen Monarchisten aus urteilt. Doch kann man seine Quellenkenntnis nicht abstreiten, die ihm einen sicheren Blick auf die Fakten erlaubt. Seinem Schluss auf ein planvolles Vorgehen, das von der frustrierten bürgerlichen Elite ins Werk gesetzt wurde, steht die Erkenntnis nicht entgegen, dass das Frankreich der 1780er Jahre dringend Reformen benötigte, die nicht kamen.

Doch auch heute wird es in Frankreich viele geben, die Cochins These vom verborgenen Wirken einer Oligarchie für die Jetzt-Zeit zustimmen werden. Cochin stellt die alt-französische Regierungsform der Freiheit der Stände der englischen Auffassung von der Freiheit des Parlaments gegenüber, die er verwirft, weil sie letztlich nur Einzelinteressen diene. Er plädiert für einen organischen Aufbau des Staates, wie es ihn vor 1789 gegeben habe. Ist es wirklich nur altmodisch, wenn der Katholik Cochin einen Blick aufs Mittelalter wirft, um die neue, um jede geplante Gesellschaftsordnung abzulehnen: „Die Gesellschaft existierte (damals), ohne sich als solche denken zu müssen, denn sie setzte sich nach dem Beispiel der Kirche aus getrennten, aber in Gott vereinten Individuen zusammen.“


Augustin Cochin: Die Revolutionsmaschine – Ausgewählte Schriften.
Mit Beiträgen von Patrice Gueniffey und Francois Furet.
Karolinger Verlag, Wien/Leipzig 2020, 191 Seiten, ISBN 978-3-85418-198-9, EUR 24,–

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