Briefwechsel

„… als Ihr wie zwei Flügel eines Vogels wart“

Der Briefwechsel zwischen den Schriftstellern Marina Zwetajewa und Boris Pasternak liest sich selbst wie Dichtung.
Denkmal  Boris Pasternak
Foto: imago stock&people

Was ist das für ein Buch? Ein Roman? Ein Thriller? Ein Psychodrama? Tragisch? Romantisch? Realistisch? So ganz von dieser Welt und denn doch nicht ganz von ihr, weil die Dichtung die vierte Dimension bildet. Eine Divina Commedia, die zwischen Inferno und Fegefeuer alterniert, weil keiner der beiden in das Paradiso vorzudringen vermag? Zwetajewa und Pasternak scheitern aus unterschiedlichen Gründen, auch weil das Empyreum seit Goethe verschlossen ist. Mit den großen Ideologien des 19. Jahrhunderts hält schließlich auch der bürokratische Totalitarismus Einzug, die Genehmigungspflicht der Dichtung durch die Institutionen, die Medien, die Verlage.

Der von Marie-Luise Bott vorzüglich editierte und exzellent übersetzte Band enthält alle bis heute auffindbaren Briefe, die Marina Zwetajewa und Boris Pasternak zwischen 1922 und 1936 zwischen Berlin-Prag-Moskau-Paris wechselten. Aber man wird dem Buch nicht gerecht, wenn man in ihm nur eine weitere der vielen Briefeditionen von Dichtern und Philosophen sieht. Ohne, dass die Briefpartner es beabsichtigten, entstand ein Drama, dessen Dramaturgie, ein Roman, dessen Fabel aus Geschichte gewonnen wurde. Der andere, der vielleicht bessere „Doktor Schiwago“.

Ein Briefwechsel, der einem dramatischen Roman gleicht

 

In der Reminiszenz „Drei Schatten“ aus dem Jahr 1956/57 denkt Pasternak, der gerade den „Doktor Schiwago“ abgeschlossen hat, an seine dreißig Jahre zurückliegende Begegnung mit der fast gleichaltrigen Dichterin Marina Zwetajewa zurück. Gesehen hatten sie sich zuvor ein paar Mal flüchtig, ohne einander erkannt zu haben. So als sie der Frau des Komponisten Alexander Skrjabin am 10. März 1922 in Moskau das letzte Geleit geben. Zwei Monate später steigt Marina Zwetajewa in Berlin aus dem Zug, um ihren Mann, Sergej Efron, wiederzusehen, der in Wrangels Armee gekämpft hat. Bittere Jahre des Exils liegen vor ihr.

Im Juni 1922 erreicht die Dichterin Pasternaks erster Brief, der mit einem Paukenschlag beginnt: „Eben las ich meinem Bruder mit zitternder Stimme Ihr „Ich weiß, ich sterbe in der Dämmerung, in welcher von beiden?“ vor und wurde von einer in der Kehle aufsteigenden und endlich sich Bahn brechenden Welle von Schluchzern unterbrochen wie vom Eintritt eines Fremden.“ Zwetajewas Dichtungen treffen Pasternak wie ein Elementarereignis. Er wirbt um sie. Sie ist überrascht, angetan, verwundert und gesteht: „Ihre Gedichte kenne ich kaum... Ihr Buch habe ich noch nicht gesehen.“ Das ist für einen Dichter eigentlich die Höchststrafe. Doch sie lässt ihr Interesse anklingen: „Ich erwarte Ihr Buch und Sie“. Zunächst antwortet sie auf Pasternaks Briefe mit Schilderungen ihres Lebens und ihrer Poetologie, dann jedoch trifft sie die Lektüre von Pasternaks Gedichte wie zuvor Pasternak die ihren. Die Distanz ist fort, kein Abtasten und kein Spiel, um mit Hölderlin zu reden, es wird heilignüchtern.

Beide verstehen sich zunächst in ihrer jeweiligen Poesie 

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Am 10. Februar erwidert sie Pasternaks Paukenschlag: „Sie sind der erste Dichter, den ich in meinem Leben sehe. Sie sind der erste Dichter, an dessen morgigen Tag ich glaube wie an meinen eigenen...!“ Sie sind einander ebenbürtig, im Suchen, in der Unabdingbarkeit des Schreibens: „Ich bin glücklich, Ihr Zeitgenosse zu sein“, notiert sie. Und dann bittet sie ihn, ihr das Gedicht „So beginnen Zigeuner“, zu widmen. „Schenken Sie es mir. Dass ich wüsste, es ist meins. Dass niemand wagte zu denken, es sei seins.“ Mit diesem Brief kommen beide bei ihrem Thema an, bei der poetischen Nähe. Sie benötigen einander, sie brauchen einander, sie verlieben sich ineinander. Zwischen poetischer Gemeinsamkeit und erotischer Leidenschaft würde der Briefwechsel pendeln, wenn es sich denn unterscheiden ließe. Sie leben beide eine unterschiedlich durch die äußeren Lebensumstände akzentuierte Spannung zwischen dem Reich des Alltäglichen und dem Reich des Poetischen.

In Berlin hat Pasternak Zwetajewa verfehlt, in der Hochzeit ihres Briefwechsels treffen sie einander nicht, dann, als er beginnt, abzukühlen, kommt es zu dem missglückten Treffen 1935 in Paris. Zu groß sind die Erwartungen, zu gnadenlos die gesellschaftlichen Zwänge, zu ausweglos das alles, als dass ihr Treffen unter einem glücklichen Stern stünde.

Pasternak betrügt sie im Reich der Poesie;
weil er ein ihr zunächst gewidmetes Gedicht einer anderen Frau widmete.

Das Treffen endet mit einer großen Enttäuschung. Hinzu kommt Pasternaks Untreue, die Zwetajewa nicht verzeihen kann. Sie waren verheiratet in der Poesie, im Alltag lebten sie in anderen Ehen. Nun verschenkt er ihr Gedicht an eine andere, das Gedicht, von dem jetzt eine andere denkt, dass es ihres sei. Pasternak betrügt sie im Reich der Poesie; weil er ein ihr zunächst gewidmetes Gedicht einer anderen Frau widmete. Über den Betrug schreibt sie dem Schriftsteller Nikolai Tichonow: „Aber geweint habe ich, weil Boris, der beste Lyriker unserer Zeit, vor meinen Augen die Lyrik verriet...“ Was sie entsetzt, ist, dass er auf der Rückfahrt in die Sowjetunion nicht seine Mutter besucht, die er über ein Jahrzehnt nicht mehr gesehen hat:

„Schlag mich tot, nie werde ich verstehen, wie man an seiner Mutter vorbeifahren kann, mit dem Zug – vorbei an zwölfjährigem Warten.“ Sie selbst sieht sich in der Rolle der Mutter, so wie sie auch wirklich Mutter einer Tochter und eines Sohnes ist. „Jetzt habe keine Angst, nach dem, was Du mit Deinem Vater und Deiner Mutter gemacht hast, wirst Du mir schon niemals mehr etwas antun können. Das... war für mich der letzte, vernichtende Schlag von Dir – und keineswegs ein indirekter, sondern ein ganz direkter...“ 1939 folgt Marina Zwetajewa ihrem Mann und ihrer Tochter Ariadna nach Russland. Ihr Mann wird verhaftet und erschossen, ihre Tochter, ebenfalls verhaftet, lebt bis 1955 im Straflager und in der Verbannung.

Das Denken der Dichter wird gut sichtbar

Pasternak unterstützt Zwetajewa mit Geld. Nach dem Überfall Deutschlands auf Russland am 22. Juni 1941 bringt Pasternak Zwetajewa und ihren Sohn Georgi am 8. August zur Bahn. Sie bricht nach Jelabuga auf. Doch die Spannung zwischen Alltag und Poesie, die Zwetajewa so tapfer, so konsequent, so heroisch aufrechterhalten hat, zerbricht. Am 31. August 1941 erhängt sie sich in Jelabuga. Pasternak schreibt seiner Frau: „Gestern Nacht sagte mir Fedin, dass Marina sich das Leben genommen habe... Da es sehr schmeichelhaft geworden war, als ihr bester Freund zu gelten, zog ich mich zurück und drängte mich ihr nicht auf, und im letzten Jahr hatte ich sie irgendwie ganz vergessen. Und jetzt das! Wie schrecklich!“

Das ist so ungefähr die Fabel des großen Briefromans, aber sie ist viel verzweigter, als hier dargestellt werden kann – und es wär ohnehin am besten, das Buch selbst zu lesen. Der vorzügliche Kommentar, der in Form von Fußnoten nicht zum Umblättern zwingt, liefert für den Leser, der sich nicht oder nicht allzu gut in der russischen Literatur auskennt, das notwendige Wissen auf unaufwendige Art, so dass die Konzentration der Lektüre erhalten bleibt. Eva-Maria Bott hat sich für eine Übersetzung entschieden, die sich am Sinn orientiert, was auf Kosten der poetischen Formen geht, doch wird sich der Übersetzer immer zwischen verschiedenen Arten des Verlustes entscheiden müssen. Von Zwetajewas und Pasternaks Denken und Fühlen dringt so viel durch die Übersetzung, dass wir bereichert diese wichtige Publikation nach der Lektüre zuklappen – und die Stimmen beider Dichter in uns bleiben.

Am 9. November 1951 antwortet Ariadna Zwetajewa aus der Verbannung in Sibirien auf einen Brief von Boris Pasternak: „Danke für Deinen wunderbaren Brief... Ich bin in ihn eingetreten wie durch eine Tür, die sich in jene Jahre öffnete, die Jahre Eures Schaffens und Eurer unbegrenzten Weite, als Ihr wie zwei Flügel eines Vogels wart.“


Boris Pasternak – Marina Zwetajewa: Briefwechsel 1922-1936.
Wallstein Verlag Göttingen 2021, 804 Seiten, EUR 39,90

 

 

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