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Das Unrechtsregime der SED ließ die Stasi morden

Die frühere DDR-Bürgerrechtlerin Freya Klier hat eine Untersuchung über politische Morde der Stasi veröffentlicht.
Stasi-Uniform der SED-Diktatur
Foto: Lukas Schulze (dpa) | "Schild und Schwert" der ehemaligen SED - heute als "Die Linke" bekannt - nannte sich die Stasi, die für das Regime auch mordete: Uniform und Ausrüstung von Mitarbeitern in einer Ausstellung in der ehemaligen ...

Hat das Ministerium für Staatssicherheit Menschen umgebracht – und wenn ja, wie oft und auf welche Weise? Diese Frage ist bis heute zu großen Teilen unbeantwortet. Zwar betrieb die aufgelöste Stasi-Unterlagen-Behörde fast drei Jahrzehnte lang eine Forschungsabteilung mit zeitweise mehr als 50 Mitarbeitern. Doch keiner der dort beschäftigten Historiker nahm sich des Themas an. Dies ist umso überraschender, als verschleierte Mordanschläge östlicher Geheimdienste immer wieder die Öffentlichkeit beschäftigt haben – zum Beispiel in den Fällen Nawalny, Skripal oder Litwinenko.

Bisher gibt es keine wissenschaftliche Aufarbeitung

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Kein Wissenschaftler, sondern die ehemalige DDR-Bürgerrechtlerin Freya Klier hat jetzt die politischen Morde des Staatssicherheitsdienstes zum Gegenstand eines Buches gemacht. Auf über 300 Seiten erinnert sie an Menschen, die im Kontext der SED-Diktatur ums Leben gekommen sind. Ihr Buch, in dem über weite Passagen auch zahlreiche Zeitzeugen zu Wort kommen, ist eine Art tour d'horizon über den Widerstand gegen den Kommunismus und seine manchmal tödlichen Folgen.

Kliers Interesse an dem kaum erforschten Thema hat mit einem persönlichen Erlebnis zu tun: Bei einer Fahrt zu einem Auftritt in Stendal im November 1987 verlor sie plötzlich die Kontrolle über ihre Fahrzeug. Sie überlebte nur, weil ihr damaliger Mann Stephan Krawczyk geistesgegenwärtig ins Lenkrad griff. 32 Jahre später erhielt dieser einen Anruf seines ehemaligen Stasi-Vernehmers, der inzwischen schwer erkrankt war und vor seinem Tod noch um Entschuldigung bitten wollte. „Es stimmt, das Auto war manipuliert“, erklärte er am Telefon. Kliers Vermutung: Die Stasi setzte sie damals mit einem Kontaktgift am Griff der Fahrertür außer Gefecht.

„Sehr lange schon habe ich die Namen der
Dissidenten, Pfarrer, Schriftsteller der DDR zusammengetragen,
bei denen ich keinen natürlichen Tod vermutete“

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Die Autorin hat dies zum Anlass genommen, sich näher mit dem Thema zu befassen. „Sehr lange schon habe ich die Namen der Dissidenten, Pfarrer, Schriftsteller der DDR zusammengetragen, bei denen ich keinen natürlichen Tod vermutete,“ schreibt sie in ihrem Vorwort. „Es sind jetzt etwa siebzig Menschen.“ Die Zahl der in ihrem Buch erwähnten Namen ist wahrscheinlich sogar noch höher, doch leider hat der Herder Verlag dem Buch kein Register angefügt. Klier erzählt die dahinter stehenden Schicksale in vier Kapiteln, die jeweils einem Jahrzehnt der DDR gewidmet sind.

Beim Blick auf die 1950er Jahre steht der jugendliche Widerstand gegen die beginnende sozialistische Diktatur in Ostdeutschland im Mittelpunkt. Klier berichtet von dem Studenten Herbert Belter, der in Leipzig Flugblätter gegen das undemokratische Wahlsystem verteilen wollte; von dem jungen Liberalen Arno Esch, der nach dem Abzug der Roten Armee in der DDR eine neue Partei gründen wollte; von dem Schüler Hans-Joachim Näther, der mit einem selbst gebauten Sender die Radioübertragungder Feierlichkeiten zu Stalins Geburtstag stören wollte. Sie alle wurden in Moskau hingerichtet. Der erste Tote, den die Stasi selbst auf dem Gewissen hatte, ist in Kliers Buch der geflüchtete SED-Funktionär Robert Bialek. Er wurde 1956 nach Ost-Berlin entführt, wo er vermutlich im Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen ums Leben kam.

Kontaktgift und Scharfschützen - ein großes Arsenal tödlicher Mittel

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Im Kapitel über die 1960er Jahre geht es vor allem um Proteste gegen das DDR-Grenzregime. Ausführlich schildert Klier das Schicksal des Jugendlichen Michael Gartenschläger, der aus Empörung über den Mauerbau einen Heuschober in Brand steckte und dafür zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Als er nach zehn Jahren Haft freigekauft wurde, baute er an der DDR-Grenze zwei Selbstschussanlagen ab – bis er beim dritten Versuch von Scharfschützen der Stasi erschossen wurde. Weniger bekannt dürfte das Schicksal von Kliers jüngerem Bruder sein, der als 17-jähriger auf der Straße westliche Musik hörte und nach einem Streit mit der Polizei zu vier Jahren Haft verurteilt wurde. Später wurde er in eine Nervenheilanstalt eingewiesen, mit 30 Jahren beging er Selbstmord.

In den 1970er Jahren ist für Klier vor allem der Widerstand sozialistisch inspirierter Intellektueller prägend. Sie beschreibt, wie kritischen Künstlern wie Bettina Wegner oder Klaus Schlesinger in der DDR das Leben schwer gemacht wurde, bis sie sich zur Ausreise in den Westen bereit erklärten. Weniger Prominente landeten oftmals im Gefängnis – wie Reinhard Langenau, der nach seiner Freilassung in die Psychiatrie eingewiesen wurde und später Selbstmord beging. Klier schildert auch mehrere Fälle von Spitzensportlern, die sich illegal in den Westen abgesetzt hatten und dort von der Stasi weiter verfolgt wurden. Doch nur in einem Fall wurde ein Mordversuch gerichtsnotorisch, als ein Stasi-Informant wegen versuchten Mordes 1994 zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt wurde – er hatte dem Fluchthelfer Wolfgang Welsch vergiftete Buletten serviert.


Wer STASI-Verbrechen aufklären will, lebt noch heute gefährlich

Das interessanteste Kapitel behandelt die 1980er Jahre, in denen sich Klier am besten auskennt. Neben den Überlegungen, Bürgerrechtler wie Rainer Eppelmann durch fingierte Autounfälle umzubringen, führt sie noch zahlreiche ähnliche Fälle an. So berichtete ein ehemaliger Stasi-Informant dem SED-kritischen Pfarrer Gernot Friedrich nach der Auflösung der DDR-Geheimpolizei, dass diese ihn insgesamt fünfmal durch einen Unfall aus der Welt zu schaffen versucht hatte. Wenig bekannt sind auch die Fälle von Frieder Weiße und Bernd Brenzel, die von Bewusstseinsstörungen und Vergiftungserscheinungen im Zusammenhang mit ihrer Stasi-Haft berichteten.

Selbst nach der Wiedervereinigung wurden noch bei mehreren Stasi-Aufklärern – zum Beispiel bei Jürgen Fuchs und dem Autor dieser Zeilen – am Auto Radmuttern gelockert oder Bremsschläuche zerschnitten. Beklemmend liest sich aber vor allem die lange Liste von Bürgerrechtlern, die ungewöhnlich früh an Krebs starben. Klier vermutet, ihr Tod könnte eine Folge radioaktiver Vergiftungen sein, deren Wirkungsweise in einer von der Stasi in Auftrag gegebenen „TOXDAT-Studie“ detailliert beschrieben worden waren.

Politischer Mord als Handwerkszeug der Sozialisten des DDR-Regimes

Dabei ist Kliers Aufzählung noch nicht einmal vollständig. So dokumentieren Unterlagen, wie zwei Stasi-Agenten den SED-Gegner Siegfried Schulze 1975 in einem West-Berliner Hausflur umzubringen versuchten. Nur weil die Pistole, die sie Schulze in den Mund schoben, versagte, überlebte dieser schwerverletzt, verschwand jedoch später spurlos von der Bildfläche. 1980 erdrosselte dann ein Stasi-Informant in Westdeutschland den Menschenrechtsaktivisten Bernd Moldenhauer. Detaillierte Planungen fanden sich darüber hinaus für die Ermordung der Deserteure Werner Weinhold und Rudi Thurow.

Systematisch ausgewertet wurden bislang weder die entsprechenden Stasi-Dokumente noch die Ermittlungsakten aus der Zeit nach der Wiedervereinigung. Einzig der Mitgründer des Instituts für Deutschlandforschung in Bochum, Dieter Voigt, veröffentlichte 1996 einen Aufsatz unter dem Titel „Mord – Eine Arbeitsmethode des Ministeriums für Staatssicherheit“. Eine Ahnung von der Skrupellosigkeit der Stasi vermittelt zudem das Buch des verstorbenen Bürgerrechtlers Thomas Auerbach über die sogenannten Einsatzgruppen für Sabotageakte in der Bundesrepublik. Vor diesem Hintergrund kann man nur hoffen, dass sich vielleicht doch noch ein Historiker findet, der eines der dunkelsten Kapitel der DDR-Geschichte wissenschaftlich aufarbeitet.


Freya Klier: Unter mysteriösen Umständen. Die politischen Morde der Staatssicherheit.
Herder Verlag, Freiburg 2021, 303 Seiten, EUR 26,–

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