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Arnold Stadler: Eine Reise führt zum Inneren der Seele

Der Schriftsteller Arnold Stadler erreichte am siebten Tag einer Expedition seinen Sehnsuchtsblick auf den Kilimandscharo.
Kilimandscharo mit Elefanten
Foto: Ben Curtis (AP) | Eine Elefantenherde streift bei Sonnenaufgang durch den Amboseli-Nationalpark. Im Hintergrund ragt der Kilimandscharo, Afrikas höchster Berg, ein Lebensziel des Autors auf.

Das Paradies ruft“ liest der Ich-Erzähler des neuen Romans von Arnold Stadler am Tag seines Aufbruchs zum Kilimandscharo; sein Sehnsuchtsziel seit Kindheitstagen und er weiß doch, dass es sich um einen Anachronismus handelt. Denn er weiß nur zu gut: „Ich lebte ja längst jenseits von Eden. Und hatte doch noch eine Ahnung von da und eine Sehnsucht dahin.“

Für die Reisebeilage einer großen deutschen Zeitung soll er, der Schriftsteller und unverkennbar das alter ego von Arnold Stadler, einen Reisebericht über einen frei zu wählenden Sehnsuchtsort schreiben. Eine solche Reisereportage hat Arnold Stadler 2017 für die Wochenzeitung „Die Zeit“ geschrieben und diese nun zum Ausgangspunkt seines Romans gemacht. „Am siebten Tag flog ich zurück“ heißt der Roman, der die Schreibkunst des Büchnerpreisträgers in ihrer ganzen Bandbreite zum Zuge kommen lässt. Von Slapstick und schwarzem Humor zu Fortschritts- und Kolonialisierungskritik, von Kindheitserinnerungen und -träumen zu freien Assoziationen in alle möglichen Richtungen. Und dazwischen immer wieder absolut Tiefgründiges. „Glaubte ich, weil es schön war oder weil es wahr war?“ „Die Zukunft war damals meine Sehnsucht, so wie die Erinnerung nun meine Heimat ist… Und Heimat war der Ort, wo wir herkamen und wo es hinging. Also da, wo wir nicht waren. Dachte ich. Jedes einzelne Leben ist die Welt. Dachte ich. Doch nun war ich auf dem Weg zum Kilimandscharo.“ „Dorthin, wo der Mensch von heute das Paradies von einst ortete, war ich nun unterwegs. Ich, einer, der immer noch ,ich‘ sagte.“

„ Was die Natur und die wilden Tiere in Afrika angeht,
die der Ich-Erzähler ganz gegen seinen Willen, aber programmgemäß vorgeführt bekommt,
fühlt er sich ebenfalls überfordert“

Wie aber kam es dazu, dass für den Ich-Erzähler der Kilimandscharo zum Sehnsuchtsort wurde. Kaum zu glauben, aber autobiographisch, hing ein Gemälde dieses höchsten Bergmassivs auf dem afrikanischen Kontinent in der Stube der Familie Stadler. Ein echtes Ölbild des Malers Fritz Lang (1877–1961) mit dem Titel „Der Kibo mit Palme“. Und der das frühe Leben des Dichters Arnold Stadler aus dem badischen Dorf Rast begleitete und mit einer noch ganz unbestimmten Sehnsucht erfüllte, auch weil er fast zwanzig Jahre lang von dort, aus dem Dorf und aus der Gegend nicht wegkam, in der die Feldwege eines Tages unter einer Teerschicht verschwanden, die Makadam genannt wurde.

Auf dem Weg zu seinem Sehnsuchtsberg im Auto von einer Lodge zur nächsten dachte er beim Anblick der Kinder: „Dass diesen Kindern der Makadam wohl noch bevorstand und auch: dass ihre Welt verschwand. Ich hatte es hinter mir: Das war vielleicht der einzige Unterschied. Dass ihre Welt verschwand. Unter der Walze und dem Makadam. Oder auf Taubenfüßen. So etwas war eines der Hauptereignisse meiner Kindheit. Das war fast schon alles.“

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Und das ist das Raffinierte bei einem Schriftsteller wie Stadler, dass er das Äußere beschreibt und Inneres meint, dass er eine Reise in die Tiefen der eigenen Seele, vielleicht auch einer „Weltseele“, falls es so etwas geben sollte, beschreibt. „Und auf keine meiner Fragen hatte ich eine rechte Antwort. Als Entschuldigung hätte ich vorbringen können, dass in meinem linkshändigen Kopf immer noch das Wort ,Paradies‘ auftauchte oder aufblitzte. Wohl wissend, dass es sich dabei um einen Tagtraum handelt. Ich wusste nur, dass es ein schönes Wort war und dass jenes Bild aus der Mitte meiner ersten Welt ein schönes Bild war. Und dass ich immer noch unterwegs war.“

Aber die wichtigsten Koordinaten haben sich verschoben. In Zeiten der Klimakatastrophe stellen sich grundlegende Fragen anders als in der Kindheit des Autors. Irgendwo zwischen Urknall und Schwarzem Loch fühlt er sich ziemlich unglücklich mit seinen kindlichen Sehnsüchten und besonders mit dem Auftrag, Menschen dafür begeistern zu sollen, durch Reisen zu (meist fernen) Sehnsuchtszielen ihren ökologischen Fußabdruck zu vergrößern. Der Held des Romans ist verwirrt und unglücklich ob all der Diskrepanzen in der Welt. Beim ersten Sightseeing-Ziel, dem Museum in Arusha, welches die deutsche Kolonialgeschichte beleuchtet, wird dem Reisenden – dem nun fast schon wider Willen Reisenden – klar, dass er der Geschichte und also auch dem Leben überhaupt immer hinterherhinke.

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Und was die Natur und die wilden Tiere in Afrika angeht, die der Ich-Erzähler ganz gegen seinen Willen, aber programmgemäß vorgeführt bekommt, fühlt er sich ebenfalls überfordert. Denn er wollte den zukünftigen Lesern seiner Reisereportage nicht die Laune verderben, „wollte denen zuliebe etwas Schönes schreiben, so dass es sich ins Glücks- und Sehnsuchtsprogramm der Menschen fügte, die über meine Sätze auch zum Kilimandscharo gelockt werden sollten“. Stattdessen formen sich in ihm „Vogelscheuchensätze“, was auch immer das bedeuten mag. „Struggle for Life“ erlebt der reisende Schriftsteller. Er weiß, dass das auch für ihn gilt so wie für alle Menschen. „Wir waren Tag für Tag Überlebende, und ich war auch nichts anderes.“

Sechs Tage hat der Protagonist Zeit für seine Afrika-Reise, denn unmittelbar danach ist er als Ehrengast geladen zu einem Herren-Event in Bremen, der „Eiswette“, zu der offenbar das Tragen von Smoking, Fliege und Lackschuhen erforderlich ist. Diese befinden sich infolgedessen im Gepäck des Reisenden und begleiten ihn in die verschiedenen Luxusherbergen in Afrika, wo ihm just ein Tag vor seiner Abreise eine Affenhorde einen Teil der zum Lüften ausgehängten Garderobe stibitzt. Da kommt der Ironiker Stadler voll zum Zuge. Denn über die Teilnahme an dem gesellschaftlichen Event, zu dem der Erzähler zum ersten Mal in seinem Leben Smoking tragen würde, wird nur noch im Konjunktiv berichtet.

Der Mensch hat Beine, um die Welt erkunden zu können

Und das knüpft an das Don-Quichotte-Hafte der gesamten Erzählung und seines Autors. Er würde nämlich „ein Buch schreiben, über meine Reisen, auch über diese hier, über die Asymmetrie der Welt“ und über Heimat und Heimweh und darüber, dass der Mensch kein Baum sei und deshalb keine Wurzeln, sondern Beine hatte, mit denen er sich aufmachte in die Welt. Und weil es dem Erzähler vollkommen genügt, den Kilimandscharo mit seinen Augen zu sehen und nicht zu erklimmen, ist er überaus glücklich, als er am Ende seiner Reise tatsächlich genau die Stelle findet, nämlich auf der Aussichtsterrasse seiner letzten Lodge, von der aus der Maler Fritz Lang 1929 den Berggipfel Kibo gesehen und dann gemalt hatte. So war es sogar für das Hochglanzmagazin im Foto festgehalten worden: Der Schriftsteller von hinten mit weißem Kopf, den Blick zum Kilimandscharo gerichtet.

Jetzt am Ende seiner Reise wusste er glasklar, dass er am Ziel seiner Reise angelangt war auf dieser Aussichtsveranda, von der aus er „seinen“ Berg sehen konnte aus genau dem Blickwinkel des Malers seines Sehnsuchtsbildes. Und er musste dabei an Moses denken, als wäre er dieser Moses mit dem Blick in das Gelobte Land, das Paradies. Und er dachte dabei „Bild meines Lebens“, weil etwas so schön sein konnte. Und am siebten Tag flog er zurück. „Ich war unterwegs, unterwegs zu diesem Bild und zu mir zurück in mein Leben.“

Könnte es eine vergleichbar passende Parabel auf unser Leben geben?


Arnold Stadler:
Am siebten Tag flog ich zurück. Meine Reise zum Kilimandscharo.
Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021, 240 Seiten, EUR 23,–

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