Würzburg

Zu nah an der Grenze

„Aktion Ungeziefer“: Wie penibel in der DDR Zwangsumsiedlungen ausgeführt wurden.
Ehemalige innerdeutsche Grenze
Foto: dpa | Das Böse besiegt: Die deutsch-deutsche Grenze wirkt heute idyllisch.

Die Lastkraftwagen kamen im Morgengrauen mit gedrosseltem Motor. Von den Pritschen sprangen bewaffnete Volkspolizisten herunter, drangen in die Häuser der Orte vor und gaben knappe Anweisungen: „Fertig machen. Sachen packen. Zu Ihrer eigenen Sicherheit müssen Sie den Grenzkreis sofort verlassen.“ Die Menschen durften schnell noch ein paar Habseligkeiten zusammensuchen, dann wurden sie auf die Lkw verladen und in hastig errichtete Notquartiere in der gesamten DDR gebracht.

Zwangsumsiedlungen erhalten den zynischen Namen „Aktion Ungeziefer“

So wie die Gemeinde Stresow, 45 Kilometer nordwestlich von Magdeburg an der Elbe gelegen, wurden ab Mai 1952 hunderte Dörfer zwischen Rhön und Ostsee entvölkert. Sie hatten in den Augen der Staatssicherheit einen entscheidenden Makel – sie lagen zu nah an der Grenze zum Westen. Die Durchführung der Zwangsaussiedlungen ist generalstabsmäßig geplant. Mit den Listen der Auszuweisenden werden Dörfer und Städte durchkämmt.

Es ist der Beginn von Zwangsumsiedlungen, von staatlich sanktionierter Erniedrigung und Willkür, von Enteignung und Heimatverlust, von Zerstörung der Familie und der Lebensperspektiven. Einzelheiten über dieses auch heute noch weitgehend unbekannte dunkle Kapitel der DDR-Geschichte werden erst nach dem Mauerfall vom 9. November 1989 und der Grenzöffnung bekannt. Gleichzeitig offenbart sich die Menschenverachtung des Systems: Die Zwangsumsiedlungen erhalten den zynischen Namen „Aktion Ungeziefer“.

Grundlage und Auslöser für die Zwangsumsiedlungen war auf Geheiß der Sowjetunion die Verordnung des Ministerrates der DDR vom 26. Mai 1952 „über Maßnahmen an der Demarkationslinie zwischen der DDR und den westlichen Besatzungszonen Deutschlands“, die einen zügigen Ausbau der innerdeutschen Grenze vorsah. Es wurden Wachtürme errichtet, mannshohe Zäune gezogen und ein 500 Meter breiter Schutzstreifen angelegt, der nur bei Tageslicht und mit einem Sonderausweis betreten werden durfte. Der gesamte Grenzraum bis zu einer Tiefe von fünf Kilometern wurde zur „Sperrzone“ erklärt. Wilhelm Zaisser, erster Minister für Staatssicherheit bis zum Juli 1953, erlässt eine Polizeiverordnung, die für die gesamte Sperrzone Sonderregelungen festlegt.

Mit ihrem Inkrafttreten am 27. Mai unterliegen Anwohner und Besucher des Gebietes strengen Meldeauflagen und staatlich vorgegebenen Verhaltensregeln. Besucher und Berufspendler erhalten „Passierscheine“, sie müssen sich bei „Einreise“ anmelden und beim „Verlassen“ des Gebietes abmelden. Die Sperrzone wird zu einer Sonderzone innerhalb der DDR mit detaillierteren Regeln. Zur weiteren Sicherung des Gebietes weist das Ministerium des Innern die Volkspolizei an, alle in der Sperrzone lebenden Bürger zu überprüfen und in ihrer Grundhaltung zur DDR einzuschätzen. Personen, die als politisch unzuverlässig gelten, sollen ausgewiesen werden. Die Zwangsumsiedlung als abschreckende Maßnahme.

Ohne zu wissen wo sie wohnen und arbeiten werden

Alle Personen, die ausgewiesen werden, müssen nach Bekanntgabe innerhalb von 48 Stunden die Sperrzone verlassen, ohne zu wissen, wo sie künftig wohnen werden. Allein die politische Führung entscheidet, wohin sie umgesiedelt werden, welchen Arbeitsplatz sie bekommen und in welcher Weise ihnen eine Entschädigung gewährt wird. Nur wenn Verwandte Wohnraum und Arbeitsmöglichkeiten beschaffen können, werden in Ausnahmefällen Wünsche der Ausgewiesenen berücksichtigt. In einem Bericht des Ministeriums für Staatssicherheit vom 9. Juni 1952 heißt es unter anderem zur „Aktion Ungeziefer“: „In Thüringen waren insgesamt nach Meldungen unserer Kreisdienststellen 5 444 Personen zur Umsiedlung vorgesehen. Es handelt sich dabei um 1 772 Familien.

Bis zum 9. Juni 1952, 14.00 Uhr, wurden insgesamt 3 516 Personen aus dem Sperrgebiet ausgesiedelt. Es handelt sich dabei um 981 Familien. (Hierbei ist die Zahl der aus dem Kreis Eisenach ausgesiedelten Familien nicht einbegriffen.) Insgesamt 1 721 Personen entzogen sich ihrer Umsiedlung durch Flucht über die D.-Linie. Diese Zahl setzt sich aus 609 Familien zusammen, wobei die aus dem Kreis Schleiz geflüchteten 49 Personen nicht einbegriffen sind.“ Der thüringische Innenminister und kommissarische Ministerpräsident Willy Gebhardt war für die Umsetzung der „Aktion Ungeziefer“ in Thüringen verantwortlich. In einer handschriftlichen Notiz an den damaligen 2. Landesvorsitzenden und Landessekretär der SED in Thüringen, Otto Funke, über die Anzahl der dabei aus den Grenzgebieten in das Innere der DDR zwangsumzusiedelnden Menschen heißt es zynisch: „Otto, diese Zahlen hat mir eben Gen. König durchgegeben. Das wäre das Ergebnis der Kommissionsarbeit zur Beseitigung des Ungeziefers.“

Bürger leisteten Widerstand

Nicht immer jedoch läuft die Zwangsaussiedlung ohne Komplikationen ab. Proteste, Demonstrationen, Widerstände gegen die Ausweisung und Fluchten über die Grenze nach Westen verzögern und stören den Ablauf der Aktion zum Teil erheblich. In Motzlar, Kreis Bad Salzungen, versuchte ein aufgebrachter Mann, seine Scheune in Brand zu setzen und wurde festgenommen. In Brennersgrün, Kreis Lobenstein, wollte ein Betroffener Einzelheiten der Aktion mit Tonband und Fotoapparat festhalten. Die Einsatzgruppe der Staatssicherheit zog die Geräte ein. Andere Bürger leisteten aktiven Widerstand, randalierten oder beschimpften die Einsatzgruppen.

In Langengrün im Kreis Schleiz leisteten die Bauern passiven Widerstand: Sie lehnten es ab, das Vieh der unter Zwang ausgesiedelten Nachbarn zu füttern. In Streufdorf, heute ein Ortsteil der 1993 neugebildeten Einheitsgemeinde Straufhain im Landkreis Hildburghausen in Thüringen, widersetzte sich eine ganze Dorfgemeinschaft der Aussiedlungsaktion. Eine Lehrerin läutete im Morgengrauen die Glocken. Die Nachbarn sammelten sich und beschlossen, die wichtigste Straße zu verbarrikadieren, um die Abtransporte zu verhindern. „Auch in Westhausen errichtete die Bevölkerung Straßensperren, angestiftet durch reaktionäre Elemente aus Streufdorf“, notierte die Staatssicherheit. Und weiter: „Im Kreis Bad Salzungen war die Bevölkerung durch Gerüchte über angebliche Aussiedlung nach Polen und Sibirien beunruhigt, so dass bis zum 8.6.52 unter einem großen Teil der Bevölkerung eine ablehnende Stimmung zu verzeichnen war.“

Historikern zufolge sollen insgesamt zwischen 11 000 und 12 000 Menschen zwangsumgesiedelt worden sein. Die Aussiedlungen 1961, die unmittelbar mit der immer stärkeren Befestigung der innerdeutschen Grenze und dem Bau der Berliner Mauer verbunden waren, hatten statt „Ungeziefer“ harmlos klingendere Namen wie „Aktion Festigung“, „Aktion Kornblume“ oder „Aktion Blümchen“.

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Carl-Heinz Pierk

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